Vom Verschieben der Küstenlinie landwärts

Eine interdisziplinäre Studie widmet sich den (Un-)Ordnungsstrukturen in Kurt Schwitters’ Werk

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der Geologie beschreibt der Begriff der Transgression das Verschieben der Küstenlinie landwärts: Ein Gebiet, das bislang trocken lag, wird vom Meer in Besitz genommen. Diese bildliche Vorstellung der marinen Transgression ist eine ausgezeichnete Metapher für das bild- und schriftkünstlerische Schaffen von Kurt Schwitters (1887–1948), dem es als einem der Hauptvertreter der historischen Avantgarden gelang, ungenutztes Terrain in Kunst und Literatur mit kunst- und literaturfremdem Material zu erobern, einem Fahrschein, einem Knopf, einem einzelnen Buchstaben, einem zerschnittenen Wort.

Transgression ist zugleich ein Schlüsselbegriff in der Schwitters-Forschung, die sich seit einigen Jahren wieder verstärkt dem literarischen Werk des Künstlers zuwendet. So war „Transgression und Intermedialität“ der Titel einer Tagung über die Texte Schwitters’, die 2011 begleitend zur Vorbereitung der neuen Gesamtausgabe in Hannover stattfand und deren Ergebnisse in einem Sammelband von 2016 nachlesbar sind. 2014 erschien –  interdiszplinär in Wuppertal (Ursula Kocher) und Hannover (Isabel Schulz) verortet – der erste Band einer auf neun Bände angelegten Gesamtausgabe Kurt Schwitters. Alle Texte. Die Sammelkladden. In der Systematik der Ausgabe bildet er den dritten Band, macht aber aufgrund bedeutender neuer Funde zu Recht den Anfang mit der Präsentation der Sammelkladden. Eine der Mitarbeiterinnen an diesem Band war Julia Nantke, deren Dissertation Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters man mit Spannung erwarten durfte. Schließlich hat sie grundlegende Einsichten in die Arbeitsweise von Schwitters unmittelbar bei der Arbeit am Material gewinnen können.

Mit dem Untertitel Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit schreibt sich die Studie in den rezenten Diskurs der Schwitters-Forschung ein. Transgression, das ist nach Nantke einmal die Überschreitung der „konventionellen Kategorisierungssystematiken der Literaturwissenschaft – Autor, Werk, Gattung, Medium“. Auf materialer Ebene wird Transgression bei Schwitters als Überschreiten der Grenze von Schrift und Bild gefasst. Transgression ist aber auch das Überschreiten der „Bewertung von Gegenständen/Aussagen/Erzeugnissen als wertvoll oder nutzlos sowie die zwischen vermeintlich hoher, ewig währender Kunst und kurzfristigem Gebrauchsgut“. Spannend wird eine Analyse von Schwitters’ Werk an dem Punkt, an dem die Transgression konventioneller Kategorisierungen und Werte selbst wieder in eine – alternative – Regelhaftigkeit umschlägt und sich eigene Ordnungsmuster herausbilden. Dieser Punkt bildet entsprechend auch den Kern von Nantkes Analyse. Sie verortet ihre Untersuchungsperspektive zwischen Produktionsästhetik, Werkimmanenz und Rezeptionsästhetik. Hervorzuheben sind aber auch die beständigen wissenschaftstheoretischen Reflexionen in dieser intermedial und interdisziplinär angelegten Studie, die ihre Untersuchungsergebnisse anschlussfähig machen und über Schwitters hinausweisen.

Als eines der maßgeblichen Ordnungsmuster, die sich in Schwitters’ Œuvre abzeichnen, arbeitet Nantke auf der Ebene der Materialität und Komposition die Montage heraus, hier verstanden als „Anordnung, Kombination und Konfrontation verschiedener ‚Materialien‘ von Texten und textuelles Codes bis hin zu Alltagsgegenständen“, wobei die Montage, der Argumentation Theodor W. Adornos folgend, in ihrer Disparatheit der Teile Einheit desavouiere, jedoch als Formprinzip auch wieder bewirke. Aus produktionsästhetischer Perspektive sind Namen, Serien und Nummerierungen weitere entscheidende Ordnungsprinzipien. Nicht zuletzt „Merz“, der Wortschnipsel aus „Kommerz“ und – so Eberhard Roters – wie „Dada“ artifizielles four-letter word mit publizistischer Durchschlagekraft, hat sich in Komposita wie „Merzbau“, „Merzgedicht“, „Merzbild“, aber auch als Zeitschriftentitel, Künstlername, Berufsbezeichnung („Merzer“) und Tätigkeiten wie „merzen“ und „vermerzen“ als Marke und Programm inszeniert und etabliert. Auf der Ebene „aufgefasster Strukturen“ (in Anlehnung an Umberto Eco) sieht Nantke als maßgebliche Ordnungsprinzipien die sich in der Rezeption konstituierenden Raum-Modelle, die Schwitters’ Arbeiten, seien es die Collagen, Assemblagen, Sammelkladden oder der Merzbau selbst, in ihrer materiell-räumlichen Präsenz generieren. Dabei werden unter Bezug auf Michail Bachtin und Michel Foucault „Verkehrte Welt“ und „Diskursive Formation“ als grundsätzliche Muster der Raum-Modellierung in ihrer Komplementarität und interaktiven Verflechtung erarbeitet.

Die Zusammenführung der Ebenen geschieht über das Wortspiel „Raum-Spiele im Spielraum“. Nantke beruft sich hier vor allem auf den Kulturhistoriker Johan Huizinga und seinen 1956 mit Homo ludens in die breitere Öffentlichkeit getretenen anthropologisch-philosophisch-kultursoziologischen Begriff des Spiels, für den die Regel konstitutiv ist. „ART’S NOT A GAME/ IT HAS NO RULES“ wäre eine prägnante Gegenthese des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Lawrence Weiner, die Schwitters’ Arbeitsprozess und Kunstbegriff durchaus bestätigt und sich wie auch der von Nantke erwähnte dekonstruktivistische Spielbegriff eines Robert R. Wilson von Huizingas Spiel- und Kulturbegriff abgrenzt. Und dennoch gibt es eine Parallele zwischen Huizinga und Schwitters, die geradezu verblüffend ist und von der aus sich trotz gewisser Bedenken die zentrale Rolle, die das Spiel in Huizingas Denken „spielt“, auf die Relevanz für die Schwitters-Forschung überdenken lässt. Deshalb sei die Parallele ergänzend zu Nantke hier kurz skizziert: Sie betrifft die Praxis der Notizführung Huizingas, die Henning Trüper 2011 unter dem Titel Unordnungssysteme vorgestellt hat. Huizinga notierte Gedanken, Zitate et cetera, die ihm bei der Recherche für seine eigenen Texte wichtig erschienen, auf den unbeschriebenen Rückseiten seiner Manuskripte. Die Exzerpte zerriss oder zerschnitt er zu Zetteln, was die Zerstörung seiner eigenen Manuskripte zur Folge hatte. Nach Trüper ist Huizingas wissenschaftlicher Schreibprozess maßgeblich durch die Anordnung – man könnte auch sagen: die Montage – der Zettel bestimmt: „Dem Zerschneiden (buchstäblich oder im übertragenen Sinn) antwortet in der Notizführung die Kombination“. Es ließe sich hier ebenso wie bei Schwitters von materiellen Text-Räumen sprechen (Huizinga breitete die Schnipsel wohl auf seinem Schreibtisch aus), wobei anhand einer genaueren Analyse des Materials Strukturmerkmale wie beispielsweise Disparatheit oder Homogenität des exzerpierten Materials zu ermitteln wären.

Wie auch in der Rezension sichtbar geworden, liefert Nantkes Dissertation literaturtheoretisch wie im engeren Sinne gegenstandsbezogen viel Material, das seinerseits wieder neue spannende Fragen aufwirft und an das sich weitere Studien andocken können, so über den Begriff des Spiels hinaus zum Gebrauch der Begriffe Collage und Montage in Kunst- und Literaturwissenschaft, zur Bedeutung numerischer Ordnungssysteme, zur Hinwendung vom autorzentrierten zum materialbasierten Edieren und so weiter. Mit über 400 Seiten ist die Dissertation sehr umfangreich, und doch bleibt der Band aufgrund der klaren dreigliedrigen Strukturierung in der Abgrenzung von produktions- und rezeptionsästhetischer Perspektive und der dialektischen Zusammenführung beider Ebenen übersichtlich. Es gibt einen Personen-, jedoch keinen Sachindex, der aber aufgrund des detaillierten Inhaltsverzeichnisses hier nicht zwingend erforderlich ist. Eine Zusammenfassung am Schluss gibt dem Leser die Möglichkeit, vorweg das Gesamtkonzept der Arbeit zu überschauen und dann in ein gründliches Studium einzusteigen. Methodisch ist das große Verdienst der Studie – trotz des Schwerpunkts auf den Texten – die Vernetzung von poetischen und bildkünstlerischen Verfahren bei Schwitters sowie die aufgrund detailreicher Recherchen äußerst fundierte Analyse exemplarisch ausgewählter Texte, denen man sich mit Gewinn auch einzeln widmen kann. Wenn Nantke Schwitters’ künstlerisch-poetische Verfahren auf ihre (Un-)Ordnungsstrukturen befragt, wird vor allem eines deutlich: Der wirkliche Gewinner dieser Untersuchung ist der Urheber all dieser verwirrenden Erzeugnisse selbst. Umfassende akademische Studien unterliegen immer der Gefahr, die Beschäftigung mit dem Werk eines Autors als abgeschlossen erscheinen lassen. Nantke gelingt es, die Neugier auf das primäre Werk wach zu halten.

Titelbild

Julia Nantke: Ordnungsmuster im Werk von Kurt Schwitters. Zwischen Transgression und Regelhaftigkeit.
De Gruyter, Berlin 2017.
427 Seiten, 99,95 EUR.
ISBN-13: 9783110521658

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