Immigration ist kein Spaziergang

In ihrem zweiten Roman „Das neue Leben“ erzählt Anna Galkina so poetisch wie humorvoll vom Ankommen in der Fremde

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Lettland werden sie als „Okkupanten“ betrachtet. Jahrzehntelang hat man sich von Moskau alles vorschreiben lassen: die Politik, die Amtssprache, die Rechtsprechung. Nun, nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion, schlagen die Letten zurück: „Deshalb wurden einfachheitshalber alle russischsprachigen Bürger zum Feindbild erklärt, selbst jene, die in Lettland das Licht der Welt erblickt hatten.“ Kein Wunder, dass die Familie der knapp 20-jährigen Nastja unter diesen Umständen so schnell wie möglich aus Riga wieder wegkommen will.

Eben noch sah man hier den idealen Ort für einen Neubeginn nach Jahrzehnten des Lebens in einer verschlafenen Kleinstadt im Moskauer Umland. Nun nutzt man die Tatsache seiner eigenen jüdischen Abstammung, um einen Ausreiseantrag bei der deutschen Botschaft zu stellen. Schon kurze Zeit später sitzt man mit anderen auswandernden Familien zusammen in einem kleinen Reisebus auf seinen wenigen Habseligkeiten, ohne die geringste Vorstellung davon, was einen am Ziel der langen Reise erwartet. Schlechter als bisher kann es wohl nicht werden – darüber herrscht Einigkeit bei denen, die ins Unbekannte aufbrechen.   

Anna Galkinas Heldin Anastassia, kurz: Nastja, kennt man schon aus dem Debütroman der Autorin Das kalte Licht der fernen Sterne (2016). Der spielt hauptsächlich in jenem kleinen Städtchen nahe Moskau und umfasst die Zeit zwischen den 1980er-Jahren und der Jahrtausendwende. In vielen kleinen, aneinandergereihten Episoden, erzählt aus der Perspektive der nach Jahren an die Orte von Kindheit und Jugend zurückgekehrten Heldin, erzählt er von Alkoholismus und Gewalt, Perspektiv- und Ausweglosigkeit in der russischen Provinz, an denen auch das Leben in der sich wandelnden Gesellschaft der 1990er-Jahre wenig ändert. Um einen Neuanfang zu wagen, führt ihr Weg die kleine Familie – Mutter und Tochter, Stiefvater und Großmutter – deshalb zunächst in die Heimat des Stiefvaters, das lettische Riga, und später dann in ein Deutschland, das sich aus der Ferne ausnimmt wie das lang ersehnte Paradies auf Erden. Hier nun setzt Galkinas zweiter, ähnlich konzipierter Roman Das neue Leben an.

Auch im reichen Deutschland werden zunächst nur kleine Brötchen gebacken. Das Schlangestehen bei Behörden kennt man schon, das beengte Wohnen – zunächst in einem Flüchtlingslager, später im nur wenig bequemeren Wohnheim des Städtchens N. – ebenfalls. Nastjas Stiefvater fühlt sich zwar „wie im Knast“, die Großmutter kommt sich vor „wie in einem Zugabteil“, aber man arrangiert sich schließlich mit den Verhältnissen und vertraut darauf, dass es nach Sprach- und Integrationskurs sowie dem Erteilen einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, auf die man nicht allzu lange warten muss, nur noch aufwärts gehen kann.

Das neue Leben wird von Galkina in vielen kleinen Episoden beschrieben, die jeweils einen kurzen und in der Regel amüsanten Blick auf einen der vielen Aspekte des Daseins von Immigranten in Deutschland werfen. Arbeits- und Wohnungssuche kommen zur Sprache, das Finden von neuen Freunden in der fremden Umgebung, Bürokratie und Sprachprobleme, die das Ankommen schwieriger als erhofft gestalten. Aber man erfährt auch von gegenseitiger Hilfe in der russichsprachigen Community und den vielen kleinen Tricks, mit denen man sich das Leben in der Fremde erleichtert.

Natürlich – das kennt man schon aus Das kalte Licht der fernen Sterne – geht es auch um Zwischenmenschliches. Schließlich ist Nastja in einem Alter, in dem ihr ganz automatisch die Aufmerksamkeit der vielen jungen wie alten Männer in ihrer neuen Umgebung zufällt. Und weil ihr Traum – in dem die beiden Pop-Heroen von „Modern Talkig“, an denen nicht nur ihre Ohren, sondern auch Herz hängt, weiterhin herumgeistern – wohl für immer ein Traum bleiben wird, ist sie der einen oder anderen Werbung gegenüber nicht ganz abgeneigt.

Galkina weiß das alles so anschaulich wie prägnant zu erzählen. Ihr neue Buch erreicht nicht ganz die Qualitäten des Vorgängers, der als eine Mischung aus Poesie und schonungslos erzählter, realistischer Alltagshärte daherkam. In Das neue Leben herrscht ein nüchterner Berichtston vor. Indem die Autorin im Präsens erzählt, sorgt sie dafür, dass ihre Leser immer auf gleicher Höhe mit ihrer Immigrantenfamilie sind. Der Stiefvater Robert und die Großmutter bleiben ein wenig blass, der Erzählerin und ihrer kulturell interessierten Mutter hat die Autorin hingegen deutlichere Konturen verliehen. Dass die vielen Einzelkapitel noch kürzer sind als jene in Das kalte Licht der fernen Sterne, macht auch Das neue Leben mehr zu einer Anekdotensammlung als zu einem Roman.

Titelbild

Anna Galkina: Das neue Leben. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2017.
224 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002428

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