Zeit im Internet vertun

Kenneth Goldsmith erklärt das „Uncreative Writing“ als das Schreiben der digitalen Epoche

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur eine Geschichte des digitalen Medienwandels könnte man inzwischen schreiben, sondern auch die Geschichte der Klage darüber, dass er an dieser oder jener Stelle noch gar nicht angekommen, noch nicht zur Kenntnis genommen oder doch wenigstens in seinen grundstürzenden Konsequenzen noch nicht bedacht worden sei. Außer Frage steht natürlich, dass er solch grundstürzende Konsequenzen überhaupt hat. Und außer Frage steht offenkundig auch die Notwendigkeit der von Politik und Wirtschaft beständig nur als Monitum verhandelten infrastrukturellen Vorbedingungen und stets zunehmenden Datenübertragungsraten. Lässt man aber dieses Grundrauschen unseres Diskurses über den Medienwandel einmal beiseite, darf man die Frage stellen, welche Bedeutung diese Digitalisierung auf die Produktionsbedingungen von Texten und die Rolle des Schriftstellers haben könnte, und zwar jenseits der Feststellung, dass Texte nun eben digital und damit womöglich ganz anders als in analogen Zeiten entstehen.

Personal Computer in jedem Haushalt sind bald seit einem Vierteljahrhundert Alltag, World Wide Web und E-Mail sind kaum weniger lang kulturelles Allgemeingut; selbst das sogenannte Web 2.0 ist schon bald 15 Jahre alt. Man könnte daher sagen – und das wurde von der Kritik auch bereits zu Recht angemerkt –, dass Kenneth Goldsmiths Buch Uncreative Writing wenigstens zehn Jahre zu spät kommt. Zumindest für die Übersetzung in die deutsche Sprache gilt das in jedem Fall, denn im englischen Original erschien der Band bereits im Jahr 2011, die einzelnen Aufsätze, die er versammelt, entstanden größtenteils schon zwischen 2006 und 2009. Deshalb sollte man eigentlich nicht so überrascht sein angesichts der vermeintlich unerhörten Neuigkeiten, die das Buch vorbringt. Allerdings sollte man wohl auf den Gedanken, irgendwo könnte etwas ganz Neues verhandelt werden, ohnehin nicht allzu viel geben – wie man aus dem Buch selbst lernen kann.

Goldsmith ist ein amerikanischer Konzeptkünstler und Schriftsteller, der das „unkreative Schreiben“ als künstlerisches Verfahren nun ebenfalls schon an die 25 Jahre betreibt: 1993 habe er bemerkt, wie leicht man den Text aus den Seiten des damals noch rudimentären Internets in eigene Dokumente übertragen könne, seitdem habe das Schreiben für ihn eine grundsätzlich andere Bedeutung gewonnen. Bereits vorhandener Text wird aus seinem Zusammenhang gelöst und in einen neuen übertragen, im Wesentlichen durch Abschreiben oder Kopieren, was sich im digitalen Zeitalter zum Glück als vergleichsweise unkompliziert und zeitsparend herausgestellt hat.

Auf diese Weise hat Goldsmith beispielsweise die New York Times vom 1. September 2000 abgeschrieben und erneut veröffentlicht oder auch in einer Galerie in Mexiko City von Tausenden Menschen eingesandte ausgedruckte Internetseiten, insgesamt mehr als 10 Tonnen Papier, unter dem netten Titel Printing out the Internet ausgestellt. Mit diesem Abschreiben oder unkreativen Schreiben hat es Goldsmith zu einigem Erfolg als Künstler und Lyriker gebracht, unter anderem hat ihn das New Yorker Museum of Modern Art 2013 zum Poet Laureate gekürt, Barack Obamas lud ihn ins Weiße Haus ein und an der University of Pennsylvania unterrichtet Goldsmith regelmäßig Studierende in Kursen wie „Uncreative Writing“ oder auch „Wasting Time on the Internet“. Spätestens mit der von Swantje Lichtenstein und Hannes Bajohr im vergangenen Jahr vorgelegten Übersetzung seiner Textsammlung Uncreative Writing, für die deutsche Ausgabe vom Autor nochmals erweitert, hat er nun auch den deutschen Sprachraum erreicht.

Dass Sprache und Text Materialien von Kunst sein können, dass vorhandener Text wiederverwendet, sozusagen recycelt wird, von einem Zusammenhang in einen anderen übertragen, verändert und verfremdet, ist für sich genommen gewiss keine Neuigkeit. Die Liste der Vorläufer, auf die Goldsmith selbst sich bezieht, ist nicht eben kurz, eine Ahnenreihe der Avantgarden des 20. Jahrhunderts: Dada, Fluxus und Konkrete Poesie, die Situationisten und die Gruppe Oulipo, Walter Benjamins Passagen-Werk, die Écriture automatique der Surrealisten und so weiter. Man kann Goldsmiths Abschreibekunst also beileibe nicht ihren poetisch und ästhetisch hochreflektierten Zugang absprechen, mit dem sie sich ihrem Thema nähert und das Kopieren und Plagiieren – welcher Sinn auch immer diesem Begriff dann noch bleiben mag – zum ambitionierten Konzept von Poetik und Ästhetik im digitalen Zeitalter adelt. Zudem kann kein Zweifel bestehen, dass er damit einige der blinden Flecke unseres Kunst- und Literatursystems in den Blick nimmt, allen voran die Begrifflichkeiten rund um Urheberschaft und geistiges Eigentum. Während die Produktion von Text auf eine technisch ganz neue Grundlage gestellt und von Algorithmen und Bots auch dem menschlichen Autor immer mehr entzogen wird, während in anderen Kunstformen Mashups, Remixes, Coverversionen seit langem als anerkannte Varianten der Neu- und Reinterpretation von Vorhandenem gelten, behilft man sich in der Literatur allenfalls vorsichtig mit Kon- und Intertexten. Originalität gilt offenbar umso mehr gerade dann als Conditio sine qua non von Literatur, desto umfangreicher die literarische Tradition ist, auf die man zurückblicken kann, desto größer die vorhandene Textmenge ist und desto einfacher es wird, sie sich zu eigen zu machen, sie womöglich gar zu plagiieren. Obwohl ja ersichtlich – auch hier legt Goldsmith den Finger in die Wunde – vieles auf Vorbildern aufbaut, nach dem immer gleichen Schema und in derselben Sprache verfasst ist, also im eigentlichen Sinne des Wortes unkreativ, wird vom Schriftsteller offenkundig erwartet, so zu tun, als könne er seine Stoffe aus dem Nichts neu schöpfen. Autoren wie Thomas Meinecke, die literarische Collagetechniken seit Jahren zur Grundlage ihres Schreibens gemacht haben, Ulrich Holbein, der in Isis entschleiert eine sehr ausgefeilte Zitationstechnik vorgeführt hat, oder auch Clemens Setz, dessen jüngstes Buch Bot gerade mit dem Anschein spielt, der Autor könnte als Schöpfer eines Textes durch einen automatischen Kompilator in die zweite Reihe verdrängt werden, bilden eher eine randständige Ausnahme. Besser im Gedächtnis ist dagegen noch die Kontroverse um Plagiatsvorwürfe gegen Helene Hegemanns Axolotl Roadkill.

Es ist daher gar nicht unbedingt die Frage, ob die von Goldsmith aufgeworfenen Fragen selbst wirklich neu und originell sind – warum sollte man von Uncreative Writing erwarten, dass es selbst nicht unkreativ ist? Die Forderung nach mehr Ehrlichkeit im Umgang mit unseren Begriffen von Autor- und Urheberschaft scheint aber davon unabhängig angebracht in einer Literaturwelt, die Autoren einerseits gerne als Stars inszeniert oder sie andererseits als Plagiatskünstler in Grund und Boden verdammt. Umso mehr gilt das, sofern in Zukunft dank Künstlicher Intelligenz der Autor als Produzent von Text immer mehr in den Hintergrund gedrängt werden sollte – Magnus Enzensbergers Landsberger Poesieautomat lässt grüßen. Was könnte Autorschaft dann noch bedeuten? Goldsmith spekuliert: „Vielleicht sind die besten Autoren der Zukunft solche, die die besten Programme schreiben können, mit denen man sprachbasierte Praktiken manipulieren, parsen und verteilen kann.“ Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen darf man den systematischen Kern von Projekten wie Uncreative Writing oder Wasting Time on the Internet darin erkennen, dem Autor, dem Künstler, allgemein dem Subjekt in seiner digitalen, von algorithmischen Zusammenhängen und automatischen Rechenprozessen geformten Umwelt einen neuen Ort von Autonomie, Selbständigkeit, ja auch Freiheit zuzuweisen, ohne ihn mit den herkömmlichen Begriffen von Authentizität, Originalität und Urheberschaft zu überfordern. Der Autor ist dann nicht mehr unbedingt diejenige Instanz, die Text erschafft und produziert, sondern mehr derjenige, der vorhandenen Text sortiert, organisiert, teilt, wiederholt und analysiert, oder dasselbe mit jeweils dahinterstehenden digitalen Prozessen tut. Uncreative Writing ist insofern keine Strategie von Denkfaulheit, die das Plagiat und den Diebstahl sogenannten geistigen Eigentums als Selbstzwecke propagieren würde. Nein, es handelt sich um eine Strategie bewusster Partizipation in einer von Text durchdrungenen, durch Text geprägten Welt.

Titelbild

Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter. Erweiterte deutsche Ausgabe.
Übersetzt aus dem Englischen von Hannes Bajohr und Swantje Lichtenstein.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2017.
200 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783957572523

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch