Norddeutsches Panorama

Jochen Missfeldts „Solsbüll“ ist eine Bereicherung für die literarische Landkarte

Von Simone Sauer-KretschmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simone Sauer-Kretschmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im norddeutschen Ort Solsbüll steht ein Haus, das „Hebammenhaus“ genannt wird. Dort leben und praktizieren Anne und Gret Hasse, Mutter und Tochter, die sich ihrem Beruf gänzlich verschrieben haben und die bei nahezu jeder Niederkunft in der Umgebung Geburtshilfe leisten. Ausgehend von diesem Haus, dem Schicksal der beiden Frauen und ihrer Familie, entfaltet Jochen Missfeldt sein norddeutsches Panorama, das über drei Generationen und zwei große Kriege hinweg erzählt wird. Während die Männer an die Front müssen, sind es die Frauen, die die Häuser, die Familien, ja das ganze Land zusammenhalten. Meist so lange, bis einige der heimgekehrten Männer den nächsten ‚Krieg‘ anzetteln – sei es bloß in Form einer nachbarschaftlichen Fehde oder gar im weltumspannenden Zusammenhang. Die Männer der Familie Hasse tragen alle denselben Vornamen, doch erst dem dritten Gustav des Romans ist es vergönnt, ein anderes Leben zu führen als seine Vorfahren, die jung starben.

Es sind die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, in denen Gustav aufwächst, und auch wenn die 1950er-Jahre aus heutiger Sicht wohl kaum mit einem besonders hohen Maß an Freiheit verbunden werden, ist er doch der erste männliche Hasse, der wirklich selbst entscheiden kann, welchen Lebensweg er einschlagen möchte. Bezeichnenderweise lässt er sich schließlich dort nieder, wo alles begonnen hat: Zurück in Solsbüll, ganz in der Nähe des Hebammenhauses.

Jochen Missfeldts Roman erzählt bis ins kleinste Detail von den Lebensgewohnheiten der Menschen in Solsbüll und macht auf diese Weise deutlich, welche Spuren die Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts auch im Zusammenleben der Dorfgemeinschaft hinterlassen haben. Neben Familie Hasse ist besonders die Figur Doktor Meggersees interessant, der sich vom vielversprechenden jungen Arzt zur traurigen Gestalt wandelt; das besondere Talent des Autors ist es, über Menschen zu schreiben und nicht bloß über Typen. Seine Figuren entwickeln sich stetig, aber nicht plötzlich, sondern im Verlauf der Jahre und abhängig von dem, was ihnen zustößt. Auf diese Weise wird aus Solsbüll ein so lebensnaher Roman, als hätte man von den dort erzählten Geschichten durch Zufall aus dem Bekanntenkreis erfahren – nur die Sprache ist weitaus schöner. Missfeldt schreibt klare, auf das wesentliche konzentrierte Sätze, die die norddeutsche Landschaft spürbar werden lassen, wenn zwischen Kornfeldern, Wind und ein paar kurzen Schauern das nächste Kapitel beginnt:

Nördlich von Affegünt und südlich von Düttebüll ist es am schönsten. In den ersten Septembertagen flimmert die Luft in der Sommersonne. Die Blätter sind groß und schwer und still. […] Es ist ein Zögern zwischen Sommer und Herbst. Keiner stirbt, im Gegenteil: Kinder erblicken das Licht der Welt. Das Herzklopfen beginnt.

In diesem Jahr, in dem Theodor Storms 200. Geburtstag gefeiert wird, findet sicher auch die Storm Biografie Missfeldts Du graue Stadt am Meer (2013) großen Anklang, ebenso wie sein unlängst erschienenes Buch Sturm und Stille, in dem es um die Liebesgeschichte zwischen dem Dichter Storm und Doris Jensen geht. Und auf diese Weise wird nicht nur der Name Missfeldts einem breiteren Publikum bekannt werden, sondern hoffentlich auch Solsbüll, die Neuauflage eines zuerst 1989 im Verlag Langewiesche-Brandt erschienenen Romans. Im Nachwort erzählt der Freund und ehemalige Verleger Kristof Wachinger von den literarischen Anfangsschritten und den ersten Gedichten Missfeldts, die ihn sogleich begeisterten. Einem Roman des Autors stand der Lyrikexperte Wachinger zunächst nicht allzu erfreut gegenüber, doch nachdem er die erste Fassung des Buches gelesen hatte, war er überzeugt davon, dass es Solsbüll geben muss und dass Missfeldts Schreiben eine Bereicherung für die literarische Landkarte sein würde – und genau so ist es!

Titelbild

Jochen Missfeldt: Solsbüll. Roman.
Mit einem Nachwort von Kristof Wachinger.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2017.
480 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783498045395

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