Liebhaber literarischer Zeichen und Ethnologe der eigenen Kultur

Zum Tod des Literaturwissenschaftlers Gerhard Neumann

Von Ursula RennerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ursula Renner

Schon Ende der 1970er Jahre hat der Germanist Gerhard Neumann in Freiburg unterrichtet, was heute Kulturwissenschaft heißt. Und doch blieben in seinen Analysen die literarischen Texte im Zentrum. Dabei sind die Muster, denen er seine Aufmerksamkeit widmete, Urszenen der Kultur: die erste Begegnung in der Liebe, mit einem Buch, mit Fremden, die Selbsterfindung des Autors im Schreiben. Ihn interessierten die Augenblicke, in denen das Versprechen des Glücks aufscheint, ebenso wie unlösbare Konflikte, tiefes Erkennen wie fundamentales Verfehlen. Es ging ihm um Rituale, besonders des Essens, für das er auch leibhaftig geschwärmt hat. Die Schnittstelle von biologischer Notwendigkeit und sozialem Zeichen machte er zum Forschungsfeld.

Kindheit und die Erfahrung als Flüchtlingskind haben Neumann geprägt. Das werden seine demnächst erscheinenden Erinnerungen zeigen. Er ist 1934 in Brünn geboren, seine Schulzeit verbrachte er in Kempen am Niederrhein. An der Universität Freiburg wurde er promoviert, hier habilitierte er sich 1972 mit einer Arbeit über den Aphorismus: „Ideenparadiese“. Professuren erhielt Neumann in Bonn, Erlangen, Freiburg und München, nach seiner Emeritierung eine Honorarprofessur in Berlin. Als Gast lehrte er an internationalen Universitäten.

Der akademische Lehrer Neumann war ein Erlebnis. Die Studenten der 1970er und 80er Jahre verehrten ihn, weil er die modernen Theoretiker zwischen Strukturalismus, Semiotik und Editionswissenschaft ins Gespräch brachte. Tatsächlich ins Gespräch: Seine Kunst des Verstehens war ansteckend. Seine Offenheit für die französischen Sprach- und Kulturtheorien weckte auch hier die Lust am Text. Er animierte seine Zuhörer, indem er seinen Blick aufs Detail und gleichzeitig weit über die Disziplingrenzen hinweg richtete. Vorlesungen hielt er nicht auftrumpfend, sondern eher suchend und fragend. Mit Hilfe von Notizzetteln, kleinen grafischen Kunstwerken, wurden sie zumeist frei vorgetragen.

Eine Schlüsselrolle spielte Franz Kafka. Zu ihm hat Neumann nicht nur wichtige Analysen, sondern auch eine bedeutende Edition vorgelegt. Dass seine Aufsätze zu Sammelbänden zusammengefasst sind, ist ein Geschenk. Seine Fragen an die eigene Disziplin sind ein Vermächtnis: „Sollte der Literaturwissenschaftler zuletzt der Ethnologe der eigenen Kultur sein können? … Ist er vielleicht bloß ein Agent des ‚Unbehagens in der Kultur‘, das aus der Unverläßlichkeit der Zeichen entspringt? Oder erweist er sich zuletzt doch als ‚Philologe‘. Als Liebhaber jener Zeichen, die … die Lust des Aufklärers in ihm sind?“ Am 27. Dezember 2017 ist Gerhard Neumann in Berlin gestorben.

Anmerkung der Redaktion: Die Erinnerung an Gerhard Neumann greift auf den Nachruf Ursula Renners am 2. Januar 2018 in der Badischen Zeitung zurück. Wir danken ihr für die Genehmigung zur Veröffentlichung in literaturkritik.de. Ursula Renner(-Henke) hat in Freiburg studiert und lehrte zuletzt Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. Mit Gerhard Neumann und anderen ist sie Herausgeberin des Hofmannsthal-Jahrbuchs. Eine Zusammenstellung der in literaturkritik.de veröffentlichten Besprechungen zu Publikationen von Gerhard Neumann enthält der Eintrag zu seiner Person in unserem Autorenlexikon. Die Druckfassung eines Vortrags, den er 2007 beim Deutschen Germanistentag in Marburg zum Thema „Natur – Kultur“ gehalten hat, veröffentlichen wir erneut im Rahmen der Februar-Ausgabe 2018 mit dem Themenschwerpunkt „Human-Animal Studies“, machen ihn aber vorab schon online zugänglich. Er trägt den Titel „Mensch / Affen. Erkundung der Grenze zwischen Kultur und Natur“. T.A.