Franziska zu Reventlow und die Psychoanalyse

Ein Überblick mit Dokumenten

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Vorbemerkung der Redaktion: Die folgenden Informationen und Dokumente, die wir hier zum 100. Todestag von Franziska zu Reventlow veröffentlichen, sind mit geringfügigen Modifikationen einem Teil des Kapitels „Franziska zu Reventlow“ entnommen, erschienen in dem Band: Psychoanalyse in der literarischen Moderne. Eine Dokumentation. Band III: Schriftstellerinnen und das Wissen um das Unbewusste. Hg. von Christine Kanz. Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2011. S. 63-93.

Überblick

Die Schwabinger Bohemienne Franziska zu Reventlow (18. Mai 1871–26. Juli 1918) machte 1907 die Bekanntschaft mit dem eigenwilligen Freud-Schüler und Sexualpsychologen Otto Gross (1877–1920) und war eng befreundet mit seiner Ehefrau Frieda Gross (1876–1950). In ihren Tagebüchern berichtet die Schriftstellerin über Treffen mit beiden. Der jüdische Anarchist und Literat Erich Mühsam (1878–1934) schrieb später, er habe Gross und Reventlow miteinander bekanntgemacht. (Vgl. Mühsam 1929, S. 315) Um 1909/10, als Reventlow sich in einer Situation großer finanzieller Schwierigkeiten befand, soll Gross ihr eine psychoanalytische Behandlung angeboten haben. Diese Offerte nahm sie jedoch nicht an. Über den Versuch des jungen Kulturrevolutionärs und Psychoanalytikers, die eigenwillige Bohemienne und Schriftstellerin zu analysieren, soll diese später Mühsam erzählt haben, „worüber alles sie Auskunft hätte geben sollen. Sie hatte den Doktor ausgelacht und ihn gefragt, ob er denn wirklich meine, von sehr vielen seiner Patienten die Wahrheit zu hören, worauf er antwortete, das sei gar nicht nötig, niemand lüge außerhalb seines Charakters, und gerade, wie jemand lüge, zeige, wie er assoziiere.“ (Mühsam 1929, S. 315) Das Verhältnis zwischen Reventlow und Gross gestaltete sich in den Erinnerungen Mühsams folgendermaßen: Er „wollte der Gräfin helfen, indem er in seiner genialen und faszinierenden Art alle ihre Sorgen und Leiden als Wirkung seelischer Komplexe bewußt zu machen und dadurch aufzulösen suchte, [der Nationalökonom Edgar, C.K.] Jaffé bot ihr eine Stellung als Privatsekretärin an. Sie schwankte zwischen den starken Eindrücken der Psychoanalyse, die sie übrigens zugleich sehr lustig ironisierte und der Aussicht, eine feste Existenz zu erhalten, auf der einen Seite, andererseits einem Angebot, in Paris als Kassendame bei einer Kunstausstellung eine Stellung anzunehmen, die ihrem Erlebnisdrang einigermaßen entgegenkam, hin und her. Sie entschloß sich endlich zu Paris.“ (Mühsam 1977, S. 152) Dabei stimmte sie mit Gross in grundsätzlichen Anschauungen überein. Zu ihnen war sie freilich, ähnlich wie Mühsam, schon vorher, ohne Kenntnis seiner Theorien, gelangt. Alle drei waren sie Freiheitsfanatiker, gerade auch, was das Gebiet der Sexualmoral anging. Damit standen sie Anfang des 20. Jahrhunderts freilich ganz und gar nicht alleine da. Die Überwindung von tradierten Moralvorstellungen und den konventionellen, als rigide und sogar pathogen erachteten Konzepten von Sexualität, Ehe und Familie, wie Gross sie vehement einforderte, kam sowohl dem Zeitgeist entgegen als auch politischen Konzepten, wie sie etwa von Anhängern der anarchistischen Gesellschaftslehre (u.a. von Mühsam) vertreten wurden. Gerade innerhalb der freigeistigen Lebensreformer- und Boheme-Kreise, in denen Reventlow sich bewegte, wurde versucht eine von jeglichen Besitzansprüchen befreite Sexualität zu praktizieren. Der Psychoanalytiker Gross, so Mühsam, „sah in der zum ethischen Vorzug gestempelten Ausschließlichkeit der Liebe den wichtigsten Faktor seelischer Verdrängungen, darum eine unreine Quelle hunderterlei Selbstquälerei und gegenseitiger Lebensvergiftung mit der Folge von Hysterie und übelsten psychogenen Wirkungen“. (Mühsam 1929, S. 315) Die Schriftstellerin Reventlow hingegen sei „auf keinerlei theoretischen Wegen, wohl aber durch ihre kluge und unbefangene Lebensart zu genau denselben Anschauungen gekommen.“ Es sei „aus ihren Tagebüchern hinlänglich bekannt, wie wenig sie sich in ihrer eigenen Daseinsführung um das Urteil der gestempelten Moral kümmerte.“ (Mühsam 1929, S. 315) Dass Reventlow die Prämissen der Psychoanalyse bei der tieferen Durcharbeitung bereits vorhandenen Gedankenmaterials halfen, zumal was sexualmoralische Vorstellungen anging, und dass sie sie sogar darin bestärkten, eine Art Selbstanalyse zu betreiben, legen Kommentare wie folgender nahe, wiederum von Mühsam, der überhaupt als einer der wichtigsten Zeitzeugen gelten darf, was das Verhältnis Reventlows zur Psychoanalyse angeht: „Als ich einmal wieder mit der Gräfin über den Gegenstand, der gerade durch die Lehren der Psychoanalytiker damals die Gemüter der Schwabinger Boheme dauernd beschäftigte, sprach, fragte ich sie, ob sie, auch wenn sie verliebt sei, sich völlig von eifersüchtigen Empfindungen freihalten könne. Da meinte sie: das ist eine Sache der Selbsterziehung. Das Gefühl der Eifersucht komme aus verletzter Eitelkeit. Man brauche sich aber nur selbst zu kontrollieren, um zu erkennen, dass ein Wechsel in der erotischen Hinneigung nicht die geringste Herabsetzung des bisher Geliebten bedeute, und dass erst recht bei der Gleichzeitigkeit mehrerer Beziehungen gar keine Wertvergleichung stattfinde. Habe sie in früheren Jahren aus einfachem Taktgefühl keine Eifersucht merken lassen, so habe sie später die Fähigkeit in sich entwickelt, derartige Empfindungen als minderwertig und unwürdig gar nicht mehr aufkommen zu lassen.“ (Mühsam 1929, S. 316)

Wie groß Reventlows Wissen um das Unbewusste tatsächlich war, inwieweit sie sich mit diesen und anderen Theorien Gross’ konkret auseinandersetzte, ob etwa seine psychoanalytischen Texte (oder auch die anderer Psychoanalytiker) zu ihrer ansonsten offenkundig reichhaltigen Lektüre zählten und welche dies dann genau waren, oder ob es lediglich die Vermittlung der zirkulierenden Begriffe und Konzepte durch andere war, die ihr zu psychoanalytischem Wissen verhalf, wie weit dabei letztlich ihr Verständnis der Psychoanalyse wirklich reichte – all dies ist heute kaum mehr genau zu ermitteln.

Ihre literarischen Texte jedenfalls zeugen von einem ironisch-distanzierten Interesse an der Psychoanalyse. Deren zentrale Gedanken werden in ihrem autobiographisch inspirierten Roman Der Geldkomplex durch die Protagonistin sogar regelrecht parodiert. Der 1916 erschienene Roman besteht aus fünfundzwanzig Briefen einer fiktiven Briefeschreiberin, die zahlreiche Charakteristika mit Reventlow teilt und über Ereignisse berichtet, wie sie Reventlow selbst erlebt hatte (vor allem den finanziellen Ruin). Sie sind an eine Freundin namens Maria gerichtet und enthalten spöttisch-ironische Situationsberichte aus einem Nervensanatorium, in dem sich die (betont naive) Heldin angeblich zwecks psychoanalytischer Heilung eines „Geldkomplexes“ aufhält, ein als Freudscher Komplex eingestuftes Leiden, das zugleich auf den finanziellen Ruin Reventlows im Jahre 1909/10 anspielt. Der Begriff gibt nicht unbedingt einen Terminus der psychoanalytischen Komplexlehre wieder, auch wenn Freud selbst den Begriff „Geldkomplex“ bereits 1908 in seinem Aufsatz über Charakter und Analerotik gebraucht hatte. (Freud 1973, S. 28) Er könnte ebenso gut eine rein assoziative Bildung sein, mit der Reventlow ihr problematisches Verhältnis zum Geld ironisiert. Gegen Letzteres spricht, dass die Protagonistin selbst zwar nicht dem von Freud in diesem Zusammenhang beschriebenen „Analcharakter“ entspricht (Freud 1973, S. 29), jedoch über dessen typische Charakterzüge informiert zu sein schien. Für eine bloße Wortneuschöpfung hingegen spricht, dass Reventlows autobiographische Texte, so wie auch ihre Tagebücher und Briefe, von unzähligen selbstironischen Wendungen und auch von Neologismen durchzogen sind. Parodiert werden ebenfalls immer wieder die Vertreter der Psychoanalyse: Die Figur Baumann, die in dem Text Geldkomplex ironisch als „Freudianer“ vorgestellt wird und deutliche Züge von Otto Gross trägt, ist es, die den ewigen Geldproblemen der weiblichen Hauptfigur tiefenpsychologisch auf den Grund gehen will. Sie hingegen macht sich fortwährend über ihn lustig und führt ihn regelrecht als ‘komische Figur’ vor. Dabei dürfte gerade Gross es gewesen sein, mit dem Reventlow von allen Psychoanalytikern am meisten übereinstimmte und der sie in ihren eigenen Überzeugungen bestätigte: Gross’ Aufrufe zur sexuellen Immoralität, die sich gerade an die verheiratete Frau richteten, deren Individualität seiner Meinung nach durch das in der Institution Familie herrschende Vaterrecht in Ketten geschlagen werde und deren unterdrückte Sexualität sich in Krankheit artikulieren müsse (vgl. Gross 1982, S. 150), wurden etwas später (1913) veröffentlicht als Reventlows autobiographisch gefärbte Amoureske Von Paul zu Pedro (1912). Sie waren ihr jedoch sicherlich schon vorher aus Gesprächen mit ihm oder über ihn bekannt und dürften sie, wenn nicht angeregt, so doch darin bestärkt haben, ihre Amoureske zu schreiben und auch zu veröffentlichen.

Die Verspottung des psychoanalytischen Jargons und die Ironisierung zentraler Gedanken der Psychoanalyse (die Verdrängung der weiblichen Sexualität, die Zentralität von Kindheitserlebnissen, die Traumdeutung, die während der Analyse notwendige Durcharbeitung zurückliegender traumatischer Erlebnisse) in ihrem Roman Geldkomplex sowie die Literarisierung der Erfahrungen mit Otto Gross (Figur Baumann) darin lassen insbesondere diesen Text zu einem wichtigen Zeitdokument werden, das auch als Beitrag zur literarischen Geschichte der Psychoanalyse und ihrer Kritik gewertet werden kann. Der neomarxistische Philosoph Ernst Bloch (1885–1977) erwähnte Reventlows ironische Verwendung des Wortes „Geldkomplex“ später beifällig in einem sozialkritischen Verriss der Psychoanalyse, in dem er vor allem den Umstand monierte, dass Freuds Analysanden meist aus der (gehobenen) Mittelschicht kamen und es sich bei ihren ‘Sorgen’ nicht um existentielle handelte, sondern um ‘Wohlstandssorgen’, an denen Freud verdiente. (Vgl. Bloch 1976, Bd. I, S. 72f.)

Die Erwähnung der wichtigsten Elemente der Freud’schen Psychoanalyse, die damals noch nicht wie heute zum popularisierten Wissensbestand gehörten, sowie die offensichtliche Übereinstimmung mit den zentralen Prämissen von Gross, lässt insgesamt auf eine Auseinandersetzung Reventlows mit der Psychoanalyse schließen, wobei offen bleiben muss, ob es sich bei ihr um eine direkte (eigene) oder eher um eine (über andere) vermittelte Rezeption handelt und inwieweit eine gleichzeitige Emergenz gleichartigen Wissens innerhalb ähnlicher kultureller und historischer Kontexte eine Rolle spielte. Fundierte theoretische Auseinandersetzungen mit der Psychoanalyse, wie sie etwa bei Lou Andreas-Salomé vorliegen, finden sich in Reventlows Werk nicht, auch nicht in ihren Essays. Die spielerisch-ironische Distanziertheit, mit der sie psychoanalytische Konzepte in ihren Texten behandelt, spricht von einer gewissen Souveränität gegenüber der Psychoanalyse und zugleich von einer Faszinationsgeschichte.

Dokumente

Aus dem Tagebuch (Rückblick, Ende Juli 1907)

[…] Complotte mit Mühsam für Ascona, […] noch eine Bummelwoche, dazwischen sentimentales Auftauchen von Belami, dem ich mich fur 200 M. anbiete, der aber thut als nähme er’s für verwegnen Scherz und nur mit meinem Hausschlüssel durchgeht. Bekanntschaft mit Gross’s […].

Samstag, 13 nachmittag im Café mit Gross, Lang etc. […]

Anmerkungen:

Druckvorlage: Reventlow 2006, S. 471f. Erstdruck: Reventlow 1925, S. 437.

Mühsam: Gemeint ist Erich Mühsam (1878-1934), Dichter und Anarchist.
Gross: Gemeint ist Otto Gross (1877-1920), der in Boheme-Kreisen gefeierte Freud-Schüler, Psychoanalytiker, Gelehrte und Philosoph.

Aus dem Tagebuch (Rückblick, Ende Juli 1907)

[…] Ein Gedanke zum Wahnsinnigwerden – wenn ich jetzt gestorben wäre u. er allein mit seinem Herzen. Ich muss leben, bis er gross ist – und ich weiss doch dass das Leben manchmal wahnsinnige Widersinnigkeiten macht. Warum soll es mich damit verschonen? – Es muss.

Ich fühle mich wieder entsetzlich jung und finde mich hübsch. Dr. Gross sagt, ich hätte den Zug gewaltsamer Selbstbeherrschung verloren u. sähe viel weicher aus.

Das ist ja immer meine Angst, etwas Hartes Scharfes zu bekommen, was ich so hasse. Weil es aufgezwungen ist, mein inneres ich ist ja lauter Weichheit [.]

Anmerkungen:

Druckvorlage: Reventlow 2006, S. 475. Erstdruck: Reventlow 1925, S. 440.

Franziska zu Reventlow an Franz Hessel (1. April 1911, Ascona)

[…] Adam kämpft immer noch mit meinem Hausherrn um meine Möbel, die inzwischen an ihren eigentlichen Bestimmungsort, die Pfandkammer, gewandert sind, und der Verlag Axel Juncker protestiert gegen das Erscheinen von „Ellen Olestjerne“, weil ich ihm bisher die Restexemplare noch nicht abgekauft habe. Und ich habe das angenehme Gefühl, daß sich die andern zerfleischen ohne mich. Hier vergiftete sich inzwischen ein Mädchen, das mit Dr. Gross hier war, und das war große Panik, Prozesse etc. Auch Bubi fängt schon an, von Unterbewußtsein zu reden. Na ja, Franzl, Ascona gehört entschieden zur Biographie, aber ich sehe vom Turm aus Locarno und die Ecke, wo die Bahn in die Welt hinausgeht, und es wird sehr schön sein, nach einem faulen Sommer da hinaus zu fahren.

Die Briefe an Franzl wachsen schon in meinem Unterbewußtsein, und so wie ich Zeit habe, wird es sehr schnelle gehen.

Anmerkungen:

Erstdruck: Reventlow 1928, S. 184.

Franziska zu Reventlow an Paul Stern (Ende Januar 1912, Ascona)

Lieber Stern –

Verzeihen Sie, daß ich erst heute auf Ihren lieben Brief antworte, ich habe so entsetzlich viel zu nähen etc., um nur halbwegs bekleidet von Ascona herauszukommen, daß ich zu gar nichts mehr komme. […]

Ich muß fort, denn in ein paar Monaten würde ich wieder nicht mehr Geld genug haben um wegzugehen. Es geht zwar jetzt auch nur kaum, aber ich möchte doch einmal wieder den Sprung ins Freie tun. Momentan wird’s mir sogar sehr schwer, ich habe mich hier eingewöhnt und die einzigen aber sehr netten zwei Leute, die es hier gibt, werden mir fehlen. Es sind Frau Dr. Gross und ein Herr Frick.

Anmerkungen:

Erstdruck: Reventlow 1975, S. 533f.

Paul Stern: Privatgelehrter und Philosoph (1869–1933), den Reventlow als Dr. Sendt in ihrem Schlüsselroman Herrn Dames Aufzeichnungen porträtiert.

Frick: Gemeint ist der Schweizer Maler Ernst Frick (1881–1956). Als Anarchist bekannt, war er in eine Zürcher Bombenaffäre verwickelt und wurde später zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Er war längere Zeit mit Frieda Gross liiert, der Ehefrau von Otto Gross.

Aus Franziska zu Reventlow: Der Geldkomplex (1916)

Meine liebe Maria!

[…] Sanatorium – – – ich seh’ Dich und mit Dir alle die anderen verständnislos den Kopf schütteln. Ich bin auch nicht nervenkrank, nicht einmal besonders nervös, ich habe nur einen „Geldkomplex“. – – – –

Ich hoffe zu Gott, Du weißt was ein Komplex in diesem, nämlich im pathologischen, Sinne bedeutet? Etwa so: verdrängte, nicht ausgelebte Gefühle, Triebe und dergleichen, die sich, ich glaube, im Unterbewußtsein zusammenballen und einem seelische Beschwerden verursachen. Es handelt sich da um irgendeine neue Nervenheilmethode, die man Psychoanalyse nennt. Erfunden hat sie der bekannte Professor Freud in Wien – dies nur, damit du verstehst, weshalb ihre Anhänger „Freudianer“ heißen. Man möchte sonst glauben, es bedeute irgend etwas besonders Lustiges oder gar Zweifelhaftes.

[…] Ich selbst hatte auch bisher von diesen Geschichten keine Ahnung, und würde mich absolut nicht dafür interessieren – wenn nicht ein „Freudianer“ meinen Geldkomplex entdeckt hätte. – – […]

Eben an jenem Morgen traf ich dann einen mir flüchtig bekannten Nervenarzt, einen „Freudianer“. Ich wollte mich unbefangen mit ihm unterhalten, konnte aber aus meinem Gedankengang nicht mehr herauskommen. Er wurde aufmerksam, interessierte sich, tat alle möglichen Fragen, dann blieb er mitten im Wege stehen, sah mich enthusiastisch an und stellte fest: ich litte an einem schweren Geldkomplex, und den könne man nur durch psychoanalytische Behandlung heilen, die er am liebsten selbst übernehmen wollte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs schlug er mir vor, ich solle mich einstweilen in die Anstalt seines väterlichen Freundes, Professor X., begeben, er selbst habe die Absicht, seine Ferien dort zu verbringen, und werde also nachkommen. Dem Professor X. möchte ich nur um Gottes willen nicht von der geplanten Behandlung sagen, denn er sei ein erbitterter Gegner alles Freudianertums. Ich könnte mich ja auf irgendeine fixe Idee hinausreden und ein wenig simulieren.

Anfangs war ich etwas unschlüssig und ziemlich erschrocken über den Gedanken, mit einer pathologischen Sache behaftet zu sein. Das heißt, ich hatte wohl selbst schon geahnt, daß es nicht mehr ganz richtig mit mir war. Andererseits aber hatte der Gedanke, diesen Zustand wieder loszuwerden, vieles für sich – das fürchterliche Rechnen und die beständigen Geldgedanken mußten mich binnen kurzem ganz zugrunde richten. Wenn es in dieser Weise fortging, war ich sowieso nicht imstande, mich ernstlich mit der Ordnung meiner Angelegenheiten zu befassen. […]

Ich war noch nie in einem Sanatorium und habe noch nicht recht heraus, wie man sich hier zu benehmen hat. Der Professor nahm mich natürlich eingehend ins Verhör, und ich war in einiger Verlegenheit, was ich ihm sagen sollte. Da ich nun am ersten Abend meine Mitpatienten ziemlich unsympathisch fand, gab ich an, ich litte an krankhafter Menschenscheu – so konnte ich mich doch wenigstens ruppig benehmen, wenn mir die Leute ernstlich auf die Nerven fielen. Aber er meinte, dann wolle er mich lieber vorläufig isolieren. Ich sollte die Mahlzeiten alleine auf meinem Zimmer nehmen usw. – Nein, um Gottes willen, das wollte ich nicht – zuviel Alleinsein mache mich vollends verrückt. – Nun, er wolle mir gern möglichste Freiheit lassen, soweit ich nicht störend auf andere einwirkte, etwa die Abneigung gegen meine Mitmenschen in auffallender Weise äußern sollte. Nein, nein, das würde ich ganz gewiß nicht tun – sagte ich voller Überzeugung – er sah mich daraufhin ganz erstaunt an und schüttelte den Kopf. – Pause – angestrengtes Nachdenken. Dann beklagte ich mich über Schlaflosigkeit, Depressionszustände und was mir gerade in den Sinn kam. – Wie sich die äußerten – nämlich die Depressionen – ob ich etwa oft und ohne Grund Neigung zum Weinen fühle? Darüber fiel ich wieder aus der Rolle und mußte über dieses merkwürdige Ansinnen herzlich lachen. Aber er hielt das, Gott sei Dank, für nervös, legte mir väterlich die Hand auf die Schulter und meinte, ich hätte am Ende irgendwelche schwere seelische Erschütterungen durchgemacht – – ach du lieber Gott, auch ohne den Geldkomplex zu erwähnen, konnte ich ihm doch nicht gut sagen: ja, gewiß – aber sie lagen ausschließlich auf pekuniärem Gebiet – ich war mein Lebenlang allen menschlichen und seelischen Konflikten gewachsen, nur den wirtschaftlichen nicht. Weder glückliche noch unglückliche Liebe, weder Ehe noch Ehebruch, sondern ausschließlich Gläubiger, Hausherrn und Lieferanten haben es dahingebracht mich psychisch zu zerrütten. – – – […]

Du mußt wissen, daß die Freudianer sich im Interesse der Patienten auch mit Traumdeutung befassen. Dies war jedenfalls ein richtiger Komplextraum und ich habe ihn mir deshalb notiert, um für Baumann Material zu sammeln. Womit soll ich ihn sonst beschäftigen?

Vorläufig behandelt mich der Professor nach der hier üblichen Methode mit Tageseinteilung, Ruhestunden, Bädern, Wickeln und dergleichen mittelalterlichen Foltern. Es ist zum Gottserbarmen, und ich möchte wissen, ob die Leute ihre Seelenchoks, oder Depressionen wirklich dadurch loswerden. Auf mich wirkt es gerade umgekehrt, ich fange jetzt erst an nervös zu werden. […]

Angstzustände, nervöse Herzgeschichten, Idiosynkrasien, Neurosen und Psychosen, die in diesem Milieu zum guten Ton gehören, sind mir bisher böhmische Dörfer gewesen, aber ich lerne doch allmählich mich sachverständig darüber unterhalten. […]

Nach meinem Gefühl wären fast alle Psychosen in erster Linie mit Geld zu heilen. Hätte der rebellische Pfarrerssohn Geld, so brauchte er weder zu seiner Familie zurück, noch eine neue Weltanschauung, sondern würde sich nach Herzenslust amüsieren und da schon ein Glas Wein und ein bißchen Geschwätz ihn wieder aufleben läßt, bald geheilt sein. – Der Landmann könnte um die Welt reisen und über den Wundern der kalifornischen Schweinezucht seinen Trübsinn vergessen. Auch die Witwe möchte sich sicher über den unverbesserlichen Baulöwen trösten, wenn er ihr ein anständiges Vermögen hinterlassen hätte. Aber das sieht wohl kein Nervenarzt ein und es nützt ja auch nichts, wenn er es einsähe. Man kann nicht von ihm verlangen, daß er seine Patienten auch noch finanziert. – – – […]

Was hab’ ich? – er [Henry, ein Mitpatient und von Beruf Spekulant, C.K.] wußte nur von Häuserkomplexen, Baukomplexen, Terrainkomplexen. Ich erklärte es ihm, so gut ich konnte, und fürchtete beinahe, er möchte es übelnehmen, aber er stürzte sich förmlich darauf, wie auf eine neue Spekulation. Vielleicht berührte es ihn auch wie ein heimatlicher Klang, eben weil er beständig mit seinen Häuser-, Bau- usw. Komplexen zu tun hat. Aber dieser Mann hat viel mehr Illusionsfähigkeit als ich, er fand die Möglichkeit einer Heilung durch Analyse ganz einleuchtend, und will meinen Freudianer unbedingt kennen lernen, sobald er kommt. Das ist mir ganz recht, so kann ich mich vielleicht um die Behandlung drücken, zu der ich schon längst keine Lust mehr habe. […]

Recht ungeschickt kam gerade in diesen Tagen Doktor Baumann, der Freudianer, hier an. Ich hoffte, er sei selbst etwas erholungsbedürftig und würde sich erst ausruhen wollen. Aber nein, er brennt vor Tatendurst und wollte mich sofort seiner Analyse unterziehen. Ich meinte darauf, wir sollten jetzt doch lieber die Entwicklung der Dinge abwarten, dann wäre es vielleicht gar nicht mehr nötig, aber er läßt sich nicht überzeugen. Im übrigen ist er sehr nett, und man freut sich hier über jeden Zuwachs von Gesellschaft, so muß ich denn wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und mich von ihm behandeln lassen. Nachdem er mich hier untergebracht und akkreditiert hat, ich mich außerdem andauernd schlecht benehme und dem Professor ein Dorn im Auge bin, kann ich jetzt unmöglich sagen: Lassen sie mich in Ruhe, ich halte Ihre Behandlung für einen Schmarrn und bin mehr wie je überzeugt, daß mein Leiden nur durch positives Geld zu heilen ist. […]

Ich fand es anfangs ganz hübsch und stilvoll, einen Komplex zu haben, man konnte vor sich selbst und anderen sich immer darauf berufen, anstatt einfach zu sagen: ich bin verzweifelt, außer mir, schlechter Laune usw. Aber ich finde es hart, sich nun deshalb so anstrengen zu müssen, und es ist wirklich ein Stück Arbeit, bis man all diese verwickelten Sachen begriffen hat. […] Wie schon die Bezeichnung Psycho-Analyse sagt: man analysiert die Psyche, wie wir einst in der Schule deutsche Grammatik analysierten, ohne jemals zu begreifen, wozu das gut sei. In diesem Fall analysiert natürlich der Arzt, und man hat nur darauf einzugehen. Er fragt, fragt und fragt, und ich soll nur antworten, aber eben das ist gar nicht so leicht.

Die Komplexe kommen angeblich dadurch zustande, daß man die betreffenden Dinge, Gedanken, Wünsche und ähnliches von sich weggeschoben, mit dem technischen Ausdruck verdrängt hat, natürlich immer ins Unterbewußtsein. Das lassen sie sich unter Umständen nicht gefallen, sondern brechen aus und toben dann im Oberbewußtsein herum.

Nun ist er beständig unzufrieden, weil ich nicht das antworte, was er möchte. Er begann seine Erörterung damit, fast jeder Komplex beruhe auf verdrängter Erotik, – mir schien, als erachte er ihn nur dann für vollwertig, und wollte auch in meinem Falle versuchen, ihn auf diesen Ursprung zurückzuführen. Etwa so: wenn jemand sein ganzes oder halbes Leben lang vor allem nach Geld trachtet, muß er viele andere, lebendigere Regungen, wie vor allem die erotischen, unbedingt verdrängen…

Daß ich in der Verdrängung der „Erotik“ Erhebliches geleistet habe, konnte ich nun wirklich beim besten Willen nicht behaupten … im Gegenteil, es wäre mir und meinen Finanzen sicher besser gewesen, ich hätte es mehr getan. Die Sache stimmte also nicht, und wir konnten uns nicht recht einigen. Ich mußte ihm dann einiges über meinen Lebensgang sagen, was ihn wiederum enttäuschte, denn er konnte mir durchaus nichts Anormales, Psychotisches, Neurotisches, und wie das alles heißen mag, nachweisen. Wieder mein altes Pech, daß ich zu unkompliziert bin, es wird einem in so manchen Kreisen und Lebenslagen übelgenommen, besonders wenn man erst Hoffnungen auf das Gegenteil erweckte.

Was für eine Rolle das Geld in meiner Kindheit und ersten Jugend gespielt hätte?… Auf diese Zeit sollen die meisten „Komplexbildungen“ zurückgehen. Gar keine, absolut gar keine… du weißt, es gibt interessante Kinder, die stehlen oder schwindeln, ohne es nötig zu haben, zum Beispiel Scheine entwenden und in Gold umwechseln, um damit zu spielen, aber ich fand nichts Derartiges in meinen Erinnerungen. Wir hielten es als Kinder für überflüssig und armeleutehaft, sich um Geldfragen zu bekümmern, und sahen verächtlich auf andere herab, die gegenseitig das Vermögen ihrer Eltern taxierten und darüber Bescheid wußten. Und späterhin war es eigentlich dasselbe: Geldnot?… Das kann doch nicht Ernst sein… und selbst welches herbeischaffen müssen? Ein schlechter Scherz, zu dem man gute Miene macht, solange er nicht überhand nimmt….

„Und mit starken Unlustgefühlen verknüpft?“ schaltete der Doktor ein.

„Allerdings!“

Gut, er kam allmählich auf die Spur. Es war eben umgekehrt, als wie er anfänglich gemeint hatte. Das Geld selbst war verdrängt worden, nicht die anderen Dinge, und ich war also doch etwas anormal. Gott sei Dank, ich hab’ so gern, wenn die anderen mit mir zufrieden sind.

Man stellte also einen Geldkomplex in absoluter Reinkultur fest, mit Erotik hatte es gar nichts zu tun. Dann ging es ungefähr so weiter, daß in den meisten Fällen durch nervöse, in meinem durch akute finanzielle Erkrankung die einst verdrängten Dinge plötzlich bewußt und nun „überbetont“ werden (siehe wirtschaftliche Krisis). Mir wurde ganz elend dabei, all diese Erinnerungen wieder aufzuwühlen, aber es half nichts, – die Vorgänge, die den Komplex bewirkt haben, müssen reproduziert, d.h. noch einmal bewußt erlebt werden, damit der Arzt sie einem dann ausreden kann.

Dann fing ich meinerseits an zu fragen. „Wenn nun die Erbsache doch noch schief ginge – man kann ja nie wissen, – wie soll ich mich dann mit dem Professor auseinander setzen? Glauben Sie, daß er sich als Gläubiger…“

„Aha, da haben wir die für den Komplex charakteristischen Angstvorstellungen,“ sagte Baumann befriedigt.

„Ja, und die habe ich auch in bezug auf Sie…“

„Auf mich?“

„Natürlich… Sie haben doch hier gewissermaßen die Verantwortung für mich übernommen, und offen gesagt, mich plagt der Gedanke, daß Sie damit hereinfallen könnten, wenn…“

Er hat sich dann ausführlich nach der Erbschaft und ihren näheren Umständen erkundigt, und man vertiefte sich so in dieses Thema, daß es zu spät wurde, um mit der Behandlung fortzufahren.

Aber unerbittlich nimmt er mich jeden Tag eine Weile vor… Es ist ein Kreuz, und ich muß doch tun, als nützte es etwas. Die Heilung soll nämlich dadurch geschehen, daß man dem Patienten eine andere Einstellung gibt. Bei mir gibt es nur zwei Möglichkeiten, und man braucht eigentlich keinen Psychiater, um das einzusehen. Nämlich entweder müßte man die durch Faulheit, Bequemlichkeit usw. verdrängte Energie wieder mobil machen und auf irgendeine zweckmäßige Weise zu Geld kommen, oder aber sich darauf einstellen, es unwichtig zu finden und entbehren zu können… Das ist natürlich nur ein unvollkommen wiedergegebener Extrakt, im Munde des Arztes klingt es ganz schön, ausführlich, umständlich und einleuchtend. Aber was soll man damit anfangen, das alles kann ich mir ebensogut selbst vorerzählen und ändere doch nichts damit.

Lieber schwätze ich über andere Sachen mit ihm und hetze ihn und Henry möglichst aufeinander. Henry kann es viel besser wie ich, er nimmt es mit ähnlichem Ernst wie seine Spekulationen. Ich habe das Gefühl, daß er nach allen Seiten hin erwägt, wie man ein zerrüttetes Nervensystem sanieren, etwas Neues darauf gründen oder einen unhaltbaren inneren Zustand liquidieren könnte.

Genug und übergenug davon. Ich fürchte, sonst entdeckt Ihr gar noch Eure eigenen Komplexe und wollt immer mehr darüber wissen. Und ich bin doch schließlich nicht im Sanatorium, um über die Qualen, die ich hier ausstehen muß, auch noch Abhandlungen zu schreiben. […]

Lukas [Mitpatient und ein Nationalökonom, Privatdozent, Reformer, C.K.] warf einen Blick gen Himmel. Das ist ihm schon ganz zur Gewohnheit geworden, sobald er Henry reden hört. „Wollen Sie sich nicht bald einmal von Doktor Baumann analysieren lassen, lieber Henry?“ fragte er.

„Oh, wir haben schon damit angefangen.“

„Findest du, es nützt etwas?“ fragte ich beklommen. Gerade als er sich darüber auslassen wollte, kam Baumann selbst, und Lukas wandte sich sofort an ihn.

„Ich bin, wie Sie wissen, nur Laie,“ sagte er, „die Psychiatrie ist ein Gebiet, das mir völlig fern liegt. Gelingt es Ihnen aber, diese beiden Herrschaften zur Vernunft zu bringen, so gehöre ich von Stund’ an zu Ihren fanatischen Anhängern und mache enorme Propaganda für Sie (Lukas ist dort, wo er doziert, eine einflußreiche Persönlichkeit und hat glänzende Beziehungen. Baumann brennt darauf, Karriere zu machen und selbst eine Anstalt zu übernehmen, wo nach seiner Methode wunderbare Heilungen gemacht werden).

Er, Baumann, lächelte so geschickt, daß keiner der Beteiligten sich verletzt fühlen konnte, Henry aber meinte:

„Besser, Sie lassen sich erst einmal von mir gründen, ich habe da von einer verkrachten Aluminiumgesellschaft einige Terrains an der Hand, die sich ungemein billig stellen würden, und die Aktionäre haben wir bald beisammen. Balailoff geht zum Beispiel todsicher mit, sobald die Petroleumsache gedeichselt ist… sein Blick nahm allmählich jene sonderbare Starrheit an, die ihm manchmal eigen ist…er rechnete, …machte Überschläge, erlag seinem Komplex. Und Baumann meinte, es sei der geeignete Moment für eine analytische Seance, worauf wir anderen uns diskret entfernten. […]

„Pfui, nein das bloße Wort…“ Baumann lächelte. „Sie wissen, lieber Doktor, ich leide überhaupt an Wortidiosynkrasien… Leibrente klingt mir nach Leibweh, Leibbinde, Kamillentee, alten Tanten… es hat etwas durchaus Degradierendes.“

„Diese Wortidiosynkrasie fügt sich dem Geldkomplex vollkommen ein. – Vermutlich fühlten Sie sich als Kind degradiert und eingeengt, wenn man Sie mit einer Leibbinde und Kamillentee, womöglich noch unter Obhut einer alten Tante, ins Bett steckte… Aus dieser Erinnerung heraus machen Sie nun eine Ideenassoziation mit dem Wort Leibrente, um das eingeengte Dasein, was eine solche bieten würde, abzulehnen.“

„Sie fangen an mich zu überzeugen.“

„Und ich fühle immer weniger Veranlassung, für Ihre Lehre Propaganda zu machen,“ warf Lukas wütend hin.

„Ich spreche als Psychiater und nicht als Moralist.“

„Tue ich das etwa?“ Und Sie gerieten sich ein wenig in die Haare, weil keiner Moralist sein wollte.

                       Monte Carlo

[…] man sieht nur Geld, hört nur Geld, fühlt nur Geld, und das ist gerade das, was mir nottat. Einmal gehört es mir, einmal nicht, es rollt fort, schiebt sich wieder vor mich hin – es muß sich passiv verhalten, kann sich keine eigenen Launen mehr leisten, sondern muß sich denen des Roulette fügen. Und ich tyrannisiere es, denn ob ich spiele, und wie hoch, oder wieder aufhöre, steht in meiner Macht. […] Baumann geht von Tisch zu Tisch und sammelt Material, um eine Abhandlung über Geldkomplexe zu schreiben. Meiner, behauptet er, sei jetzt erst auf dem Höhepunkt angelangt. Aber das interessiert mich nicht mehr.

Lukas ist nicht mehr da. Und Baumann hofft immer noch, mich einmal weiteranalysieren zu können, aber ich glaube, es ist nicht mehr nötig. Denn mein Geldkomplex… Ich gehöre jetzt selbst zu den Gläubigern […].

Anmerkungen:

Druckvorlage: Reventlow 1925, S. 8, S. 13f., S. 16f., S. 19f., S. 21, S. 23, S. 28, S. 55-60, S. 62f., S. 70, S. 135ff., S. 146.

Erich Mühsam: Liebe, Treue, Eifersucht.
Die Ansichten der Gräfin Franziska zu Reventlow (1929)

Um das Jahr 1907 drangen in die Münchener Intellektuellenzirkel die ersten Kenntnisse der neuen Lehre des Professors Freud und fingen an, das ganze geistige Leben Schwabings zu beherrschen. Ihr begeisterter Apostel war der noch jugendliche Grazer Psychiater Dr. Otto Groß, der mit dem Eifer des Fanatikers das ganze Café Stefanie analysierte, beziehungsweise das Analysieren lehrte. Es schwirrte an den Tischen nur so herum von „Komplexen“, „Sperrungen“ und „Verdrängungen“, man war „konstelliert“, „okkupiert“ und hatte für jede Art Umnebelung oder Verstimmung einen schönen wissenschaftlichen Ausdruck. Zufälle wurden aus verborgenen Absichten gedeutet. Träume auf Wünsche zurückgeführt, und für manche hatte das Unterbewußtsein der Nebenmenschen bald weniger Geheimnisse als das eigene Bewußtsein.

Ich gehörte zu den wenigen, die der Psychoanalyse einigermaßen skeptisch gegenüberstanden, obwohl ich mit Otto Groß persönlich befreundet war und mich auch eine Zeitlang von ihm in seine Ausfragebehandlung nehmen ließ. Es lag mir daran, zu beobachten, ob durch das Überklarwerden von halb oder ganz versunkenen Erinnerungen die dichterische Schaffenskraft beeinflußt werde: darüber habe ich damals mit Professor Freud selbst eine kurze Korrespondenz geführt. Ich brach die Behandlung ab, als der Arzt Fragen stellte, die sich auf allerverschwiegenste Dinge des erotischen Lebens bezogen, und die ich ihm mit der kurzen Erklärung beantwortete: „Das geht dich einen Dreck an!“

Die Gräfin Reventlow war durch mich mit Groß bekanntgeworden, und eines Tages erzählte sie mir, worüber alles sie Auskunft hätte geben sollen. Sie hatte den Doktor ausgelacht und ihn gefragt, ob er denn wirklich meine, von sehr vielen seiner Patienten die Wahrheit zu hören, worauf er antwortete, das sei gar nicht nötig, niemand lüge außerhalb seines Charakters, und gerade, wie jemand lüge, zeige, wie er assoziiere. Der Abbruch der analytischen Behandlung störte weder der Gräfin noch meine Freundschaft mit mit Dr. Groß. Im Gegenteil, die Beziehung von Arzt und Patienten verlor sich völlig, und man traf sich mit dem ausgezeichneten Gelehrten und durchaus genialischen Menschen – er ist leider schon tot – auf dem Gebiet uns allen gleichmäßig naheliegender Probleme.

Groß vertrat, und zwar im engsten Zusammenhange mit seiner sexualpsychologischen Berufstätigkeit, den Standpunkt einer auf uneingeschränkter Promiskuität beruhenden Sittlichkeit. Ich war von einer ganz anderen Seite her zu ganz gleichen Folgerungen gekommen wir er. Die anarchistische Gesellschaftslehre, die ich vertrete, erstrebt das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen auf der Grundlage weitest gehender persönlicher Freiheit. Ich glaube, daß nur freiwillige Bindung innerlich verpflichtet, und daß jeder auferlegte Zwang nicht nur den erniedrigt, der sich ihm beugt, sondern auch den, der ihn verhängt und ausübt. Freiheit aller bedingt Freiheit jedes einzelnen, und umgekehrt: niemand ist frei, ehe nicht alle frei sind. Daher kann der Kampf gegen jede autoritäre Macht nur geführt werden in Verbindung mit dem Kampfe gegen die Autorität im engsten Umkreise, gegen die autoritären Gelüste zumal, die den eigenen Sinn und die eigenen Sinne beherrschen und mithin zur Herrschaft bringen möchten. Weiter schloß ich: wer über einen Menschen Obrigkeit errichten will, will sie über alles errichten, wer in seiner nächsten Umgebung den Gendarmentriebe in sich, und wer sich den Sklavenhalter im Hause gefallen läßt, der duldet überall Sklaverei und ist der Freiheit verloren. Alle traditionelle Tugend ist auf Befehlen und Gehorchen, auf Herrschen und Dienen gestimmt, und nirgends kommt das deutlicher zum Ausdruck als in der allgemein gültigen, von kaum noch einer Seite kritisch angegriffenen Geschlechtsmoral. So richtete ich schon in den Anfängen meiner sozialpropagandistischen Tätigkeit heftige Attacken gegen das Prinzip der Monogamie, gegen die unter öffentlichen Schutz gestellte Ehe, vor allem gegen die Verfälschung des Begriffs der Treue zur Kennzeichnung der auf einen einzigen Partner beschränkten physischen Liebe.

Otto Groß sah in der zum ethischen Vorzug gestempelten Ausschließlichkeit der Liebe den wichtigsten Faktor seelischer Verdrängungen, darum eine unreine Quelle hunderterlei Selbstquälerei und gegenseitiger Lebensvergiftung mit der Folge von Hysterie und übelsten psychogenen Wirkungen: ich den Urgrund der Unfreiheit des Menschen vor sich selbst und vor der Mitwelt. Vollkommene Übereinstimmung ergab sich zwischen uns in der Beurteilung der geschlechtlichen Eifersucht als einer besonders schmählichen Form des Neides, die aber dank autoritärer Gesellschaftserziehung und priesterlicher Sittlichkeitsbegriffe heiliggesprochen war.

Franziska zu Reventlow war auf keinerlei theoretischen Wegen, wohl aber durch ihre kluge und unbefangene Lebensart zu genau denselben Anschauungen gekommen. Es ist ja aus ihren Tagebüchern hinlänglich bekannt, wie wenig sie sich in ihrer eigenen Daseinsführung um das Urteil der gestempelten Moral kümmerte. Es wird sich aber vielleicht verlohnen, aus Erinnerungen, die ich im Gedächtnis bewahre, die bewußte Kraft festzustellen, mit der sich die außerordentliche, hoch bedeutende und dabei von allen Grazien gesegnete Frau ihre Haltung zu dem Problem, das ihr vorzüglich nahelag, geistig klarmachte.

Ich hatte 1909 ein Stück geschrieben, das den Titel „Die Freivermählten. Polemisches Schauspiel“ führte. Es war ein typisches Thesenstück und behandelte mehr in zugespitzer Dialektik als in eigentlicher dramatischer Bewegtheit eben die Dinge der Liebe, Treue und Eifersucht vom Standpunkt einer radikalen Verneinung der geltenden Moralbegriffe aus. Und zwar wurde ein in „freier“ Ehe höchst korrekt lebendes Paar, das nur aus Prinzip auf die staatliche Kopulierung verzichtet hatte, einem amtlich verheirateten Paar gegenübergestellt, das in wirklicher Freiheit und ohne gegenseitige Beaufsichtigung ein harmonisches Leben führte. Ob ich der Gräfin das Stück vorlas oder ob ich ihr das Manuskript gab, weiß ich heute nicht mehr. Aber ihr Urteil klingt mir noch hell in den Ohren. Es war gar nicht übermäßig freundlich und erfreute mich trotzdem mächtig. Denn während alle Bekannten, Kritiker und Kunstverständigen, denen ich die Arbeit zeigte, entsetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlugen ob der Unmöglichkeit der Tendenz des Stückes oder sich gerade um der Realität dieser Tendenz willen begeisterten, sagte die Gräfin kopfschüttelnd: „Das sind doch alles lauter Selbstverständlichkeiten. Wozu machen Sie darum einen solchen Aufwand?“

Man lese das prachtvolle Buch der Reventlow „Von Paul zu Pedro“, in dem sie sich mit dem Thema: „der Mann“ auseinandersetzt. Da wird allerdings auf jede Polemik gegen irgendwelche Tugenddogmen verzichtet: da wird nur über die verschiedenen Sorten beflissener Mannsbilder graziös geulkt, die sich selbst zwar allerlei Freiheiten gestatten, dabei aber vor den moralischen Regeln des gesellschaftlichen Anstands noch nie einen Zweifel gespürt haben. Begegnen sie einer Frau, die sich mit ihrer natürlichen Sinnlichkeit vor niemandem verantworten will, so glauben sie, ihr fehle nur das „volle Glück“, und die unglückliche Dichterin, der fortgesetzt über die peinliche Vergangenheit hinweggeholfen werden soll, schreibt melancholisch: „Glauben Sie mir, man darf sich noch so weit und noch so lange auf der schiefen Ebene befinden, es tauchen immer wieder Männer auf, die uns durch wahre Liebe retten wollen.“

Als ich einmal wieder mit der Gräfin über den Gegenstand, der gerade durch die Lehren der Psychoanalytiker damals die Gemüter der Schwabinger Boheme dauernd beschäftigte, sprach, fragte ich sie, ob sie, auch wenn sie verliebt sei, sich völlig von eifersüchtigen Empfindungen freihalten könne. Da meinte sie: das ist eine Sache der Selbsterziehung. Das Gefühl der Eifersucht komme aus verletzter Eitelkeit. Man brauche sich aber nur selbst zu kontrollieren, um zu erkennen, daß ein Wechsel in der erotischen Hinneigung nicht die geringste Herabsetzung des bisher Geliebten bedeute, und daß erst recht bei der Gleichzeitigkeit mehrerer Beziehungen gar keine Wertvergleichung stattfinde. Habe sie in früheren Jahren aus einfachem Taktgefühl keine Eifersucht merken lassen, so habe sie später die Fähigkeit in sich entwickelt, derartige Empfindungen als minderwertig und unwürdig gar nicht mehr aufkommen zu lassen. Was die Reventlow, wenn sie noch lebte, zu den Versuchen wohlmeinender Zeitgenossen sagen würde, die nachgerade erkannte polygamische Veranlagung der meisten Menschen schematisch ins geltende Eheleben einzuordnen, ist schwer zu ermessen. Vermutlich würde sie herzlich lachen. Was sie aber auf den Einwand entgegnen würde, daß ja doch das freie Liebesleben der Frau in ständigen Konflikt geraten müsse mit den Ansprüchen der Männer auf ihre Vaterschaftsrechte, das weiß ich. Denn einmal zeigte ich ihr eine Stelle im Tagebuch der Rahel aus dem Jahre 1820, die ihr eigenes mütterliches Herz tief berührte und die sie sich abschrieb. Sie lautete: „Kinder sollten nur Mütter haben und deren Namen tragen, und die Mutter das Vermögen und die Macht der Familie. So bestellt es die Natur: man muß diese nur sittlicher machen…. Fürchterlich ist die Natur darin, daß eine Frau gemißbraucht werden kann und wider Lust und Willen einen Menschen erzeugen kann. – Diese große Kränkung muß durch menschliche Anstalten und Einrichtungen wieder gutgemacht werden und zeigt an, wie sehr das Kind der Frau gehört. Jesus hatte nur eine Mutter. Allen Kindern sollte ein ideeller Vater konstituiert werden, alle Mütter so unschuldig und in Ehren gehalten werden wie Maria.“

Anmerkungen:

Erstdruck: Mühsam 1929, S. 315f.

„Die Freivermählten“, „Von Paul zu Pedro“: Erich Mühsam: Die Freivermählten. Polemisches Schauspiel in drei Aufzügen. (München 1914), Franziska zu Reventlow: Von Paul zu Pedro. Amouresken (1912). Mühsam und Reventlow setzten ihre Anschauungen über die freie Liebe in den beiden Texten um. Reventlow diskutiert darüber hinaus verschiedene Männertypen. 

Bibliographie

1. Primärliteratur

Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Berlin (DDR) 1954-59.

Freud, Sigmund: Charakter und Analerotik (1908). In: Ders.: Studienausgabe. 10 Bde. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt am Main 1969-1975, Bd. VII, S. 24-30.

Gross, Otto: Zur Überwindung der kulturellen Krise (1913). In: Thomas Anz u. Michael Stark (Hg.): Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Stuttgart 1982, S. 149-151.

Reventlow, Franziska zu: Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil (1913). In: Dies.: Gesammelte Werke in einem Bande. Hg. u. eingel. v. Else Reventlow. München 1925, S. 705-827.

Reventlow, Franziska zu: Der Geldkomplex (1916). Roman. In: Dies.: Gesammelte Werke in einem Bande. Hg. u. eingel. v. Else Reventlow. München 1925, S. 829-915.

Reventlow, Franziska zu: Von Paul zu Pedro (1912). Amouresken. In: Dies.: Gesammelte Werke in einem Bande. Hg. u. eingeleitet von Else Reventlow. München 1925, S. 917-991.

Reventlow, Franziska zu: Briefe. Hg. v. Else Reventlow. München 1928 [vordatiert auf 1929].

Reventlow, Franziska zu: Briefe 1890 – 1917. Hg. v. Else Reventlow. Mit einem Nachwort von Wolfdietrich Rasch. München, Wien 1975.

Reventlow, Franziska zu: Briefe 1890 bis 1917. In: Dies.: Sämtliche Werke, Briefe und Tagebücher. Hg. v. Michael Schardt. Bd. 4: Briefe. Mit einem Nachwort herausgegeben von Martin-M. Langner. Oldenburg 2004.

Reventlow, F. Gräfin zu: „Wir sehen uns ins Auge, das Leben und ich“. Tagebücher 1895-1910. Aus dem Autograph textkritisch neu herausgegeben und kommentiert von Irene Weiser und Jürgen Gutsch. Passau 2006.

Mühsam, Erich: Liebe, Treue, Eifersucht. Die Ansichten der Gräfin Franziska zu Reventlow. In: Die Aufklärung. Monatsschrift für Sexual- und Lebensreform 1 (1929) 10, S. 315f.

Mühsam, Erich: Namen und Menschen (1949). Unpolitische Erinnerungen. Berlin 1977.

2. Sekundärliteratur (z.T. kommentiert)

Faber, Richard: Franziska zu Reventlow und die Schwabinger Gegenkultur. Köln, Weimar, Wien 1993 [S. 125ff u. S. 205f.]. (Das Buch enthält einen Exkurs über Reventlows Roman Der Geldkomplex, in dem der Autor auf die dortige Behandlung der Psychoanalyse verweist und Mutmaßungen darüber anstellt, dass Otto Gross das Vorbild für die Figur Baumann sein könnte.)

Faber, Richard u. Christine Holste (Hg.): Kreise – Gruppen – Bünde. Zur Soziologie moderner Intellektuellenassoziation. Würzburg 2000.

Fritz, Helmut: Die erotische Rebellion. Das Leben der Franziska Gräfin zu Reventlow. Frankfurt am Main 1980, vgl. v.a. S. 130-135.

Kanz, Christine: Geschlechterdifferenzen in Literatur und Psychoanalyse. Lou Andreas-Salomé, Margarete Susman, Franziska zu Reventlow und Regina Ullman im Dialog mit Sigmund Freud und Otto Gross. In: 1. Internationaler Otto Gross Kongress. Bauhaus-Archiv, Berlin 1999. Hg. v. Raimund Dehmlow und Gottfried Heuer. Marburg u. Hannover 2000, S. 142-166, vgl. v.a. S. 149-153. (Die Verfasserin zeigt Unterschiede und Parallelen zwischen psychoanalytischen Geschlechterkonzepten und denen von Reventlow auf.)

Kanz, Christine: Zwischen sexueller Befreiung und misogyner Mutteridealisierung. Psychoanalyserezeption und Geschlechterkonzeptionen in der literarischen Moderne. In: Anarchismus und Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der Kreis um Erich Mühsam und Otto Gross. Hg. von der Erich Mühsam-Gesellschaft. Lübeck 2001 [= Schriften der Erich Mühsam-Gesellschaft], S. 101-124, vgl. v.a. S. 112ff. (Die Verfasserin geht Parallelen und Differenzen zwischen dem Denken Reventlows und Gross’ (u.a. hinsichtlich Frauenemanzipation, Mutteridealisierung, Sexualität, Moral nach und weist die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, v.a. ihrer Auslegung durch Gross, in Geldkomplex und Von Paul zu Pedro nach.)

Kanz, Christine: Geschlecht und Psyche in der Zeit des Expressionismus. In: Walter Fähnders (Hg.): Expressionistische Prosa. Bielefeld 2001 (=Aisthesis Studienbuch, Bd. 1), S. 115-146. (Die Verfasserin untersucht Parallelen zwischen den Vorstellungen von Gross und Reventlow hinsichtlich Ehe, Familie und zeitgenössischer Sexualmoral (u.a. in Von Paul zu Pedro) und beschreibt die Parodie der Psychoanalyse in Geldkomplex.)

Kroeske, Wolfgang: Franziska Gräfin zu Reventlow. Oder: Das Geld kommt nur zu dem, der es mehr liebt als alles andere. Ein sehr persönlicher Lesebericht. In: Schriften der Erich Mühsam-Gesellschaft (1996) 11, S. 89-138, vgl. v.a. S. 108ff. (Der Aufsatz bietet eine eigenwillige Interpretation von Reventlows Roman Geldkomplex mit skizzenhaften und zugleich materialreichen Ausführungen zu Otto Gross und dessen Lebensgeschichte.)

Székely, Johannes: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Mit einer Bibliographie. Bonn: Bouvier 1979, vgl. v.a. S. 185ff., 196ff., 228ff. (Székelys Interpretation des Romans Geldkomplex befasst sich unter anderem mit der Verspottung der Psychoanalyse. Dabei geht der Autor auch auf die Person Otto Gross ein, allerdings ohne dessen Thesen und Theorien näher zu erläutern. Zudem bietet das Buch psychoanalytische Interpretationen der über sechzig Träume auf, die Reventlow in ihren Tagebüchern beschrieben hat.)