„Wie schön, wenn man hübsche Feuilletons schreiben und ein menschliches Leben leben könnte“

Heinrich Bölls Kriegstagebücher aus den Jahren 1943 bis 1945 „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“

Von Karl-Josef MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl-Josef Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anstatt hübsche Feuilletons zu schreiben, gräbt Heinrich Böll am 30. November 1943 „das Blut von Lt. Spieß aus unserem Graben“. Zwei Tage vorher hatte Leutnant Spieß Böll „für eine Stunde“ von der Wache abgelöst. Dann die kurze Notiz: „Lt. Spieß fällt neben mir um 1240.“ Noch am 26. November notiert Böll „Unterhaltung mit Leutnant Spieß über das Leben … Wir trinken wunderbaren Cognac zusammen und sprechen über Willi Wunsch …“.

Böll vermerkt die Heimatadresse des Ehepaars Spieß: „seine Frau; Frau Spieß, Köln-Nippes Auerstr.“ Wenige Zeilen später die Beschwörung „Gott lebt! Gott lebt! Ich ‚mache Versuche‘ – Gott helfe mir“.

Aus dem Feuilletonisten ist wider Willen ein Kriegsberichterstatter geworden, aus einem Leben in Menschlichkeit „Das absolute Elend.“ Der Leser kann all dies aus nächster Nähe beobachten – soweit dies angesichts unvorstellbarer Zustände im Schützengraben überhaupt möglich ist: „Blut, Dreck, Schweiß und Elend; das Gewimmer der Verwundeten und Sterbenden, der Platz beim Essenholen.“

René Böll, der Sohn von Heinrich Böll und Herausgeber der Tagebücher, hat nichts unversucht gelassen, den Leser zum Augenzeugen werden zu lassen: „Die Tagebücher haben eine noch größere Unmittelbarkeit als die Briefe aus dem Krieg, die er von 1939-1945 schrieb.“ Der Eindruck unmittelbaren Miterlebens und Mitleidens resultiert nicht zuletzt aus der aufwendigen Gestaltung der vorliegenden Ausgabe. Jede Seite der drei Tagebücher ist, geringfügig verkleinert, im Original zu sehen und jeweils auf dem oberen Teil der Seite abgebildet. Den unteren Teil nimmt die Druckfassung der oft schwer lesbaren Schrift des Originals ein. Dessen Zeilenumbrüche werden dabei ebenso berücksichtigt wie die variierende Größe der Schreibschrift.

Groß und sichtbar bewegt wird Bölls Schrift auffallend häufig, wenn er Gott anruft und sich seines Glaubens vergewissert. Ähnlich oft erscheint der Name seiner Frau Anne-Marie in großen, geradezu explodierenden Buchstaben. Besonders markant und doch auch typisch für Bölls Eintragungen sind zwei Seiten, auf denen in übergroßer Schrift der Name seiner Frau zu lesen ist:

13.4.44.

Anne-

Marie

und

14.4.44

Anne-Marie

mein Weib

Gerade der Blick auf diese beiden Seiten macht sinnfällig, wie wichtig die Abbildung des Originals ist, um den Gehalt der Tagebücher sichtbar werden zu lassen, kommt dieser doch erst in der äußeren Form zur Erscheinung: im Original die expressive Geste einer Schreibschrift, der man ansieht, dass hier weit mehr notiert wird als bloß der Name der geliebten Frau, eine Geste, welche die Druckfassung selbstredend nicht übermitteln kann.

Ergänzt werden die eigentlichen Tagebucheintragungen durch ein Vorwort, ein Nachwort, Anmerkungen, Karten sowie eine Zeittafel. Wir können dem Leser allerdings nur raten, zunächst mit der Lektüre der Tagebücher selbst zu beginnen und dabei auch die Anmerkungen außen vor zu lassen. Nur so wird deutlich, wie präzise der junge Soldat Böll mit wenigen, oft mehr gekritzelten als geschriebenen Worten seine Situation zu bewältigen versucht, häufig am Rande der Verzweiflung. Dies soll den Wert und die Notwendigkeit der Anmerkungen keineswegs schmälern. Aber indem die Anmerkungen die Tagebucheintragungen in einen größeren Zusammenhang stellen und erläutern, schaffen sie eine Form von Übersicht und Ordnung, die der damaligen Situation des jungen Soldaten Heinrich Böll nicht eigen war. Im Gegenteil war ihm beinahe jede Sicherheit abhanden gekommen, und das, was an Gewissheit noch übrig war – Gott, die geliebte Frau, die Familie, einzelne Kameraden und Freunde –, musste immer wieder verzweifelt beschworen werden.

Die tragische Episode um Leutnant Spieß wird in den Anmerkungen näher erläutert. Der dort ausführlich zitierte Brief verdeutlicht, was René Böll meint, wenn er dem Tagebuch eine größere Unmittelbarkeit attestiert als den Briefen. Dieser Brief, ein Tag nach dem Todesfall geschrieben, lässt bereits einen gewissen Abstand zum Geschehenen erkennen. Nunmehr gelingt es Böll, die Ereignisse zusammenhängend darzustellen; gleichzeitig sieht er sich noch außerstande, dem Freund einen letzten Dienst zu erweisen: „Wir waren beide gute Freunde geworden in diesem Loch hier, und ich halte es für meine Pflicht, seiner Frau zu schreiben, wenn wir einmal in Ruhe sind. Jetzt kann ich es noch nicht.“

Das schreckliche Ereignis, der Tod des Freundes, wird zunächst spontan im Tagebuch vermerkt und anschließend im Brief genauer und gefasster geschildert. Der Brief an die Ehefrau stellt noch größere Anforderungen an eine Sprache, die dem Geschehenen wie der Adressatin auch nur annähernd gerecht werden könnte.

Doch damit nicht genug. Wie den Anmerkungen zu entnehmen ist, hat Böll das Ereignis auch literarisch verarbeitet. Die Kurzgeschichte Wiedersehen in der Allee aus dem Jahr 1948 gießt den Tod des Freundes in eine literarische Form, die dabei immer noch die spontanen Aufzeichnungen des Tagebuchs erkennen lassen.

Mit den Kriegstagebüchern werden die Wurzeln sichtbar, aus denen das literarische Werk von Heinrich Böll erwächst. Im Tagebuch hält der Autor Zwiesprache mit sich selbst, der Brief richtet sich an einen vertrauten Menschen, die literarische Form schließlich an ein breites Lesepublikum. Gemeinsam ist allen drei Formen der unabwendbare Impuls, Zeugnis von einem Geschehen ablegen zu wollen, dessen Brutalität wir Nachgeborenen dank der literarischen Kraft von Heinrich Böll zumindest erahnen können.

Titelbild

Heinrich Böll: Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945.
Herausgegeben von René Böll.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
351 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050202

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch