„Familienrundschreiben“ und andere Beweise familiärer Zusammengehörigkeit
Brigitte Reimanns „Geschwisterbriefe“ ergänzen die in den letzten Jahrzehnten erschienenen Briefeditionen und Tagebücher der 1974 verstorbenen Autorin
Von Dietmar Jacobsen
Sie war die älteste von vier Kindern. Brigitte Reimann, die neben Christa Wolf, Sarah Kirsch und Irmtraud Morgner wohl bekannteste Schriftstellerin der DDR, geboren am 21. Juli 1933 in Burg bei Magdeburg, hat das Land nicht überlebt, für das sie sich anfangs kämpferisch einsetzte, ehe sie ab Mitte der 1960er Jahre dem Projekt Sozialismus, wie es im Osten Deutschlands praktiziert wurde, zunehmend skeptischer gegenüberstand. Als sie am 20. Februar 1973 im (Ost-)Berliner Klinikum Buch 39-jährig einem Krebsleiden erlag, war sie mit ihrem Lebenswerk, dem 1974 posthum in einer durch die Zensur verstümmelten Fassung im Berliner Verlag Neues Leben erschienenen Roman Franziska Linkerhand, nach über zehnjähriger Arbeit noch immer nicht fertig geworden.
Die 1998 im Aufbau Verlag erstmals vollständig erschienene Ausgabe des überlieferten Typoskripts lässt erahnen, mit welchen Schwierigkeiten die Autorin hätte rechnen müssen, wäre das Buch zu ihren Lebzeiten in der DDR erschienen. Doch auch die um zahlreiche kritische Einlassungen gekürzte Ausgabe des Romans machte in dem Land, in dem er entstanden war und dessen zunehmend problematischer werdenden Alltag er am Beispiel einer jungen Architektin beschreibt, die sich im Zwiespalt zwischen ihren eigenen Ansprüchen und der ihr begegnenden Wirklichkeit aufreibt, Furore, wurde zu einem Kultbuch für all jene, die sich nicht mehr länger mit ihren beschnittenen Freiheiten und der obrigkeitlichen Gängelei abfinden wollten.
Nun sind – nach zahlreichen Ausgaben ihrer Briefe an Eltern, Freunde und Kollegen sowie zwei Tagebuch-Bänden – Reimanns Geschwisterbriefe unter dem Titel Post vom schwarzen Schaf erschienen. Die Jahre zwischen 1960 und 1972 umfassend, geben die Nachrichten an ihre Brüder Ludwig (geboren 1934) und Ulrich (geboren 1941), das Nesthäkchen Dorothea (geboren 1943) sowie deren Ehepartner einen guten – manchmal vielleicht ein wenig zu intimen – Einblick in das Leben einer Familie, die nach dem 1960 erfolgten Weggang Ludwig Reimanns mit Frau und Kind aus der DDR selbst unter einem geteilten Himmel, wie Reimanns Freundin Christa Wolf die deutsch-deutsche Nachkriegssituation mit dem Titel ihres Romans von 1963 bildlich umschrieb, leben musste.
Die brisantesten Briefe aus diesen 13 Jahren sind dann auch jene, in denen sich die mit ihren Werken schnell öffentliche Anerkennung findende Schriftstellerin und der ihr auch intellektuell am nähesten stehende Bruder Ludwig mit der deutschen Teilung auseinandersetzen – er von Hamburg aus, sie von Hoyerswerda, später von Neubrandenburg. Weist zunächst alles auf einen schroffen Bruch zwischen den beiden hin – für Ludwig ist das Land, das er verlassen hat, fortan nur noch „die Zone“ respektive die „sogenannte DDR“ und das Leben im westlichen Deutschland durch die vielen Freiheiten und Annehmlichkeiten, die es bietet, jenem in der alten Heimat generell vorzuziehen, auch wenn der Bruder selbst zunächst Schwierigkeiten hat, sich privat und beruflich in die neuen Umstände einzuleben, relativiert sich Brigitte Reimanns am Anfang absolut ideologiekonforme Haltung der DDR gegenüber im Laufe der Zeit immer deutlicher.
So tasten sich die beiden langsam wieder aneinander heran. Die Schwester verhilft dem Bruder durch ihre guten Beziehungen zu einem Besuchsvisum bei der Familie im östlichen Deutschland, was ihm allein als „Republikflüchtling“ wohl kaum gelungen wäre, und sendet eine 12-bändige Thomas-Mann-Edition und zahlreiche Ausgaben neuer Bücher von Autoren der DDR, die erst später oder gar nicht auf der anderen Seite der Mauer erscheinen sollten, gen Hamburg. Er revanchiert sich mit Ausgaben von im östlichen Deutschland verbotenen Autoren – die, um die strengen Zollvorschriften der DDR zu umgehen, über den ostdeutschen Schriftstellerverband geschickt werden – und bemüht sich, Brigittes Wünsche nach Jazz-Schallplatten zu erfüllen. Politisch auf einen Nenner kommt man dabei nie. Aber das beiderseitige Bemühen, den jeweils anderen in seinem Anderssein nicht zu verdammen, sondern so weit es geht zu akzeptieren, ist deutlich spürbar.
Die Briefe an die beiden anderen Geschwister sind weniger von diesen das Land zerreißenden Widersprüchen geprägt. Deutlicher ablesbar ist ihnen allerdings, mit welchen oft geradezu lächerlichen Schwierigkeiten und nervenaufreibenden Ärgernissen man sich als Bürger der DDR bei der Bewältigung seines Alltags herumzuärgern hatte – mit ihrer Erzählung Ankunft im Alltag (1961) hatte Reimann einer ganzen Literaturrichtung, der von da an sogenannten „Ankunftsliteratur“, übrigens den Stichpunkt geliefert. Das reicht von Versorgungsschwierigkeiten in der Mangelwirtschaft (selbst für Waschmittel mussten gelegentlich die guten „Beziehungen“ bemüht werden) über Wohnungsprobleme und die Wahlfarcen, bei denen die regierende Einheitspartei jedesmal an die 100 Prozent „Zustimmung“ von der Bevölkerung einforderte und sie letztlich auch bekam, bis zu der allgemein bekannten Tatsache, dass das „Briefgeheimnis“ spätestens dann kein Geheimnis mehr war, wenn Sender oder Adressat das Misstrauen der Staaatssicherheit hervorgerufen hatten, aus der DDR geflohen waren oder exponierte Stellungen – wie etwa die eines Schriftstellers/einer Schriftstellerin – einnahmen, auf deren Außenwirkung geachtet werden musste. Wenn Reimann deshalb in einem Schreiben nach Hamburg im Juli 1968 den Satz einflicht „Anmerkung für Leute, an die dieser Brief nicht gerichtet ist: bevor Sie weiterlesen, studieren sie, bitte, den das Postgeheimnis betreffenden Artikel in der Verfassung!“, hatte das durchaus ernstzunehmende Gründe.
Bemerkenswert ist der enge Familienzusammenhalt, der an beinahe jeder Stelle der Briefauswahl zu spüren ist und dem bisherigen Bild von Brigitte Reimann – man kannte die viermal Verheiratete und jede Beziehung mit ihrer Unrast aufs Neue sprengende Autorin bisher kaum als warmherzigen „Familienmenschen“ – eine neue Facette hinzufügt. Der Vater, Willi Reimann, drückte es im Jargon seines Berufes – er arbeitete als Bankfachmann – folgendermaßen aus: „Das (in Kindern) angelegte Kapital zahlt sich aus, wenn auch nicht materiell, so doch ideell.“ Von Burg aus schickte er in regelmäßigen Abständen einen „Familienrundschrieb“ (FRS) an seine vier Kinder, da drei von ihnen Anfang der 1960er Jahre begonnen hatten, auf eigenen Füßen zu stehen, und nur noch die jüngste Tochter, Dorothea, bei den Eltern lebte. Mit den durchnummerierten Informationsbriefen sollte der enge Kontakt zwischen allen sechs Reimanns auch weiterhin aufrechterhalten werden, was dem „Redakteur“ der insgesamt 214 Briefe zwischen 1960 und 1974 gut gelang.
Doch auch die Geschwister untereinander blieben in manchmal etwas lockerem, aber nie abreißendem Kontakt, unterstützten sich gegenseitig in schwierigen Situationen und sorgten sich um die Eltern im Alter. Natürlich wurde der ältesten Tochter dabei die größte Aufmerksamkeit zuteil. Die hatte es mit ihren Prosawerken und den, anfangs gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, geschriebenen Hörspielen schnell zu einer öffentlichen Person gebracht und einen Freundeskreis um sich gesammelt, der von Christa Wolf bis hin zum Architekten Hermann Henselmann, vom Filmregisseur Kurt Maetzig bis zum Schauspieler und Sänger Manfred Krug, vom Schriftsteller Wolfgang Schreyer bis zu Otto Gotsche, der als Sekretär des Staatsrates der DDR Brigitte Reimann immer dann zu Hilfe kam, wenn einfache Beziehungen nicht mehr genügten, reichte.
Ludwig, Ulrich und Dorothea sind stolz auf ihre „B-Schwester“, lesen alle ihre Werke, verleihen die Bücher im Freundeskreis weiter und halten sich mit Lob – gelegentlich auch Kritik – der ältesten Schwester gegenüber nicht zurück. Als das „schwarze Schaf“ der Familie, wie sich Reimann gelegentlich selbst sieht, wird sie von den anderen nie wahrgenommen. Ihre privaten Entscheidungen – wie die Trennung von den bei Eltern und Geschwistern außerordentlich beliebten Ehemännern Nummer zwei und drei, Siegfried Pitschmann und Hans Kerschek – werden einfach akzeptiert. Einen wirklichen „literarischen Draht“ hat sie allerdings nur zu ihrem Bruder Ludwig, was dessen Fernsein vor allen in den letzten Jahren ihres Lebens, als die Krebserkrankung und zahlreiche damit im Zusammenhang stehende Operationen zunehmend an ihr zehrten, zu einem Problem machte. Ludwig gegenüber bekennt sie schließlich auch ihre zunehmende Unzufriedenheit mit der Engstirnigkeit der Funktionärskaste gegenüber Kunst und Literatur und den vielen „miesen“ Büchern, die in dem Bemühen, es den kulturpolitischen Vorgaben rechtmachen zu wollen, entstünden.
Die von Heide Hampel (langjährige Leiterin des Brigitte-Reimann-Archivs) und Angela Drescher (Herausgeberin der Reimann-Tagebücher und der ungekürzten Neuedition des Romans Franziska Linkerhand) verantwortete Briefauswahl Post vom schwarzen Schaf erfüllt über ihre primäre Funktion, eine herausragende und leider viel zu früh verstorbene Autorin der DDR in ihren familiären Beziehungen zu porträtieren, auch den Zweck, Einblicke in das Alltagsleben eines Landes zu vermitteln, das nach knapp 40-jähriger Existenz 1990 von der Landkarte verschwand. Nur unter dem zuletzt genannten Aspekt lässt sich die Aufnahme vieler Briefe rechtfertigen, die auf den ersten Blick wenig Spektakuläres vermelden und bei dem einen oder anderen Leser sogar das Gefühl erzeugen dürften, ungewollt Zeuge von Dingen zu werden, die nur Sender und Adressat etwas angingen. Viele der von den Herausgeberinnen zum besseren Verständnis des Geschriebenen beigegebenen Anmerkungen – sie finden sich als Fußnoten auf den weitaus meisten Seiten des Textes und ersparen deshalb dankenswerterweise ein den Lesefluss hemmendes Vor- und Zurückblättern – machen darüber hinaus deutlich, wie weit jene kurze Episode eines alternativen Staatsentwurfs auf deutschem Boden inzwischen schon zurückliegt. Das den Band ergänzende Personenverzeichnis ist nützlich, enthält allerdings von Johann Sebastian Bach bis Émile Zola eine ganze Reihe von Namen und Lebensdaten, die durchaus auch, um der Konzentration auf das Lebens- und Arbeitsumfeld Brigitte Reimanns willen, hätten wegbleiben können.
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