Bilder einer Jugend
„Dämmer und Aufruhr“ beschreibt Bodo Kirchhoffs langen Abschied von den Eltern und ist das persönlichste und ehrlichste Buch des großen Erzählers
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEin Autor fährt im Oktober an die italienische Ligurien-Küste und mietet sich in einem Hotel ein im selben Zimmer mit Balkon und Meerblick, in dem seine Eltern vor über einem halben Jahrhundert ihre glücklichsten Tage verbracht und diese als Versprechen auf eine hoffnungsvolle und glückliche Zukunft gedeutet hatten. Der „Nachsommer“ ohne richtigen Sommer, den die Eltern erlebten, ist ebenso trügerisch wie der unwirkliche Sommer, den der Sohn über 50 Jahre später erlebt: Es ist kein Sommer mehr, auch wenn die Tage zunächst noch warm erscheinen und sogar das Baden im Meer noch möglich ist. Es ist Nachsaison und eigentlich macht man sich selbst etwas vor, wenn man diese späten Tage im Jahr noch wie einen Sommer lebt. Der Autor, der am Schreibtisch oder auf dem Balkon sitzt und das Leben seiner Eltern und sein eigenes rekapituliert, mit Sprache Erinnerungsbilder einfängt und diese nach ihrem Wahrheitsgehalt befragt, ist Bodo Kirchhoff selbst, aber es ist auch der Erzähler seines Romans. Kein ehrlicheres, erschütternderes und künstlerisch überzeugenderes Buch als Dämmer und Aufruhr hat Kirchhoff bisher geschrieben. Die Erschütterung, das sei vorab gesagt, hängt am wenigsten mit den Schilderungen homoerotischer Erlebnisse oder dem sexuellen Kontakt zu einem seiner Lehrer während der Internatszeit am Bodensee zusammen, über die Kirchhoff ja auch nicht zum ersten Mal – aber tatsächlich hier am ausführlichsten und schonungslosesten – berichtet hat. Dass der Leser gebannt von Seite zu Seite blättert, liegt in erster Linie an Kirchhoffs betörender Sprachmagie und dem erzählerischen Aufbau des Textes.
Die Situation des am Ort des nie mehr erreichten Glückszustandes der Eltern schreibenden Autors wird immer wieder vergegenwärtigt und macht die narratologische Grundstruktur dieses Romans der frühen Jahre – wie es im Untertitel heißt – aus, der eigentlich eine ebenso schonungslose und zartfühlende wie tiefsinnige autobiografische Adoleszenzgeschichte ist. Doch dem Schriftsteller Kirchhoff wird auch sein eigenes Leben, seine eigene Jugend zum Roman, in dem Moment, in dem er das aufzuschreiben beginnt. Die Differenz oder auch Korrespondenz von erzählendem und erzählten Ich ist das eigentliche Thema dieses Romans, das Kirchhoff schon mit dem aus Jean-Paul Sartres Die Wörter stammenden Zitat präludiert: „Was ich soeben geschrieben habe, ist falsch. Ist richtig. Ist weder falsch noch richtig, wie alles, was man über diese Verrückten schreibt, über die Menschen.“ Die Ebene des Erzählens selbst wird daher häufig bemüht und der Erzählvorgang, der sprachliche Umgang mit Erinnerungsbildern und Vergangenheit ständig mitreflekiert. Das kann bisweilen irritieren und auch bei manchen Autoren schiefgehen, bei denen das erzählte Erzählen schlichtweg ein Unvermögen des Erzählen-Könnens kaschieren soll. Bei Kirchhoff ist das nicht der Fall: Wenn der Autor an die „Mittagdämmerstunden der Jahre“ denkt, an die es nur „verwischte Erinnerungen gibt, Bilder von sprachloser Wahrheit, die, in Worte gefasst, eine Brücke zur Wahrscheinlichkeit bilden“, dann fällt der leitmotivisch und variationsreich eingesetzte Satz „Wahrscheinlich ist es so gewesen“. Damit betreibt Kirchhoff aber keine aufgewärmte, epigonale Identitätsbefragung, wie sie schon von Max Frisch in Mein Name sei Gantenbein (1964) durchexerziert worden ist, sondern führt sprachgewaltig immer wieder ins thematische und erzählerische Zentrum seines Romans zurück.
Natürlich schafft das Schreiben über sich selbst in der dritten Person und mit manchmal affektiert erscheinenden Selbstbezeichnungen wie „der Genesende“ oder „der Erwachsene“ eine eigentümliche Distanz zwischen dem schreibenden Autor im Hotelzimmer seiner Eltern und dem Jugendlichen, den er beschreibt. Aber dieses Konzept geht auf und überzeugt durch seine konsistente Einbindung in die schon erwähnten Diskurse, die reflektiert werden: Was ist das Erlebte und was die Erinnerung, was ist authentisches Bild und was Konstrukt, was vermag Sprache davon wiederzugeben? Die erzählerische Konstruktion des Romans birgt auch die an beinahe jeder Stelle durchscheinende Erkenntnis, dass das Leben sich meistens aus Zukunftshoffnungen und Erinnerungen zusammensetzt und die Gegenwart oft genug etwas Unerklärliches, Unwirkliches bleibt. Es geht um eine Wahrheit, die keinen objektiven Anspruch erhebt, auch nicht auf eine Erinnerung, die – wie im Falle der sexuellen Übergriffe des Lehrers – im Nachhinein anklagen, verteidigen oder erklären will. Sie will lediglich darstellen. Und dafür findet Kirchhoff genau die richtige Sprache:
Ein gefühltes Menschenleben liegt zwischen dieser Stunde, die keine war, und dem Schreiben darüber, auch in einem Oktober, und doch sind die Details aus dieser eigenen, unvergänglichen Zeit alle gegenwärtig, nur lassen sie sich nicht erzählen als Märchen von einem der auszog, kein Junge mehr zu sein. Sie lassen sich allenfalls aufzählen, in der Hoffnung, dass sie von dem, der die Erwachsenenkleidung abgelegt hat und so kindlich wie unkindlich erregt den Dingen auf dem Bett entgegensieht, eine Wahrheit wiedergeben.
Dämmer und Aufruhr ist ein autobiografischer Roman der Erinnerung, der eine Jugend als „unendlich scheinende Gegenwart“ atmosphärisch dicht einfängt, die Geschichte einer problematischen Mutter-Sohn-Beziehung und einer Mutter, die monomanisch-melancholisch „Lächeln anstelle von Tränen“ zeigt und zwischen Selbstaufgabe, Lebenslust und Aufmerksamkeitssucht schwankt. Es ist aber auch die Erzählung einer auseinanderbrechenden Ehe, die von sozialen und ökonomischen Gefährdungen geprägt ist und so gar nicht in das Bild des Wirtschaftswunder-Deutschland der 1950er Jahre passen will.
Die 89-jährige Mutter stirbt 2015 und hinterlässt dem Sohn jene Tagebücher, die vielleicht gar nicht für ihn bestimmt waren, auf deren Grundlage er aber überhaupt erst damit beginnt, seine Erinnerungen an die Eltern zu befragen. Da ist zum einen die schwierige Vorgeschichte der Mutter, die im Zweiten Weltkrieg ihren Vater und Verlobten verliert und auf Vermittlung eines befreundeten Zahnarztes ihren kriegsversehrten, beinamputierten Mann kennenlernt. Dieser ist der Vater des Autors, bleibt aber für ihn stets ein Fremder. Zum anderen ist die Kindheit und frühe Jugend vor der Internatszeit am Bodensee auch eine Adoleszenzgeschichte eines norddeutschen Städters in den süddeutschen Gefilden von Kirchzarten und einer ländlichen Umgebung, deren Sozialstruktur und Milieu dem Kind und auch der Familie nicht selten Probleme bereiten. Allerdings birgt der noch weiter entfernte Süden, das Traum- und Sehnsuchtsland Italien, dem so viele Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg verfallen waren, vor allem für die Mutter das Versprechen einer glücklichen und erfüllten Zukunft, die aber – noch nicht einmal begonnen – eigentlich schon zu Ende ist, weil die ökonomisch prekären Verhältnisse es nicht hergeben, diesen Traum in Erfüllung gehen zu lassen. Insofern ist die Ehe- und Familiengeschichte der Eltern auch eine Anti-Geschichte zur deutschen Prosperität in den 1950er Jahren, die auch kaum beachtete Verlierer hervorbrachte.
Den größten Raum allerdings nimmt die Internatszeit des Erzählers und Autors ein, über deren „Kerninformation“, des sexuellen Übergriffs nicht nur schon ausführlich in fast allen Besprechungen geschrieben worden ist, sondern zu der sich Kirchhoff selbst auch Interviews etwa mit der Bunten geäußert hat. Diese Internatszeit literarisiert Kirchhoff aber nicht als voyeuristisch-schummrige Bestätigung kursierender Bilder übergriffiger, erotisch-sexuell aufgeladener Lernanstalten, sondern bewahrt seiner erzählten Hauptfigur gewissermaßen die Würde, indem er eben nicht larmoyant, selbstquälerisch und abturteilend das erzählende Ich über das erzählte Ich dominieren lässt, sondern in merkwürdig zugleich kühler und sinnlicher Sprache auch hier die Erinnerungsbilder und ihre vermeintlichen Wahrheiten immer wieder aufs Neue befragt und so das Ich der frühen Jahre an Kontur gewinnen lässt. Ihm geht es ohne Anklage um die sinnlich-psychischen Begleitumstände der Begegnungen mit dem Sport- und Musiklehrer, der im Roman Herr Gieser heißt, die der damals zwölfjährige als Liebehandlungen empfindet, obwohl bei ihm schon damals die Ahnung mitschwingt, etwas Falsches zu tun. Es hat noch weitere, vielleicht (noch) freiwilligere sexuelle Kontakte gegeben. Aber auch diese sollen nicht als Bekenntnis und schon gar nicht als Anklage verstanden werden. Das Anliegen des Erzählers ist es, diese Erinnerungsbilder mit Inhalt und Deutungen zu füllen und ihre Relevanz und Langzeitwirkung für den Erwachsenen zu markieren:
Nur noch wenige Verzagte lagen im eigenen Bett, alle übrigen suchten das Weite in der Nähe zu einem anderen unruhigen Körper, stillschweigend, linkisch, und doch verwegen, verwegen, ohne es zu wissen – undenkbar, je davon zu erzählen, so falsch und so klein im einen Moment und so erfüllend richtig, übergroß, im nächsten erschien einem alles Geschehen in diesen Nachtstunden, im Grunde das Entdecken der Gegenseitigkeit, letztlich des Liebens. Erst viele Jahre später wurde einem der Beteiligten klar – ich war längst erwachsen mit Steuernummer –, dass damals falsch und richtig, klein und groß, in diesen Stunden gar nichts gegolten hatten, weil es mythische Stunden waren.
Das Wichtige an Kirchhoffs neuem Roman ist nicht die Tatsache, dass wir nun – nach Christian Kracht – auch von ihm genauer Bescheid wissen über die erotisch-sexuellen Prägungen und Abgründe der frühen Jahre. Entscheidend ist die sprachliche und erzählerische Gestaltung dieses Themas und anderer Aspekte. Denn diese sprachliche Erinnerungsarbeit ist auch immer ein Auf-Schreiben im Angesicht des Todes, wenn der Erzähler bei seinen erzählten Figuren im Rückblick konstatiert, wie viele Jahre sie von da an oder von einem anderen erzählten Zeitpunkt aus noch zu leben haben. Der Trennungsschmerz, die Trauer über verlorene Liebe, nie mehr erreichte Freiheit und der Verlust geliebter Menschen bilden das Affektrepertoire, das dieser Roman ebenfalls literarische einfängt und problematisiert. Die Erlebnisse im Internat sind da nur ein Teil eines vielschichtigen Gefühlshaushaltes. Fast am Ende des Textes ist es auch gerade eine aus der Erinnerungsarbeit hervorgegangene lapidare Einsicht, die nicht zuletzt Kirchhoffs Umgang mit seinen Jugenderlebnissen im Nachhinein noch einmal erklärt: „Und was sind schon Schmerzen, die man erleidet; schlimmer sind die, die man zufügt.“
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