Unter dem Schleier des Patriarchats

Najem Wali erzählt in „Saras Stunde“ die Geschichte einer Frau im wahhabitischen „Königreich des Staubs“

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Saudi-Arabien und die Herrschaft der Wahhabiten stecken im Umbruch. Nach zaghaften Ankündigungen, die Diskriminierung der Frauen etwas zu lockern, hat das Regime im Mai 2018 wieder Gegensteuer gegeben. Wer die neuen Rechte aktiv beansprucht, gerät in Verdacht der Auflehnung. In diese offene Wunde stößt Najem Wali mit seinem Roman Saras Stunde. Die Protagonistin empfindet die patriarchalische und islamistische Bevormundung als tiefe Demütigung – so sehr, dass sie bereit ist, sich an einem ihrer Peiniger zu rächen. Rigide Verbote, die den Aktionsradius der Frau auf das Haus beschränken wollen, widersprechen  ihrem Bedürfnis nach Freiheit und Lebenslust. Dabei ist Sara keineswegs eine Revolutionärin, ihr Anspruch ist im Grunde bescheiden. Schuldig macht sie sich lediglich in den Augen eines Fanatikers wie ihrem Onkel Scheich Yussuf al-Ahmad, der der berüchtigten „Behörde für die Verbreitung der Tugendhaftigkeit und der Verhinderung von Lastern“ vorsteht. Ihn soll Saras Rache treffen.

Mit seinem Roman blendet Najem Wali in die 1980er und 1990er Jahre zurück. Saudi-Arabien reitet auf der Welle des Öl-Booms, als der irakische Diktator Saddam Hussein den ersten, zehn Jahre später den zweiten Golfkrieg anzettelt. Sara kommt am 22. September 1980 zur Welt, exakt an dem Tag, an dem irakische Truppen auf iranisches Territorium vorstoßen. Die damit verbundene Tragödie ist das Glück ihres Vaters Ghazi al-Djaassis. An der Ostküste Saudi-Arabiens, in Nachbarschaft zu Bahrain, erzeugt der Krieg einen konjunkturellen Aufschwung. Saras Vater versorgt die amerikanischen Stützpunkte Dammam und Dhahran mit Lebensmitteln, ein Geschäft, das er im Lauf der Jahre auf weitere Stützpunkte ausdehnen kann. Dabei behilflich ist ihm der amerikanische Versorgungsoffizier Daniel Brooks – derselbe, der in Najem Walis Roman Bagdad Marlboro (2014) von einem sadistischen Vorgesetzten in die Mühle der Gewalt getrieben wird. Daniel Brooks verknüpft die beiden Bücher auf diskrete Weise. Während Bagdad Marlboro im Zentrum der Schlacht spielt, konzentriert sich Saras Stunde auf die Rückseite des Krieges, in dessen Schatten die Protagonistin zu einem naseweisen Mädchen und zu einer in die Freiheit verliebten jungen Frau heranwächst. Sie genießt die Verehrung ihres Vaters, ist gewissermaßen sein Glücksversprechen, „weil alles an ihr Freude weckt“. Sara begleitet ihn auf seinen Reisen zu den Militärstützpunkten, auf einem von ihnen besucht sie schließlich eine Schule, in der in den unteren Klassen sogar gemischt unterrichtet wird.

Sara erfährt schon früh, dass das wahhabitische Regime nicht nur einem engstirnigen Paternalismus folgt, sondern auch nach den strikten Gesetzen einer rassistischen Hierarchie strukturiert ist. Mehr und mehr macht sich der Einfluss des eifernden Onkels bemerkbar, der für seine Nichte eine islamistische Erziehung verlangt. In der mädchenhaften Liebe für einen Handwerker erkennt der Eiferer das Schicksal einer verwandten Sara wieder, die deswegen aus der Familie ausgeschlossen wurde. Die arrangierte Ehe mit ihrem Cousin Nassir, dem nicht ideal geratenen Sohn des Eiferers, bietet für alle Beteiligten einen Ausweg. Sara behält ihren Handwerker im Auge und Nassir braucht sich vor ihr nicht seiner versteckten Homosexualität zu schämen. Dennoch bleiben nach einem turbulenten Hochzeitsfest tiefe Wunden zurück.

Najem Wali lässt Sara nicht die Torturen von Zwangsheirat und Gefangenschaft durchlaufen. Die existentielle Tragik seiner Heldin spielt sich weitgehend in ihrem Inneren ab. Sara kann in London leben und sich hier frei fühlen. Dennoch lässt sie die Demütigung durch ihren Onkel nicht los. Gerade deshalb vermag Najem Walis Roman ein nie mit falschen Sensationen spielendes Bild Saudi-Arabiens zu vermitteln – ein Bild notabene, das auf einem Tagebuch beruht, dass der Autor, respektive seine Herausgeberfiktion Harun Wali, von einer jungen Frau erhalten haben will. Der Roman zeichnet ein differenziertes Bild, das die Bruchlinien kenntlich macht, die die saudische Gesellschaft durchziehen. Für die Eiferer im Zentrum der Wüste sind die Küstenbewohner im westlichen Dschidda oder im östlichen al-Chubar, wo der Roman spielt, eine stete Provokation ihrer tristen Gottergebenheit. Der klerikalen Allmacht begegnet selbst im radikalen Saudi-Arabien eine gewisse Ohnmacht vor dem irdischen Streben nach Glück.

Vor allem die frühen Jahre im ersten Teil sind engagiert und mit großer Anschaulichkeit erzählt. Eine leise Ironie, die mitschwingt, hebt Sara heraus aus dem Mittelmaß der vom Wahhabismus vertretenen Lustfeindlichkeit. Für ihren Vater ist sie verbunden mit Freude und, nicht zu vergessen, mit geschäftlichem Erfolg. Im Laufe der Geschichte treten weitere Figuren auf den Plan und drängen die Protagonistin zwischendurch etwas in den Hintergrund. Dem zollt der Roman insofern Tribut, als die Person Saras dadurch an Kontur verliert. Speziell die Londoner Jahre legen einen feinen Schleier über sie. Was ist sie denn insgeheim? Eine Zauberfee, eine Rebellin – oder eine Shopping-Queen in der teuren Regent Street? Auf einmal wirkt sie unreif. Auch das Verhältnis zu Nassir, das trotz des Familienarrangements keineswegs tragisch anmutet, entwickelt sich eigentümlich wolkig. Najem Walis Roman erhält im zweiten Teil etwas Unschlüssiges, das von der spät eingeführten, verschlungenen und etwas bemühten Herausgeberfiktion zusätzlich akzentuiert wird. Gerade deshalb gibt Saras Rache an ihrem Onkel, mit der das Buch beginnt und schließt, auch Rätsel auf. Sara habe sich doch, ist man versucht zu sagen, dessen dreisten Demütigungen weitgehend entzogen. Sie sieht es anders und nimmt dadurch ein Risiko in Kauf.

Die durch Daniel Brooks vermittelte Verbindung zu Bagdad Marlboro offenbart eine Differenz zwischen den beiden Büchern. Dieses fulminante Kriegsopus beeindruckt durch eine der bedrückendsten Schilderungen von Krieg und Gewalt in der aktuellen Literatur. Es erzählt von einer männlichen Welt, die Najem Wali vertraut ist, auch wenn er vor der Einberufung in den Krieg geflohen ist. Saras Stunde dagegen behandelt ein weibliches Thema, das sich dem Autor – notgedrungen – immer wieder auch entzieht. Vielleicht rührt daher, trotz prägnanter Schilderungen, eine gewisse Distanz zum Stoff wie zu seiner Quelle: dem geschenkten Tagebuch einer saudischen Frau, deren weiteres Schicksal gänzlich unbekannt bleibt.

In seinem Nachwort holt sich der Herausgeber Harun Wali alias Najem Wali die Deutungshoheit zurück, indem er die Übergabe jenes Tagebuchs beschreibt und nachzeichnet, dass er etliche Jahre benötigte, um den Roman Saras Stunde zu schreiben.

Titelbild

Najem Wali: Saras Stunde. Roman.
Übersetzt aus dem Arabischen von Markus Lemke.
Hanser Berlin, Berlin 2018.
352 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446258266

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