Zwischen Himmel und Erde
Zu Neil Smiths „Das Leben nach Boo“
Von Sylvia Heudecker
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Boo“ kann im Englischen zweierlei bedeuten: einen guten Kumpel oder ein „Buh!“, das man jemandem entgegenstößt, um ihn zu erschrecken. Recht selten, wie in Das Leben nach Boo des Kanadiers Neil Smith, wird Boo auch als Spitzname verwendet.
Oliver „Boo“ Dalrymple ist 13 Jahre alt und ein Außenseiter. Er will Wissenschaftler werden; seine Fähigkeiten im sozialen Umgang sind begrenzt. Wir schreiben das Jahr 1979. Es ist die erste Schulwoche nach den Ferien, als Oliver an seinem Schulspind steht, das chemische Periodensystem rekapituliert – und plötzlich ist alles anders als zuvor. Oliver findet sich in einem Bett wieder, in einem Raum, den er nicht kennt. Unbekannte Gesichter Gleichaltriger erscheinen vor ihm, und langsam findet er heraus, dass er im ‚Himmel’ gelandet ist. Dieser entspricht jedoch keineswegs gängigen religiösen Vorstellungen, auch wenn Gott namens Zig als unsichtbarer Lenker aller Dinge irgendwie präsent ist. Bemerkenswert an diesem Himmel ist, dass sich hier nur Dreizehnjährige befinden – egal, wie lange sie schon tot sind, sie bleiben immer dreizehn. Ein Mitschüler Boos ist ebenfalls Neuankömmling: Johnny Henzel.
Im Laufe des Buches kristallisiert sich heraus, dass Boo und Johnny eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Die langsame Enthüllung des Geschehenen vollzieht sich vor dem Hintergrund dieser seltsamen, himmlischen Teenager-Totenstadt. Wie in einem irdischen Gemeinwesen gibt es auch hier die verschiedensten Institutionen, in denen die Jugendlichen tätig sind. Vom Betreuungspersonal über Wohnheimleiter hin zu Barkeepern, Schneidern, Gefängniswärtern und Richtern findet sich ein breites Spektrum der Tätigkeiten; jeder hat seinen Platz in dieser Gesellschaft. Zudem gibt es die Anständigen genauso wie die Übeltäter und eine ganze Reihe von Figuren, die prototypisch für die USA und ihre jüngere Geschichte stehen und nicht selten recht skurril daherkommen. Die jugendlichen Amerikaner sind davon überzeugt, dass „es im Himmel noch viele andere Städte gibt, eine für jedes Alter.“ Bei so viel immanenter Diesseitigkeit des Jenseits und amerikanischer Nabelschau kann der Leser nicht anders als vom Lauf der Geschichte absehen und fragen: Wozu die ganze Konstruktion?
Eine, wenn auch oberflächliche Lesart ist es, in Das Leben nach Boo einen Entwicklungsroman zu sehen. Das erzählerische Coming-of-Age-Modell liegt als Erklärungshintergrund nahe, geht es doch darum, Erfahrungen zu sammeln, um zur Erkenntnis zu gelangen. Nur konterkariert der Autor dies schon dadurch, dass er das Altern aus seiner Himmelswelt verbannt. Alle bleiben immer 13.
Wichtiger und sicher auch literarisch bedeutender ist die allegorische Dimension, die Neil Smith nach dem erfolgreichen Erzählband Bang Crunch nun seinem Erstlingsroman eingeschrieben hat. Denn ihm geht es durchaus darum, die Nabelschau zu entlarven und der selbstgerechten Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Der Himmel ist wie die Erde ein Spielplatz der Leidenschaften bis hin zum Zorn, der auf Rache sinnt. Es kommt sogar zur Steinigung eines Unschuldigen. Das alles geschieht, obwohl Gott Zig seine Hand über alles hält. Das Buch zeigt ein Gemeinwesen, das in einem pubertären Zustand festgefroren ist. Von Sünden frei ist hier beileibe keiner und gesegnet mit höherer Erkenntnis ebenfalls nicht. Das, was gut sein könnte und von Erlösung bestimmt, erweist sich als moralischer Sumpf, in dem altertümliche Strafmaßnahmen eine Selbstverständlichkeit sind. In Zeiten gerechter Kriege und noch gerechterer Selbstverteidigung einer ganzen Nation kann ein vermeintlicher Jugendroman vielleicht leichter diejenigen Dinge benennen, die sonst nur schwer Gehör finden. Erst diese allegorische Lesart macht das Buch interessant.
Die Erzählung folgt dem Schema der klassischen Detektivgeschichte mit dem Kniff, dass die Hauptfigur Boo zum Ermittler im Fall seines eigenen Todes wird. Er selbst versucht, das Wie und Warum seines vermutlich gewalttätigen Ablebens zu ergründen. Obwohl dieser Erzählung dadurch strukturell Spannung eingeschrieben ist, realisiert sie diese auf der Darstellungsebene nur bedingt. Denn der Ton des Romans leidet unter Boos Betulichkeit.
Die Erzählfiktion will es, dass der Protagonist für seine lebenden Eltern einen Bericht aus dem Jenseits abfasst; er hofft, diesen seinen Eltern irgendwann zukommen lassen zu können. Zwar will Boo Rechenschaft ablegen und Erklärungen finden, doch alles, was er zu erzählen weiß, ist inkohärent und verwirrend und die Dinge nur im Strudel pubertärer Wahrnehmung erscheinen. Das Leben nach Boo zu lesen, hinterlässt einen Eindruck, wie ihn vielleicht Lewis Carolls Alice im Wunderland hervorruft. Hier wie dort wird eine Welt geschaffen, die nach eigenen, absurden Gesetzen funktioniert, und von einer Vielzahl skurriler Figuren bevölkert ist. Aber insgesamt ist diese Himmelswelt doch recht bizarr und exaltiert. Außerdem mag Sympathie für den Protagonisten in Smiths Roman, für diesen braven, beflissenen, selbstgefälligen, altklugen Außenseiter, der auf ach so wunderbare Weise zum Star der himmlischen Neuzugänge avanciert, nicht wirklich aufkommen. Wenn ein dreizehnjähriger Sohn seinen Tod als eine Art Davonlaufen begreift, das er seinen „lieben Eltern“ mittels eines tagebuchartigen Berichts plausibel zu machen sucht, wobei er in Selbstzensur Kraftausdrücke mit Sternchen anstelle der sinntragenden Vokale versieht, dann empfindet man es entweder als penetrant oder langweilig. Da bringen auch die umweltbewussten Überlegungen des jugendlichen Experimentalchemikers keine Besserung: „Ich muss mir unbedingt ein natürliches Pestizid einfallen lassen (vielleicht irgendwas mit Cayennepfeffer), um die Löwenzahnpopulation in Schach zu halten.“ Wer also das Buch als einen Coming-of-Age-Roman liest, muss enttäuscht sein.
Neben der allegorischen Dimension entfaltet sich noch eine weitere, poetologische. Das chemische Periodensystem dient als Erzählmodell. Abgebildet ist in diesem Periodensystem die hierarchische Gliederung der Elemente nach der Anzahl der Schalen, die um den Kern liegen und die Zahl der Elektronen, die sich darauf befinden. Je niedriger die Elektronenzahl, desto reaktionsfreudiger das Element und umgekehrt. Die stabilsten, trägsten Elemente sind die Edelgase. Das erste Kapitel des Buchs beginnt mit Wasserstoff, dem ersten, hochreaktiven Element des Periodensystems. Und mit einer katapultartigen Reaktion wartet dieses Kapitel auf: Vom normalen Beginn eines Schultags wird Boo durch eine Bluttat ins Jenseits befördert. Damit legt Neil Smith nahe, wie er seinen Roman gelesen wissen will. Eben nicht als „Bericht“ einer Entwicklung, einer chronologischen Abfolge von Ereignissen, sondern als die Beschreibung von Zuständen, als Bewegung zwischen Stabilität und Veränderung. Wandel erfolgt in Sprüngen, ausgelöst von Impulsen, die von außen ins System gegeben werden. Während gleichzeitig alles nach trägem Gleichgewicht strebt. Alles existiert zugleich. Das Leben nach Boo vermittelt also eine Weltauffassung, die überraschenderweise ihr Funktionsprinzip aus einer naturwissenschaftlichen Grundannahme ableitet. Diese poetologische Dimension ist ungewöhnlich und reizvoll zugleich; sie macht die eigentliche Qualität des Romans aus.
Übersetzt wurde Das Leben nach Boo von Brigitte Walitzek, die seit 1986 Texte aus dem Englischen ins Deutsche überträgt. Sie ist unter anderem vertraut mit Margaret Atwood, Carson McCullers, Jean Rhys und Virginia Woolf. Walitzek hat die feinsinnige Ironie, die Smith in die Darstellung Oliver Dalrymples gelegt hat, trefflich ins Deutsche übersetzt.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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