Zusammenleben als vernünftiger Dissens

Alexander Someks „Rechtsphilosophie zur Einführung“ ist ein zeitgemäßer Einstieg in die Disziplin

Von Mario HuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Huber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alexander Someks Rechtsphilosophie zur Einführung geht der Frage nach, was Recht eigentlich ist. Ein wenig aus der gewohnten Junius-Tradition ausscherend, ist das Buch nicht ganz die großangelegte Quellensammlung und Aneinanderreihung von Namen, die man erwarten könnte. Stattdessen wählt Somek, seit 2015 Professor für Rechtsphilosophie an der Universität Wien, gezielt und geschickt aus der Geschichte der Disziplin aus, um an tagesaktuellen Problemfeldern die Möglichkeiten des rechtsphilosophischen Denkens vorzuführen. Dabei steht im Mittelpunkt, dass Recht „Ausdruck einer Beziehung [ist], in deren Rahmen Menschen einander Willkürfreiheit ‚einräumen‘“.

Someks Buch ist bereits die zweite Einführung in Rechtsphilosophie aus dem Verlagshaus Junius. 2002 veröffentliche Detlef Horster, der Gründer der Reihe Zur Einführung, eine ebensolche. Horsters Buch ist aufgrund der historischen Perspektive und den kurzen einführenden Abhandlungen zu unterschiedlichen Philosophen und Rechtstheoretikern nach wie vor lesenswert. Somek setzt im Gegensatz dazu auf eine Positionierung und argumentiert so einen Zugang zur rechtsphilosophischen Fundierung von demokratischen Gemeinschaften. Dabei stellen mitunter andere Ansichten eher Gegenpositionen dar, die argumentativ entkräftet werden. Teilweise ist dies natürlich ein Nebeneffekt der systematischen Herangehensweise der Einführung, auch weil der Umfang begrenzt ist. Die Darstellung insgesamt ist, wie nicht anders zu erwarten, neutral gehalten; nun kann man trotzdem mit dem Autor einer Meinung sein oder nicht. Gerade der mögliche Dissens ist dabei ein inhärentes Merkmal des im Buch dargestellten Zugangs zur Rechtsphilosophie und der daraus entstehenden Vorstellung eines globalen Zusammenlebens im 21. Jahrhundert.

Die Einführung ist mit Sorgfalt konstruiert, was das leider etwas zu kurz geratene Inhaltsverzeichnis nicht ganz widerspiegelt. Man wird vom „Kleinen“ zum „Großen“ geleitet, das heißt die Gedankenführung beginnt bei der Unterscheidung von Recht und Moral, folgend werden größere Gruppenzusammenschlüsse von Menschen betrachtet und schließlich endet das Buch bei Überlegungen zur Nation und darüber hinausreichenden supranationalen Gebilden. Die zentralen Begriffe sind dabei – abgesehen natürlich von Rechten und Pflichten unterschiedlicher Art – Freiheit, Gleichheit und Gegenseitigkeit.

Gerade die im Buch beschriebene Herleitung des „Rechtsverhältnisses“ ist hervorzuheben. Somek versteht das Rechtsverhältnis als zugelassene Überordnung unter bestimmten Bedingungen, das heißt es ist eine Selbsteinschränkung der persönlichen Moralvorstellungen. Beginnend beim alltäglichen moralischen Urteilen, das immer mit Universalisierungstendenzen verbunden und zugleich Ausdruck eines partikulären Charakters ist, sieht Somek den notwendigen und entscheidenden Schritt zum rechtlichen Zusammenschluss von Personen. Im (selbst‑)reflexiven Rechtfertigen des eigenen Urteils, das den anderen als gleichen, freien und urteilenden Menschen anerkennt, treten Sozial- und Sachdimension des moralischen Urteilens auseinander. Meinungen zur Sozialdimension werden hintangestellt und lediglich auf der Sachebene stellt sich die Frage, wessen Wollen gelten darf beziehungsweise wessen Wollen geduldet werden muss. Die so begründet getroffene Entscheidung – jedes Recht beruht auf einer Entscheidung, der im Grunde wiederwillig gefolgt wird, so Somek – führt (im besten Fall) zu einem gegenseitigen Anerkennen eines unbestimmten Wollens, das heißt zur gegenseitigen Willkürfreiheit.

Obwohl das Buch in einem unaufdringlichen, verständlichen Stil gehalten und insgesamt sehr zugänglich ist, ist es weniger zum sequenziellen Lesen geeignet, denn Somek entwickelt seine Argumentation von Kapitel zu Kapitel weiter. Er gelangt dabei schließlich, auf sehr nachvollziehbare Weise, zu einer proeuropäischen, aber deshalb nicht unkritischen Perspektive auf derzeitige Herausforderungen (zum Beispiel Stabilisierungsmaßnahmen in Folge der griechischen Finanzlage oder Migration). Sein Schluss daraus ist, dass Europa Ziele braucht: eine kosmopolitische Verfassung, größerer Respekt für die Menschrechte und daraus wiederum folgend den Anspruch, „eine Welt zu schaffen, in der man auch als Fremder leben kann – also eine Welt, in der man sich paradoxerweise mit dem Fremdbestimmtsein identifizieren können sollte“.

Dieser Schluss ist nicht unbedingt revolutionär, aber im Sinne einer Einführung in die Thematik umso wichtiger, da er eine Basis zur Diskussion schafft. Die andauernde politische Debatte, bei der die nationalen Verfassungen unterschiedlicher Staaten völkerrechtlichen oder menschenrechtlichen Komponenten gegenübergestellt werden, und dies nicht nur in Migrationsfragen, ist auch eine (rechts‑)philosophische, was gerne vergessen wird. Somek beschreibt sehr interessant die Entwicklung vom „Recht auf Bürgerrechte“ und der Etablierung von politischen, sozialen und kulturellen Rechten seit dem 17. Jahrhundert, was schließlich (oder vorläufig) in der Europäischen Menschenrechtskonvention beziehungsweise dem Begriff der „Menschenwürde“, wie wir ihn heute in diesem Zusammenhang verwenden, mündet. Der Generalverdacht, dass auch hier eine gewisse Form des „Recht des Stärkeren“ realisiert wird, kann, wie Somek anmerkt, nicht gänzlich suspendiert werden. Oft ist es nämlich gerade die „Menschenrechtsverletzung“, die zur Umsetzung der völkerrechtlichen Doktrin der Schutzverantwortung (R2P) führt oder humanitäre Interventionen in die Wege leitet – und damit Weltpolitik betreibt, die sich über die Souveränität von Staaten hinwegsetzt. Bei allem Positiven, was es über die Einführung im Allgemeinen und über diesen Abschnitt im Speziellen hier zu sagen gibt, ist es schade, dass Fragen zum Klimaschutz, ein ebenfalls die internationale Gemeinschaft betreffendes Problem, nicht diskutiert werden.

Was aufgrund der Ausrichtung an aktuellen Problemen und der systematischen Einführung der wichtigsten Begriffe ein wenig zu kurz kommt, sind diverse „Standards“ einer Einführung in die Rechtsphilosophie. Allen voran die historische Entwicklung der Disziplin fällt in vielen Teilen unter den Tisch. Zwar wird zum Beispiel Aristoteles ausgiebig herangezogen, wenn es um die Unterscheidung zwischen Polis und Staat geht, jedoch ohne die diversen Feinheiten (oder aus heutiger Sicht vielleicht Absonderlichkeiten) seines politischen Denkens auszuloten oder diese seine Gedanken in andere antike Diskurse einzuordnen. Auch Römisches Recht, Erörterungen über naturrechtliche Begründungsversuche mit göttlichem Hintergrund, eine Beschreibung von unterschiedlichen Positionen des Rechtspositivismus oder Ansätze, die beispielsweise den sprachlichen und medialen Aspekt von Recht betrachten, sucht man vergebens in Someks Buch. Wer diese Punkte einführend auseinandergesetzt wissen möchte, kann zum Beispiel auf Matthias Mahlmanns Rechtsphilosophie und Rechtstheorie (4. Auflage 2017) oder Kurt Seelmanns Rechtsphilosophie (5. Aufl. 2010) ausweichen; Bücher, die auch Somek in seinen Lektüreempfehlungen erwähnt. Ebenfalls ist zu erwähnen, dass Somek seine Rechtsphilosophie zur Einführung als Fortsetzung seines 2017 auch bei Junius erschienen Buchs Rechtstheorie zur Einführung versteht. Sehr ausführlich ist im Gegensatz zu den erwähnten Punkten die Beschreibung verschiedener Konzepte von Gerechtigkeit geraten, natürlich inklusive des Utilitarismus und erfreulicher Weise mit einer Erwähnung der nicht immer wahrgenommenen Richtung „Law and Economics“.

Unter dem Strich bleibt die Leseempfehlung. Selbst in jenen Abschnitten, in denen man sich mehr Details oder unterschiedliche beziehungsweise weitere Positionen gewünscht hätte, ist aus Sicht einer Einführung genug geleistet. Dass der Kernpunkt der diskutierten Probleme letztlich verfassungsrechtlicher Natur ist, ist nur zeitgemäß. Wenn man, im Sinne eines vernünftigen Dissens, schließlich auch nicht immer in allen Punkten Someks Auffassung teilen wird: Es bleibt die Möglichkeit, seine Argumente sachlich zu entkräften – was aber gar nicht so einfach sein dürfte.

Titelbild

Alexander Somek: Rechtsphilosophie zur Einführung.
Junius Verlag, Hamburg 2018.
236 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783885068099

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