Das unbekannte Lied

Nach fast 60 Jahren erscheint Louis Slobodkins „Schlaf, Eule, Schlaf“ erstmals auf Deutsch

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die kleine Eule Olga kann nicht schlafen. Sie sitzt hellwach auf ihrem Baum. In ihrer Verzweiflung greift sie sogar zu einer für Eulen ungewöhnlichen Maßnahme und kneift beide Augen gleichzeitig zu. Als auch das nicht hilft, fliegt Olga zum „weisen alten“ Uhu und fragt diesen um Rat. Der prächtige Nachtvogel, dessen Weisheit durch die permanente Betonung derselbigen eher ins Lächerliche gezogen wird, scheint jedoch schnell mit seinem Latein am Ende zu sein. Ihm fehlen das nötige Einfühlungsvermögen und die Geduld, um Olga bei ihrem Problem zu helfen. Mit ihrer Verzweiflung alleingelassen, lässt sich die kleine Eule wieder auf ihrem Baum nieder. Nacheinander erscheinen andere Tiere, die von sich aus ihre Hilfe anbieten, indem sie Olga die für sie angenehmen Schlafpositionen zeigen. Sie verschwenden keinen Gedanken daran, dass es sich bei der Eule um eine ganz andere Art handelt. Die hilfsbereiten Tiere sind ebenso unvoreingenommen wie die jungen Leser und Zuhörer dieser Geschichte selbst. So wirkt es sehr charmant, wenn Olga versucht, wie ein Opossum kopfüber vom Ast zu hängen. Doch auch mithilfe dieser Ratschläge gelingt es der kleinen Eule nicht, einzuschlafen. Bis die Drossel erscheint und mit ihrem Lied ein Ritual schafft, das Olga fortan beim Einschlafen helfen soll.

Louis Slobodkin war ein Spätzünder: Obwohl er mit der Kinderbuchautorin Florence Gersh verheiratet war, entdeckte der einstige Bildhauer seine Leidenschaft, für die jüngeren Leser zu schreiben, erst sehr viel später. Er entpuppte sich dabei jedoch als ein unermüdlicher Literat: Bis zu seinem Tod im Jahre 1975 stellte er 90 Kinderbücher fertig, von denen er 50 selbst illustrierte. Schlaf, Eule, Schlaf, das 1958 das erste Mal erschien, ist eines davon. Die Wiederentdeckung Slobodkins ist gleichzeitig eine Hommage an diesen Künstler, denn seine charakteristischen feinen Zeichnungen und ausdrucksstarken Bilder erfuhren keine größeren Veränderungen. Das Buch wurde, entgegen des aktuellen Trends, mit großen Bildern, Klappen und wenig Text zu arbeiten, herausgebracht. Auch Kinderbücher älteren Jahrgangs werden nach diesem Muster neu aufgelegt. Der bewusste Verzicht auf eine solche Effekthascherei macht es zu einem stillen, ruhigeren Buch, das allerdings durch Slobodkins puristische und stimmungsvolle Illustrationen an Stärke gewinnt.

Kernstück des Buches ist das Lied der Drossel, das Olga schließlich hilft, tatsächlich einzuschlafen. Das Lied wird zum Einschlafritual für die kleine Eule und hat das Potenzial, auch zu einem solchen für die jungen Leser und Zuhörer dieser Geschichte zu werden – doch: Wie geht das Lied? Na gut, Noten sind vorhanden, trotzdem stellt es diejenigen Eltern, die nur über ein geringes musikalisches Wissen verfügen, vor eine kleine Herausforderung. Das unbekannte Schlaflied ließe sich leicht durch ein bekannteres ersetzen. Das wäre jedoch schade, denn die Übersetzung ist sehr gelungen und stimmig. An dieser Stelle wäre mehr Raffinesse angebracht gewesen – vielleicht sogar in Form eines QR-Codes und einer Datei mit der Melodie des Liedes, um Slobodkins Werk dann doch noch zu aktualisieren. Doch davon abgesehen besticht Schlaf, Eule, Schlaf nicht nur durch die gelungenen Illustrationen, sondern auch durch die humorvolle, bezaubernde und zeitlose Geschichte, die sich wunderbar zum Vorlesen für Kinder ab vier Jahren eignet.

Titelbild

Louis Slobodkin: Schlaf, Eule, schlaf.
Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll.
Diogenes Verlag, Zürich 2017.
32 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783257012149

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