Sex oder Sozialismus?

„Kultur“: Der britische Literaturwissenschaftler und Marxist Terry Eagleton über die blinden Flecke der postmodernen Geisteswissenschaften

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass ein Autor die Bedeutung seines Gegenstandes herunterspielt, kommt eher selten vor. Terry Eagleton erinnert dennoch daran, dass es Wichtigeres gibt als die „Kultur“, der sein neuester Essay in Buchlänge gewidmet ist. Überhaupt haben für den britischen Literatur- und Kulturwissenschaftler die heute zentralen Probleme der Menschheit wie Klimawandel oder Hunger zwar kulturelle Aspekte, sind aber im Kern von handfest materieller Natur.

Einmal mehr zieht der 74-jährige Marxist und Skeptiker, der sich zuletzt zunehmend den, wenn man so will, letzten Dingen zugewandt hat (Der Sinn des Lebens, 2008; Das Böse, 2011; Der Tod Gottes und die Krise der Kultur, 2015), gegen seinen Lieblingsgegner zu Felde, die Postmoderne. Deren Vertretern in den Geisteswissenschaften wirft er vor, die „Kultur“ zu einer Art Generalschlüssel für sämtliche Aspekte der gesellschaftlichen Realität erhoben zu haben. Die Folge seien nicht nur blinde Flecke, behandle der Diskurs der Kulturwissenschaften doch „Sexualität, nicht aber Sozialismus, Transgression, nicht aber Revolution, Differenz, nicht aber Gerechtigkeit, Identität, nicht aber die Kultur der Armut“. Sondern letztlich auch eine unbewusste Selbstinstrumentalisierung im Dienst der vorherrschenden kapitalistischen Ideologie.

Mal ironisch, mal sarkastisch zerpflückt Eagleton dabei die postmodernen Werte und Positionen wie Pluralität, Hybridität oder Inklusivität, indem er sie ad absurdum führt („Im Prinzip ist nicht das Geringste gegen Exklusivität einzuwenden. Frauen das Autofahren zu verbieten ist ein Skandal, Neonazis den Zugang zu Lehrberufen zu verbieten, nicht“). Eagletons Reflexionen sind unterhaltsam und anregend, warten aber gelegentlich mit einem Übermaß an Beispielen auf. Sofern der Brite nicht ohnehin nur auf Pappkameraden schießt, etwa wenn er das postmoderne „Loblied auf die Marginalität“ hinterfragt, weil doch „einige, die heute marginalisiert sind, es unbedingt auch bleiben sollten. Allen voran Serienkiller und psychopathische Sektenführer.“

Besonders aufschlussreich ist Eagletons Essay, der auch Edmund Burke, Johann Gottfried Herder und Oscar Wilde als Gewährsmänner anführt, immer da, wo er die dem Kulturbegriff seit jeher innewohnenden Ambivalenzen erhellt. Ist die Kultur die Sache einer elitären Minderheit oder des Volkes? Ist sie zukunftsweisend-avantgardistisch oder eher an Bestehendem orientiert? Und warum ist Kultur ebenso sehr etwas, was uns erlaubt, zu überleben und uns zu entfalten, wie das, wofür Menschen bereit sind zu töten?

Titelbild

Terry Eagleton: Kultur.
Übersetzt aus dem Englischen von Hainer Kober.
Ullstein Verlag, Berlin 2017.
200 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783550081705

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