Mysteriöse Briefe vom Spin-Dr. Proust
Fake und News? – Zu einer weltweit verbreiteten Nachricht über Selbstvermarktungspraktiken Marcel Prousts
Von Bernd-Jürgen Fischer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVorbemerkungen der Redaktion: Im Editorial zum Themenschwerpunkt der Oktober-Ausgabe anlässlich des Gastlandes Frankreich auf der Frankfurter Buchmesse haben wir eine Meldung der französischen Nachrichtenagentur AFP über Marcel Proust aufgegriffen, die Der Spiegel, Die Zeit, die Neue Zürcher Zeitung, The Guardian, Le Monde, The Jakarta Post und vielen andere Medien weltweit online verbreiteten – unter Überschriften wie „Briefe aufgetaucht. Marcel Proust zahlte für positive Kritiken“ (Tagesspiegel) oder „À la recherche de la bonne critique. Marcel Proust payait des journaux pour obtenir de bonnes critiques (Vanity Faire). Zumindest eine der positiven und von ihm bezahlten Rezensionen über den ersten, im November 1913 erschienenen Band seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ soll Proust demnach sogar selbst geschrieben haben. Anlass für die Meldung waren Briefe, die zusammen mit einer seltenen Ausgabe des Bandes angeblich neu entdeckt wurden und Ende Oktober im Auktionshaus Sotheby’s in Paris versteigert werden sollen.
Beim Besuch der Frankfurter Buchmesse weckte das Blättern in Bernd-Jürgen Fischers eben erschienenem Handbuch zu Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und die Lektüre der dortigen Informationen zur literaturkritischen Resonanz des Bandes neben Zweifeln an dem Innovations- und Wahrheitsgehalt der Meldung den Wunsch, Genaueres darüber zu wissen. Nach einer Anfrage bei dem Autor hat er uns folgenden Beitrag dazu geschickt. Wir danken ihm für die Klärungen.
Der 104. Jahrestag des Erscheinens des ersten Bandes von Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit steht vor der Tür – ein glänzender Anlass, einen Blick auf die näheren Begleitumstände zu werfen.
Prousts Verleger Bernard Grasset hatte die Sache bestens vorbereitet: Der bekannte Journalist Élie-Joseph Bois erklärte sich bereit, den bis dahin ziemlich unbekannten Autor Proust, der das letzte Mal 17 Jahre zuvor ein Buch publiziert hatte, die kaum beachteten Freuden und Tage (zugegeben, dazwischen lagen noch die Ruskin-Übersetzungen, aber Übersetzer galten schon damals nicht viel), ausführlich zu interviewen, wobei Proust natürlich nicht die Gelegenheit versäumte, sich als leidendes Genie in seinem Gehäuse der Nachwelt anempfehlen zu lassen: „Monsieur Marcel Proust liegt in seinem Schlafzimmer, wo die Läden stets geschlossen sind. Das elektrische Licht betont die Glanzlosigkeit des Gesichts, doch zwei fiebrige, aber lebensvoll erscheinende Augen blitzen unter den Locken hervor, die in seine Stirn fallen. Monsieur Marcel Proust ist ein Märtyrer seiner schlechten Gesundheit, erscheint aber nicht so, wenn man ihn bittet, sein Werk zu erläutern und der Schriftsteller in ihm erwacht und zu uns spricht.“ Die angesehene Tageszeitung Le Temps fand sich zudem bereit, das Ganze dann auch zu drucken, auf der ersten Seite sogar – wobei dem Journalisten eine kleine Ungeschicklichkeit unterlief, die noch Folgen haben sollte. Denn Bois kündigte das Buch in der Zeitung, die mit 13. November datiert war, ganz richtig für „morgen“ an, jedoch ohne zu bedenken, dass Le Temps stets schon am Nachmittag des Vortages, also in diesem Fall am 12. November, an den Kiosken verkauft wurde: Seitdem hält sich hartnäckig das Gerücht, Auf dem Weg zu Swann sei am 13. November erschienen, ein Gerücht, auf das sogar das respektable Auktionshaus Sotheby’s vor vier Jahren in seiner Beschreibung eines Widmungsexemplars für Lucien Daudet hereinfiel – peinlich, und doppelt peinlich, wenn man bedenkt, dass es sich um ein Los handelte, das schließlich für 600.000 Pfund (oder waren es Dollar?) zugeschlagen wurde.
Proust selbst war damals auch anderweitig hochaktiv darum bemüht, dem eigenen Werk eine optimale Resonanz zu verschaffen: In der ersten Novemberwoche 1913 schrieb er an den Sekretär des Gil Blas René Blum, aber auch im gleichen Geiste an den französischen Reich-Ranicki seiner Zeit Paul Souday, an den Herausgeber der renommierten Tageszeitung Le Figaro Gaston Calmette sowie an den Mitarbeiter des Figaro Robert de Flers, dass er, „wenn Sie eine Rezension veröffentlichen wollen“, nicht wünsche, „darin die Wörter ,empfindsam‘ oder ,feinsinnig‘ zu lesen, sondern vielmehr ,lebendig‘ und ,wahr‘“ (Brief an René Blum, in: Kolb, Bd. XII, S. 296; im übrigen nach Chantal, Bd. II, S. 605) – „dies ist ein Werk der Kraft“ (Brief an Gaston Calmette, in: Dreyfus, S. 295). Diese Handreichung scheint bei Paul Souday nicht besonders gut angekommen zu sein, der in Le Temps vom 10. Dezember 1913 zwar die Reizwörter vermeidet, aber eben das bemängelt, was Proust besonders am Herzen lag und heute als seine große Kunst gilt, den Stil: „Wir erwarten den zweiten Band voller Spannung und auch in der Hoffnung, darin etwas mehr Ordnung und Strenge sowie einen geschliffeneren Stil zu finden“. Was aber nicht viel ausmachte, denn Proust war nicht nur ein literarisches, sondern auch ein gesellschaftliches Genie: „Obwohl er erst ein einziges Buch publiziert hatte, Les Plaisirs et les jours – und das vor vierzehn Jahren –, und obwohl das Buch keinen Erfolg beim Publikum hatte, war Proust 1910 ohne Zweifel ein ausgemachter Salonlöwe. Er saß am Tisch der Gastgeberin und führte das große Wort, und alle Gäste fanden ihn interessant“, erinnert sich der britische Kritiker Arnold Bennett. Proust hatte daher jede Menge Freunde, deren Stimme etwas galt, wie Lucien Daudet, ein Sohn von Alphonse Daudet, der im Figaro schrieb, oder Henry Ghéon von der Nouvelle Revue Française: „Monsieur Marcel Proust hat gute Freunde in der Presse, Freunde, die ihm blind, bis zur Unbesonnenheit ergeben sind. Und so hat er sich coram populo zum genialen Schriftsteller ausrufen lassen“, moserte zum Beispiel, wohl auch ein wenig neidisch, Lucien Maury in der Revue politique et littéraire vom 27. Dezember 1913. Im Chor dieser vermeintlichen Lobhudler hob sich insbesondere die Stimme von Jacques-Émile Blanche hervor, dem Nachbarn in Auteuil und Intimus seit Jugendtagen, dem auch das allgegenwärtige Öl-Porträt Prousts zu verdanken ist. Am 15. April 1914 veröffentlichte die Tageszeitung L’Écho de Paris seine überschwengliche Besprechung des ersten Bandes der Suche nach der verlorenen Zeit. Der Maler, der bislang noch nicht in der Literaturkritikszene auffällig geworden war, trat hier unter anderem dem Dauerbrenner der Proust-Kritik an den angeblich zu langen Sätzen (vom „tausendklumpfüßlerischen Dahinkriechen endloser Satzgebilde“ spricht der bereits erwähnte Kritiker Arnold Bennett) entgegen: „Seine Unerschrockenheit kommt in der Verflechtung und den Arabesken endloser Schachtelsätze zum Ausdruck, klaren, bildhaften Sätzen jedoch, die, wenn sie nicht gerade dabei verweilen, zu viele Girlanden zu weben, fest und klar umrissen dastehen, feinsinnig und bedeutungsschwer.“
Erstaunlich ist, welches Echo Blanches Artikel wiederum in anderen Zeitungen fand. So konnte man etwa im Figaro vom 18. April 1914 in einem Kurzbeitrag eines anonymen Autors lesen:
Unser Kunstkritiker hat uns auf den blendenden Erfolg von Jacques Blanches Ausstellung aufmerksam gemacht. Weniger bekannt ist, dass dieser außergewöhnliche Porträtist auch ein bemerkenswerter Autor ist. Dafür hat er in einer Weise, die für uns besonders erfreulich ist, erneut den Beweis mit einer eingehenden Studie über einen unserer Mitarbeiter, Marcel Proust, und dessen Roman Auf dem Weg zu Swann geliefert. Monsieur Blanche hat mit seiner Feder ein kraftvolles, lebhaftes Porträt entworfen, das in jeder Hinsicht seiner gemalten Porträts würdig ist.
Im Gil Blas war am selben Tag ebenfalls ein Anonymus am Werk:
Nachdem er einige scharfsinnige und oft ironische Porträts zeitgenössischer Künstler publiziert hatte, hat Monsieur Jacques Blanche gerade ein glänzendes Debüt als Literaturkritiker absolviert. Gestern veröffentlichte der Schöpfer des herrlichen Porträts von Madame Germaine eine Studie über Madame de Noailles; und vor wenigen Tagen lieferte er uns einen bewundernswert geistvollen Artikel voller scharfer Beobachtungen über Marcel Prousts schönes Buch Auf dem Weg zu Swann. Das Beste, was wir tun können, ist, einige Passagen daraus zu zitieren, die die Souveränität des Kritikers demonstrieren:
„Auf dem Weg zu Swann (lesen Sie weiter und Sie werden sehen, wie gut dieser verwirrende Titel gewählt ist) trägt einen unwiderstehlichen Zauber in sich. Es ruft ein Paris herauf, das es nicht mehr gibt; ohne dass es sich um einen Schlüsselroman handeln würde, kann ich doch in jeder Romanperson zwei oder drei Vorbilder wiedererkennen; das Buch hat die Anmutung einer Biografie und eines Essays, es quillt über von Feingefühl und Verstand. Der Autor übt die Anziehungskraft jener jungen Bourgeois von gestern aus, Studenten, Künstlern, die ihren ersten Ausbruchsversuch aus ihrem eigenen Milieu unternehmen und mit bebenden Nasenflügeln zu einer Reise durch die vielschichtige Pariser Gesellschaft aufbrechen, um ihr spezielles Flair zu erfahren.“
Dies ist Kritik vom Feinsten, wie sie das große Talent und das bemerkenswerte Werk von Monsieur Marcel Proust verdient haben.
Und am 24. April 1914 legte L’Écho de Paris, jetzt unisono mit dem Journal des Débats, in einem – man ahnt es schon: anonymen – Beitrag nach (ich zitiere in Gänze aus Gründen, die weiter unten klar werden):
Monsieur Jacques-Émile Blanche, der hochbegabte Maler und Schöpfer von Porträts, die die Beachtung der bedeutendsten Kenner gefunden haben und schon von Anfang an den Beifall der besseren Gesellschaft fanden, hat sich einmal mehr als Literaturkritiker zu erkennen gegeben. Im Écho de Paris, wo er kürzlich einige höchst bemerkenswerte Seiten über Maurice Barrès’ La Colline inspirée vorlegte, hat er nun einen Artikel über Marcel Prousts neuestes Buch Auf dem Weg zu Swann veröffentlicht, in dem er alle seine Gaben als Kritiker zur Entfaltung bringt. Und dies überrascht nicht. Vielmehr ist es ganz natürlich, dass ein so scharfer Beobachter der menschlichen Physiognomie wie Monsieur Jacques-Émile Blanche Werke des menschlichen Geistes zu durchdringen und sicher zu beurteilen vermag. So trägt sein Talent als Porträtist auch Frucht auf einem Gebiet, das neu für ihn ist. Als erstes umreißt er das geistige Profil des Autors von Auf dem Weg zu Swann; er zeichnet ihn aus großer Nähe in seinem innersten Erleben durch seine Erinnerungen und Betrachtungen. „Es ist etwas von Grandville in Monsieur Proust“, schreibt Monsieur Jacques-Émile Blanche, „ganz wie der bekannte Künstler betrachtet er die Menschen von oben und von unten, bis an ihre Grenzen perspektivisch verkürzt oder gestreckt; er betrachtet sie aus ungewohnten Blickwinkeln. Man könnte fast sagen, dass er die ,vierte Dimension‘ der Kubisten erahnen lässt.“ Man erkennt mühelos, wie viel aus der Kunst und dem Talent des Malers in solche Urteile einfließt; wir erinnern daran, was unser Kollege Monsieur Bidou kürzlich über die Kritiken von Monsieur Blanche und über seine Whistler- und Fantin-Studien sagte. Aber es ist noch bemerkenswerter, dass dieses kritische Unterscheidungsvermögen nicht nur auf die Werke von Malern Anwendung findet, sondern auch auf die anspruchsvollsten Hervorbringungen in Musik und Literatur. Heute betrachtet Monsieur Blanche Auf dem Weg zu Swann. Wir erinnern uns daran, was er gestern über das Frühlingsopfer schrieb.
Der unten wiedergebene Briefwechsel zwischen Proust und Louis Brun, dem Leiter des Verlagshauses Grasset, gibt zu einer gelehrten Vermutung Anlass, wer der anomyme Autor dieser in Blanche-Laudationes verpackten Proust-Elogen ist: Proust selbst.
Proust am 15. April 1914 an Louis Brun (in: Kolb, Bd. XIII, S. 149f.):
Lieber Freund,
Sie haben vielleicht diesen Morgen (Mittwoch) im Écho den schönen Artikel von J.-E. Blanche gesehen. Ich habe beim Figaro und bei Gil Blas darum gebeten, einen Auszug wiederzugeben. Ich weiß nicht, ob sie es machen werden, aber ich habe ihnen gesagt, dass ich in diesem Fall damit einverstanden wäre, wenn es ein bezahltes Echo wird und sie autorisiert, Ihnen die Rechnung zu schicken. Ich werde abwarten, welche Richtung sie bei dem Ganzen einschlagen werden, aber ich warne Sie vorsichtshalber vor, damit Sie nicht die Bezahlung ablehnen (natürlich werde ich Ihnen das in Gänze erstatten).
Ich habe vor, die N.R.F. und den Mercure um das Gleiche zu bitten, aber hier ohne jegliche Bezahlung. Außerdem sollte man nicht andere Zeitungen bitten und die Librairie nicht auf L’Écho hinweisen. Ich hätte nur noch gern von den Débats ein bezahltes Echo. Ist das möglich?
Proust am 16. oder 17. April 1914 an Louis Brun (in: Kolb, Bd. XIII, S. 154):
Lieber Monsieur Brun,
Robert de Flers ist heute morgen in Urlaub gefahren. Ich bitte Sie daher, die ganze Angelegenheit streng geschäftsmäßig abzuwickeln. Sie können ruhig M. G[laser] treffen. Ich glaube (reine Vermutung), dass er etwas gegen mich hat. Er hat niemals ein Wort über Swann gesagt. Vielleicht hat er es nicht erhalten. Jedenfalls sollte das ein Echo auf der ersten Seite werden. Bei den Débats wäre die Rubrik „Au jour le jour“ [„Von Tag zu Tag“] am besten. Ich habe zwei Seiten geschrieben, weil ich auf der ersten nicht aufhören konnte. Zudem hoffe ich auf Ihre Bereitschaft, sie zu kopieren. Ich möchte nicht, dass man weiß, dass ich sie geschrieben habe. Der Herausgeber wird das redigieren, und wenn man bei der Zeitung das Manuskript heranzieht, ist es besser, wenn das nicht meine Schrift ist. All das ist etwas umwegsam, aber wir machen so selten Reklame, nur dieses eine Mal! Vor allem sollte das Ganze nicht mehr als das Doppelte von dem kosten, was das Echo im Miroir gekostet hat (und ich hoffe, deutlich weniger).
Louis Brun am 18. April 1914 an Proust (in: Kolb, Bd. XIII, S. 155):
Lieber Monsieur Proust,
ich schicke Ihnen anbei den Artikel für die Débats wie auch Ihren Text; sie können ihn mir Montag Vormittag zukommen lassen.
Ich habe mir Ihren Hinweis wegen des Écho de Paris zu Herzen genommen und keinen Bezug auf den Artikel von Jacques Blanche genommen.
Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit Glaser. Ich habe ihm gesagt, dass die vorgenommen Kürzungen nicht glücklich sind.
Ich habe das Vergnügen Ihnen mitzuteilen, dass ich gerade dem Drucker telegrafisch den Auftrag für eine weitere Auflage von 500 Stück erteilt habe.
Proust am 19. April 1914 an Louis Brun (in: Kolb, Bd. XIII, S. 156f.):
Lieber Monsieur Brun,
der Text, den Sie mir geschickt haben, ist unmöglich. Man scheint darin sagen zu wollen, Blanche halte das erste Mal eine Feder in der Hand (wo er doch ich weiß nicht wieviele Studien in der Revue de Paris, im Gaulois usw. usw. veröffentlicht hat). Außerdem sind darin Komplimente über mich enthalten, die mir umso mehr missfallen, als der Gil Blas gestern, am Samstag, einen Kurzbeitrag über den Artikel von Blanche gebracht hat, einen Kurzbeitrag, in dem ich sehr gelobt werde. Vielleicht wollen auch noch zwei Magazine darüber berichten. Das Ganze ist ein wenig übertrieben für einen einzelnen Artikel. Der „Au jour le jour“ der Débats ist deshalb praktisch nutzlos. Dennoch wäre ich sehr glücklich, wenn er erschiene, aber mit dem originalen Text. Ich lehne Änderungen nicht ab, wenn man sie wünscht. Aber man sollte den Text zur Grundlage nehmen und nur darin Veränderungen vornehmen. Dann sollte man uns den endgültigen Text vorlegen und zusagen, dass man keine Änderungen mehr vornehmen wird. Die Zitate aus dem Artikel sind im ersten Text auch denen vorzuziehen, die Sie geschickt haben.
Proust am 20. April 1914 an Louis Brun (in: Kolb, Bd. XIII, S. 161):
Lieber Monsieur Brun,
hier der Artikel für die Débats für den Fall, dass er in »Au jour le jour« erscheint. Sie sehen, dass ich ihren Entwurf kaum verändert und nur zum Schluß ein paar Worte über das Sacre du Printemps eingefügt habe. Aber seien Sie so freundlich, ihn mit der Maschine abschreiben zu lassen, bevor Sie ihn losschicken, damit keine Spur von meiner Schrift übrig bleibt.
Wenn sie ihn nicht in »Au jour le jour« reinnehmen wollen (was ich aber nicht glaube), werden wir zu unserem ersten Text für die zweite Seite zurückkehren. Aber die zweite Seite wird weniger gelesen und wirkt stärker wie Reklame.
Louis Brun am 22. April 1914 an das Journal des Débats (in: Kolb, Bd. XIII, S. 162:
Monsieur,
ich schicke Ihnen anbei den Text für den Kurzbeitrag in „Au jour le jour“, den ich gern in der morgigen Ausgabe erscheinen sehen würde. Ich bestehe darauf, dass dieser Text in keiner Weise verändert wird, tatsächlich ist es der nur sehr geringfügig veränderte Text, den Sie uns vorgeschlagen haben. Ich bitte Sie, ihn so wie er ist zu akzeptieren.
Dem aufmerksamen Leser von Zeitungsnachrichten in den letzten September- und ersten Oktobertagen dieses Jahres werden nun womöglich die Ohren klingen: Hat er dies nicht gerade erst im Spiegel, in der NZZ, in der Zeit oder – last, not least – in Literaturkritik.de gelesen, wo von „neuentdeckten Briefen Prousts“ die Rede war, die bei Sotheby’s zur Versteigerung kommen sollen, angebunden an ein Widmungsexemplar für Louis Brun? Inwiefern handelt es sich eigentlich um Neuentdeckungen, wenn Prousts Image-Pflege mithilfe bezahlter Artikel schon seit 1930 bekannt ist, als Léon Pierre-Quint in Comment paru „Du côté de chez Swann“ die meisten von Bruns Briefen publizierte, und wenn Philip Kolb 1985 diese Sammlung noch mit Funden aus den Grasset-Archiven ergänzte?
Die nun zur Versteigerung angebotenen Briefe sind offenkundig etwas zu hoch gejubelt worden – Sotheby’s hat da wohl vom großen Meister gelernt –, scheinen mir aber dennoch von großem Interesse zu sein, da sie vor allem Prousts ursprüngliche Texte für die Zeitungen enthalten, deren Redaktionen allem Anschein nach den allzu euphorischen Ton für die Publikation ein wenig dämpften. Allerdings weiß ich zu meinem Kummer nicht, ob Sotheby’s auf seiner Homepage tatsächlich alle Briefe abgebildet hat, und ich werde es auch so bald nicht überprüfen können, denn 600.000 Euro (oder waren es Pfund?) sind, trotz der großzügigen Honorare meines Verlages nicht unmittelbar für mich greifbar, und man weiß ja obendrein nicht einmal, ob das reichen würde.
In dem Sotheby’s-Lot finden sich neben Briefen, die Kolb bereits in seiner Brief-Edition abgedruckt hatte (Bd. XIII, Nr. 72, Nr. 104 und Nr. 133), sowie einem Kolb noch unbekannten – mir aber merkwürdig vertrauten – Brief ein dem Figaro zugedachter Text, den dieser unverändert übernommen hat (siehe oben), ein weiterer, als Fortsetzung gedachter Text für den Figaro sowie der Text für die Débats, dem der umfangreichen Änderungen wegen besondere Aufmerksamkeit gebührt. Hier schreibt Proust über den Artikel von Jacques Blanche:
Monsieur Jacques Blanche ist nicht nur der große Maler, als den wir ihn kennen. Er ist auch ein Kritiker von einem Auffassungsvermögen, wie man ihm selten begegnet. Der Aufsatz, den er im Écho de Paris Monsieur Proust und seinem Werk Auf dem Weg zu Swann gewidmet hat, ist in dieser Hinsicht ein kleines Meisterwerk. Monsieur Proust ist, so sagt Monsieur Blanche äußerst feinsinnig, mit den Vergnügen einer Art von Kino begabt, in dem er selbst verschiedene Personen darstellt und nach seinem Gutdünken den Mantel des einen über die Schultern eines anderen wirft. Was Monsieur Proust sieht und fühlt ist von höchster Originalität. Im Zusammenhang mit ihm fallen so illustre ausländische Namen wie Meredith und Dickens. Doch das, was aus Frankreich kommt, könnte nirgendwo anders sein. Das Buch suggeriert fast die vierte Dimension der Kubisten. Geschrieben in der zwiefältigen Hellsichtigkeit nächtlicher Schlaflosigkeit, ist es fast zu hell für das Auge, das selbst am helllichten Tage nur die Hälfte sieht … – Wie ein frischer Windstoß, der die einschläfernden Ausdünstungen der aktuellen Erzeugnisse vertreibt, spricht der geistvolle Kritiker. Und man fragt sich, ob dies heute ein anderer ist, der malt wie er und so das Mysterium künstlerischen Schaffens [ein Wort unleserlich]. Denn Monsieur Blanche brilliert nicht nur, wenn es um Malerei geht, um Whistler oder Manet. Sein Urteilsvermögen ist um nichts geringer, wenn er über Literatur oder Musik spricht. Man hat gesehen, wie sehr er Auf dem Weg zu Swann verstanden hat, und man wird sich erinnern, was er erst kürzlich über das Frühlingsopfer geschrieben hat.
Ein weiterer Entwurf für den Figaro ist von diesem allem Anschein nach abgelehnt worden; er scheint bisher noch nicht veröffentlicht worden zu sein:
Ein Gaston Calmette gewidmetes Werk.
Man wird sich erinnern, dass an dieser Stelle wiederholt von dem Werk unseres eminenten Mitarbeiters Marcel Proust die Rede war, mit dem Titel Auf dem Weg zu Swann. Der Autor hat es für richtig befunden, es „Gaston Calmette als Beweis seiner aufrichtigen und tiefen Dankbarkeit“ zu widmen. Darüber hinaus sind wir ganz besonders erfreut, im Écho de Paris einen längeren, dem Buch Auf dem Weg zu Swann gewidmeten Artikel von Jacques Blanche zu finden. Der illustre Künstler betrachtet Marcel Prousts Arbeit als ein Meisterwerk und verleiht so der Huldigung des Herausgebers, den wir von ganzem Herzen betrauern und bewundern, zusätzliches Gewicht.
Verglichen mit Sotheby’s Preisen war Prousts Spin-Therapie übrigens gar nicht mal so teuer. Am 27. April 1914 schrieb Louis Brun an Proust (in: Kolb, Bd. XIII, S. 165):
Cher Monsieur,
beigefügte übersende ich Ihnen die Rechnung des Journal des Débats. Ich denke, dass sie Zahlung zum Ende des laufenden Monats erwarten, da kein Datum angegeben ist. Sie könnten mir also die Summe von 660 frs zukommen lassen, wenn es Ihnen genehm ist.
Louis Brun am 5. Mai 1914 an den Figaro (in: Kolb, Bd. XIII, S. 181):
Monsieur,
wir haben Ihre Rechnung vom 30. April für ein Echo über dreihundert Francs erhalten, zahlbar bis 10. Juni.
Wir teilen Ihnen mit, dass unser Rechnungsausgleich zum Ende des Monats erfolgt; bitte erwarten Sie deshalb die Summe von dreihundert Francs gegen Ende Mai.
Louis Brun am 5. Mai 1914 an Proust (in: Kolb, Bd. XIII, S. 182):
Cher Monsieur,
ich erhalte gerade die Rechnung vom Figaro. Ich sende sie anbei. Fälligkeitsdatum ist der 10. Juni.
Louis Brun am 16. Mai 1914 an Proust (in: Kolb, Bd. XIII, S. 203f.):
Cher Monsieur,
ich erhalte heute eine Rechnung vom Gil Blas für ein Echo, das am 18. April erschien. Ich kann mich an keinerlei Vereinbarung hinsichtlich dieses Echos erinnern.
Ich will das trotzdem gern bezahlen, würde aber gern zuvor wissen, ob denn nicht zwischen Ihnen und dem Gil Blas vereinbart worden war, dass das Echo kostenlos sein würde.
Um die in Rede stehenden Beträge richtig einordnen zu können: Die Erstausgabe von Auf dem Weg zu Swann kostete 1913 bei Grasset drei Francs fünfzig.
Literaturhinweise:
Chantal, René de: Marcel Proust. Critique littéraire. Montreal: Les Presses de l’université de Montréal 1967.
Dreyfus, Robert: Souvenirs sur Marcel Proust, avec des lettres inédites de Marcel Proust. Paris: Grasset 1926.
Kolb, Philip (Hg.): La Correspondance de Marcel Proust. Paris: Plon 1970–1993. 21 Bände. Die hier zitierten Bände XII (Briefe 1913) und XIII (Briefe 1914) erschienen 1984 bzw. 1985.
Pierre-Quint, Léon: Comment paru Du côté de chez Swann. Lettres de Marcel Proust. Introduction et commentaires par Léon Pierre-Quint. Paris: Kra 1930.
Die beiden übersetzt zitierten Textentwürfe Prousts wurden auf der Website des Auktionshauses Sotheby’s zugänglich gemacht:
http://www.sothebys.com/en/auctions/ecatalogue/2016/livres-et-manuscrits-pf1713/lot.151.html
Die zitierten Briefe, Texte bzw. Textstellen wurden vom Autor übersetzt.
Anmerkung der Redaktion: Bernd-Jürgen Fischer legte in den Jahren 2013–16 eine kommentierte Neuübersetzung von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ in sieben Bänden bei Reclam vor. Im Herbst 2017 erschien zum Abschluss dieser Edition sein „Handbuch zu Marcel Prousts ‚Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‘“ – im Rahmen der Ausgabe als Band 8 sowie als separat erhältlicher Band. Kommentierte Übersetzungen der Gedichte Prousts (zweisprachig) und des Briefwechsels mit Reynaldo Hahn werden im Frühjahr bzw. Herbst 2018 bei Reclam in illustrierten Liebhaber-Ausgaben erscheinen.
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