Wir sind besetzt!

Eine packende Zusammenstellung dokumentiert Äußerungen und Eindrücke Heinrich Bölls, der in Prag als unmittelbarer Augenzeuge die ersten Tage der gewaltsamen Invasion im August 1968 miterlebte

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ob er eine in die Goschen haben möchte?“ Ein Mann vom Nebentisch einer Prager Bierkneipe hatte offenbar Heinrich Bölls verzweifelte Reflexionen über Geschichte und deutsche Schuld missverstanden. Die Nerven lagen blank in diesen Tagen im August 1968. Die Momentaufnahme stammt aus der Erzählung Die Laureaten des tschechischen Schriftstellers Bohumil Hrabal, in der über einen Spaziergang mit dem deutschen Schriftstellerkollegen im Windschatten der russischen Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz berichtet wird. Sicherheitshalber zogen sich die beiden Autoren angesichts der drohenden Kanonenrohre und der aufgebrachten Menschenmenge in einer Seitengasse in den Braník-Keller zurück. In Bölls Tagebucheintrag vom Donnerstag, den 22. August 1968 liest man von jener Begegnung stichpunktartig: „Hrabal(-stumm, schlau, bäurisch)“ und an anderer Stelle: „Hrabal: Keine Ironie mehr möglich“.

Im von René Böll herausgegebenen Band Der Panzer zielte auf Kafka sind Heinrich Bölls 49 Seiten Tagebuchaufzeichnungen, die in jenen schicksalhaften Augusttagen in Prag entstanden, im Faksimile sowie in einer kommentierten Transkription abgedruckt. Auf Einladung des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes war Böll mit seiner Frau Annemarie und dem Sohn René, der dieser Ausgabe einen aufschlussreichen „Persönlichen Rückblick 50 Jahre danach“ beigesteuert hat, mit der Bahn nach Prag gereist. Als sie am Dienstagabend des 20. August in Prag eintrafen, konnte niemand ahnen, dass in der folgenden Nacht die Invasion der Warschauer Pakt-Truppen erfolgen würde. Am Morgen des 21. August wurden die Bölls durch Klopfen an ihre Zimmertüre im Hotel mit den Rufen „Wir sind besetzt!“ geweckt.

Stichpunkte und Skizzen situativer Momente geben in Bölls Tagebuch die Dramatik jener Situation wieder, in der sich in der ČSSR die Ereignisse überschlugen. Die russischen Panzer auf dem Prager Wenzelsplatz wie auch an zahlreichen weiteren Brennpunkten der Stadt und des Landes hatten mit einem Schlag die Hoffnungen der Menschen auf einen freien Sozialismus und ein Leben in Würde zermalmt.

Böll hatte, wie viele Zeitgenossen in Ost und West, die Entwicklung des sogenannten Prager Frühlings mit großer Sympathie verfolgt, als unter der Führung von Alexander Dubček in der Tschechoslowakei umfassende Reformen eingeleitet und umgesetzt wurden. Eine „Bibliografie der Texte und Interviews Heinrich Bölls zu Personen und Themen der Tschechoslowakei 1961 bis 1984“ belegt, daß Bölls Interesse an sozialistischen Reformen im Nachbarland Tschechoslowakei einen großen Stellenwert eingenommen hatte.

„Der Panzer zielte auf Kafka“, notiert Böll angesichts eines Panzers vor dem Geburtshaus Franz Kafkas. Zugleich verdichtet sich in dieser Formel die Charakterisierung des Einmarsches der Warschauer Pakt-Staaten als kultureller wie auch politischer Angriff auf die Wurzeln mitteleuropäischer Zivilisation. Die gewaltsame Erstickung des „Prager Frühlings“ im August 1968 war ein Schock für alle, die sich ein freieres Leben in der damaligen ČSSR erhofft hatten. Es sollten 20 Jahre politischer und kultureller Frost folgen, die in offizieller Verlautbarung als „Normalisierung“ der Verhältnisse bezeichnet wurden. Bölls wiederholt eingeforderte Solidarität mit bedrängten Aktivisten im Einsatz für eine Demokratisierung ihrer Heimat hatte er unter anderem auch in seinem Engagement mit Menschenrechtlern und Schriftstellern wie etwa Lew Kopelew oder Andrej Sacharow in Wort und Tat unter Beweis gestellt.

Diese umsichtig zusammengestellte Dokumentation wird von abgedruckten Interviews mit Heinrich Böll abgerundet, die seine Eindrücke und Einschätzungen im Herbst 1968 zum Ausdruck bringen und in deutschen aber auch tschechoslowakischen Medien erschienen sind. Die umfangreiche Einleitung Heinrich Böll und der Prager Frühling des Osteuropahistorikers Martin Schulze-Wessel, der unlängst mit Der Prager Frühling die aktuellste Studie zu den Vorgängen in der damaligen ČSSR vorgelegt hat, unterstreicht neben Fotos des Zeitzeugen René Böll die sorgfältig aufbereitete Ausgabe.

Die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 hatte in der Tschechoslowakei furchtbare Erinnerungen an Zeiten des sogenannten „Protektorats Böhmen und Mähren“ in den 1940er Jahren wachgerufen. Geschichtliche Hintergründe, deren sich Heinrich Böll schmerzlich bewusst war. Ihm war es nicht mehr vergönnt zu erleben, dass Tschechien wie auch die Slowakei infolge der „samtenen Revolution“ von 1989 als Mitglieder der NATO aufgenommen wurden. Der tschechische Dichterpräsident Václav Havel hatte mit Nachdruck darauf gedrängt. Madelaine Albright, die damalige Außenministerin der USA, war 1937 unter dem Namen Jana Körbelová in Prag geboren und hatte nicht zuletzt aus ihrer eigenen Biografie heraus Verständnis für den Wunsch Tschechiens nach militärischer und politischer Sicherheit unter dem Schirm der NATO.

Titelbild

Heinrich Böll: Der Panzer zielte auf Kafka. Heinrich Böll und der Prager Frühling.
Herausgegeben von René Böll.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018.
215 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783462051551

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