Männer, Frauen, Divers

Einige Bemerkungen zu den prekären Geschlechterzuschreibungen im frühen 21. Jahrhundert

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1. Gender at work

Wenn es in der modernen Gesellschaft eine prekäre Rollenzuschreibung gibt, dann die des Geschlechts. Die Konstituierung des bürgerlichen Familienmodells im 18. Jahrhundert hat im Binnenverhältnis der Geschlechter zu einer Umverteilung und Neuzuschreibung von Eigenschaften geführt, die allerdings nur wenige Generationen Bestand hatte, wie sich exemplarisch an der Geschichte des sogenannten Bürgerlichen Trauerspiels erkennen lässt. Kaum dass ein auf Empathie beruhendes Verhältnis zwischen den Geschlechtern konzipiert worden war, zerfiel es auch schon wieder. Was aber bestehen blieb, war eine strikte Zuschreibung von Eigenschaften, Verhaltensweisen und Denkformen jeweils zu den dann auch noch exklusiv gedachten Geschlechtern.

Spätestens im frühen 20. Jahrhundert wurde die Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, die in der Sicht der Zeitgenossen immer noch natürlich, soll heißen biologisch begründet war, wieder suspendiert. Der Mediziner Paul Julius Moebius dekretierte just zur Jahrhundertwende mit großer Selbstgewissheit die natürlichen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, aus denen es kein Entkommen gebe. Das Ziel der Frau sei nun einmal die Mutterschaft, weshalb es im Übrigen schlecht für die Aufzucht der Kinder sei, wenn die Mutter auch noch besonders intelligent sei. Daher denn auch der intensiv bewiesene „physiologische Schwachsinn des Weibes“, der es nachvollziehbar macht, dass Judith Butler bis heute ein denkbar großes Misstrauen dem medizinischen Diskurs gegenüber hat. Auf ihn stützt sich allzu häufig ein anachronistisches Konzept der Geschlechterdifferenz, in dem kulturelle, soziale und auch genetische Argumente kräftig biologisiert werden. Im Vergleich zu Moebius’ Kampfschrift gegen die weibliche Emanzipation war Otto Weiningers Geschlecht und Charakter eine Aufklärungsschrift mit vergleichsweisen egalitärem Konzept.

Zur selben Zeit, in dem Moebius, Weininger und andere den Primat des Mannes weiter zu verteidigen versuchten, verlor er in der Kultur und Gesellschaft weiterhin an Bedeutung: Der Blick in die zeitgenössische Literatur bietet auch hierfür genügend Beispiele. Die Ablösung des Mannes als Ernährer der Familie wird in Hans Falladas Kleiner Mann – was nun?, in Erich Kästners Fabian und in Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns, die allesamt vom Beginn der 1930er Jahre stammen, zu einer Grundbedingung der Existenz in der Moderne. Die Krone der Schöpfung sieht sich auf einmal Verhältnissen gegenüber, in denen sie sich als Gleicher unter Gleichen und eben nicht mehr als allwissender und alle nährender Vormund der vorgeblich unmündigen Frauen gerieren musste.

Zugleich mehren sich die Bemühungen, Männern und Frauen essentielle Eigenschaften zuzuschreiben, wie sich gerade an der populären Kultur, in der Entstehung des Hard boiled-Krimis oder an der Konstituierung der Superheldengenres erkennen lässt, in denen sich traditional gebende, faktisch jedoch neu entworfene Rollenmodelle konstituieren und auf ein bereitwilliges Publikum stoßen. Allein, dass die männlichen Protagonisten dieser populären Genres in der Regel auf sich gestellt sind, zeigt den Zerfall des so gut gemeinten Familienmodells an, das als Leitbild des 18. Jahrhunderts gelten kann.

Diese widersprüchliche Entwicklung hält bis heute an. Der Ausdifferenzierung von Rollenmodellen über binäre Geschlechterrollen hinweg steht eine nicht minder geläufige Behauptung von zweifelsfreien geschlechtsspezifischen Eigenschaften gegenüber. Mit der Ausweitung des politischen Spektrums in nationalkonservative und (der Einfachheit halber so genannten) populistischen Parteien erhalten diese bislang vor allem in der Populärkultur präsenten Selbstbehauptungen geschlechtsspezifischer Eindeutigkeit eine deutlich größere Durchsetzungskraft. Dem sozialliberalen Milieu, das die Ausdifferenzierung der Geschlechtermodelle wenigstens toleriert, stellt sich ein nationalkonservatives Milieu entgegen, das den Kampf gegen die als „Genderwahn“ diffamierte Auseinandersetzung um einen angemessenen Umgang mit geschlechtlichen Selbst- und Fremdzuschreibungen mit der Behauptung biologisch begründeter Geschlechterdifferenzen verbindet, die an eine angebliche historische Kontinuität gebunden sind. Was allein schon durch das Interregnum des empfindsamen Mannes um 1800 zur Disposition gestellt gehört. Es steht zu vermuten, dass damit weniger eine neue Konjunktur solch biologistischer (und eben nicht traditionalistischer) Modelle verbunden ist, als deren vermehrte Resonanz im öffentlichen Raum. Das aber hat Funktion, von denen die der einfachen und schnellen Orientierung und Handlungszuweisung noch ehesten nachvollziehbar sind. Aber wie damit umgehen?

2. Arbeiten im Bergwerk der Geschlechterverhältnisse

Akzeptiert man eine solche Skizze der Entwicklung der Geschlechterzuschreibungen, dann werden die Fragen und Probleme allerdings nicht weniger: Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau. Dasselbe mit dem Mann? Hört sich nach einem intellektuellen Hamsterrad an, aus dem nicht zu entkommen ist. Also aufsprengen?

Ein Widerspruch bleibt jedoch bestehen: Der soziale und öffentliche Raum ist zwar erfüllt von der permanenten Zuweisung von Eigenschaften zu den Geschlechtern sowie den Diskursen und Narrativen, die sie zum Thema haben. Dennoch kann keine Rede davon sein, dass in der „individuellen Alltagswahrnehmung“ eine „überbordende Fülle an geschlechtlichen Ausdrucksformen“ zu erkennen ist, die der binären Kodierung in weiblich und männlich widersprechen, wie in der Einleitung eines jüngst erschienenen Sammelbandes zu lesen ist, der sich mit der Naturalisierung des Geschlechts in der Gegenwart beschäftigt.

Ganz im Gegenteil zu der Verwunderung, die die Herausgeber – Gero Bauer, Regina Ammicht Quinn und Ingrid Hotz-Davies – zeigen und, ironischerweise, in Übereinstimmung mit den methodischen und theoretischen Ansätzen, die in den Beiträgen des Bandes zu erkennen sind, ist der öffentliche Raum vom binären Code des Geschlechtlichen durchzogen. Die Diskurse und Narrative beschäftigen sich eher damit, Phänomenen und Ereignissen diesen binären Code überzuwerfen respektive die geschlechtsspezifischen Zugriffsweisen auf soziale Phänomene und Ereignisse vorzuführen. Das bezieht das Spiel mit den jeweiligen Reservoirs mit ein, wie etwa in einer TV-Serie wie Bones zu sehen ist, in der – gegen die Konvention – die Protagonistin rational agiert, während die zweite, männliche Hauptfigur intuitiv vorgeht.

In der Alltagserfahrung und -wahrnehmung ist also weniger die Aufhebung der binären Zuweisungen zu konstatieren, sondern deren Verfestigung, wenn nicht Zunahme. „Feministische, queere, trans* oder inter*“-Phänomene sind mithin immer noch eher marginal und auf bestimmte soziale Räume konzentriert, etwa auf Teile urbaner Zentren oder affine kulturelle Räume.

Ansonsten ist aber eine bemerkenswerte Entwicklung zu beobachten: Obwohl Konfliktfelder, die im frühen 20. Jahrhundert noch zentral waren, wie die Berufstätigkeit von Frauen, die Zuweisung geschlechtsspezifischer Berufsfelder, die kreativen und wissenschaftlichen Potenziale von Frauen, die Verfügungsgewalt von Frauen über ihre wirtschaftlichen Ressourcen, ihre Biografien und ihre sexuelle Selbstbestimmung heute als generell unproblematisch gelten, werden sie durch biologistische Modelle zumindest angegriffen. Dass sie auch in Zukunft Bestand haben werden, lässt sich eben nicht mit Bestimmtheit sagen, wozu wiederum die Alltagskultur einen Beitrag zu leisten hat: Ein Text wie Margret Atwoods The Handmaid’s Tale (1985), der jüngst seine Verfilmung im Serienformat erfahren hat, lässt erahnen, dass eine liberale Gesellschaftsordnung den aggressiven Attacken einer sich traditionell gebenden Gruppe nicht zwingend Stand halten wird, gegebenenfalls weil sie den Angriff nicht zur rechten Zeit wahrnimmt.

Die „Naturalisierung“ der binären geschlechtlichen Ordnung, die allerdings nicht erst seit jüngerer Zeit zu beobachten ist, bedarf der intensiven wissenschaftlichen, intellektuellen und eben auch politischen Diskussion. Insofern ist es geboten, die sich verstetigende Tendenz zur Naturalisierung des Geschlechts zu hinterfragen, die eben nicht in der Zunahme der zahlreichen Inter-Phänomene begründet, sondern in einem größeren gesellschaftlichen und kulturellen Rahmen zu sehen ist.

Grundsätzlich ist dabei der These zuzustimmen, dass „Geschlecht“ in seiner umfassenden Bedeutung „als soziale Konvention“ verstanden werden muss. Das untergräbt freilich nicht den Umstand, dass es eine Reihe von biologischen Merkmalen gibt, die als männliche oder weibliche Marker gelten können und die als unhintergehbar anzusehen sind. Um ein altes Argument des Rechtshistorikers Uwe Wesel zu verwenden: Das biologische Geschlecht legt geschlechtsspezifisches soziales Handeln und die gesellschaftliche Rollenverteilung eben nicht fest, es legt sie nicht einmal nahe. Auf die biologische Ausstattung müssen kulturelle und symbolische Praktiken und Zuweisungen aufsatteln, um Männer oder Frauen in dem komplexen Sinn entstehen zu lassen, der uns so natürlich zu sein scheint. Das macht das anscheinend so Einfache so enorm schwierig, zumal dann, wenn die kulturelle Reichweite männlichen und weiblichen Rollenverhaltens berücksichtigt wird. Es ist nämlich von Kultur zu Kultur, von Subkultur zu Subkultur sehr unterschiedlich, was typisch männlich oder weiblich ist. Und um die Komplexität nochmals zu erhöhen, allein in der Biologie werden, wenn man einem Beitrag von Marion Müller in dem oben angesprochenen Sammelband folgen darf, vier bis zehn Ebenen der Geschlechtsbestimmung unterschieden. Das Ganze wird also nicht einfacher, je näher man es betrachtet, was die Herausforderungen an die Gleichstellungspolitik massiv erhöht, wie dem Schlussbeitrag des Bandes, der von Maria Bizan, Gerrit Kaschuba und Barbara Stauber stammt, abzulesen ist. Angesichts der Angriffe populistischer Bewegungen auf den „Genderwahn“ und deren Betonung heterosexueller Normativität hilft aber in der Tat weder ein „unkritisches Festhalten an Kategorien wie Geschlecht“, noch zu ignorieren, dass solche Kategorien massive Ausgrenzungswirkungen haben.

Um die Symbolpolitik ums Geschlechtliche zu verstehen, müssen die organisatorischen und funktionalen Anforderungen, die mit der Trennung in Frauen und Männer erfüllt werden sollen, überhaupt erst berücksichtigt werden. Nicht einmal die biologische Ausstattung definiert Schwächen oder Stärken – der Umstand, dass Frauen Kinder gebären und Männer nicht, sagt darüber per se noch nichts aus. Erst die Organisation von Gesellschaft und deren Aufwertung durch Symbolhandeln leistet dies. Die Rede vom jeweils starken oder schwachen Geschlecht, die in der Männerforschung seit den 1970er Jahren aufgekommen ist und die jüngst noch von Lothar Böhnisch in einer Theorie des Männlichen verarbeitet wurde, ist dabei eines der Kernargumente, agiert aber bereits weit im Feld symbolischer Ausstattungen.

3. Geschlecht als Handlungsanweisung

Es ist also gerade für die hier angerissene Problematik die Frage nach den jeweiligen Funktionen sozialer Organisation zu stellen. Immerhin scheint es Konsens in der Forschung zu sein, dass die Einschreibung von Geschlecht in die soziale Struktur für die Akteure eine zentrale Orientierungshilfe darstellt. Die Zuweisung des Geschlechts mit allen sozialen Implikationen, die damit verbunden sind, reduziert Komplexität massiv und hilft im Alltag bei der Erwartung und Zuordnung von Handlungen und Eigenschaften. Dies ist in der modernen Gesellschaft, deren Veränderungsdynamik sehr hoch ist, ein hohes Gut, das nicht leicht aufzugeben ist. Der – sicherlich als double bind zu sehende – Aneignungs- und Zuweisungsprozess in der Adoleszenz zeigt dies: Personen weisen sich in dieser Phase geschlechtliche Eigenschaften selbst zu und erhalten sie zugleich von ihrer Umwelt zugewiesen. Das Geschlecht ist mithin zugleich Wahl wie Zwang. Das hört auch in den nachfolgenden Phasen nicht auf – und kann eben auch zu Fällen führen, in denen die Eindeutigkeit geschlechtlicher Eigenschaften verweigert wird. Dem stehen jene Fälle gegenüber, in denen eine basale Irritation der eindeutigen Zuweisung von Geschlecht kompensiert wird.

Darüber hinaus bleibt aber die Frage, ob die Gewissheit, dass das Geschlecht sozial bestimmt wird, keine Tautologie darstellt, da in Gesellschaften alle Unterscheidungen und Bestimmungen, mithin die Totalität der Phänomene sozialen Charakter hat. Das würde in der Konsequenz dazu führen, dass die Naturalisierung respektive Biologisierung der binären Geschlechterstruktur funktional hinterfragt werden muss, und zwar nicht als Abwehrkonzept einer patriarchalischen Basalstruktur, sondern als Kompensationsphänomen, mit dem soziales Verhalten strukturiert werden kann.

4. Adam grub und Eva spann

Der Band von Bauer et al. gibt die Möglichkeit, die Themen, die sich an die Diskussion der Rollenzuweisungen an Geschlechter anschließt, jeweils zu hinterfragen. Dabei sind die Gewissheiten basaler Zugänge zugleich zu suspendieren. War da nicht was mit der Ur-Horde und der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung? Männer jagen, Frauen machen den Rest? Adam grub und Eva spann?

Miriam Noël Haidle hinterfragt die paläoanthropologischen Annahmen zu den geschlechtsspezifischen Differenzen der urzeitlichen Menschen. Dabei wird erkennbar, dass die Zuweisung von Tätigkeiten zu den Geschlechtern aus Annahmen des 19. Jahrhunderts abgeleitet sind. Haidle verweigert also „natürliche Geschlechterrollen“ und argumentiert sehr in Richtung einer vergleichsweise offenen Gestaltung gesellschaftlicher Organisation. Gestützt wird sie dabei nicht nur davon, dass die Annahmen urzeitlicher Organisation als geleitete Spekulationen erkennbar sind (was sie noch nicht suspendiert), sondern auch davon, dass die jüngere ethnografische Forschung zwischen den gesellschaftlichen Diskursen und der damit verbundenen Praxis zu unterscheiden gelernt hat. Das Beharren auf Schemata, die historisch bedingt sind, ist zwar epistemologisch sinnvoll, aber nur bedingt belastbar.

Das korrespondiert mit der Reflexion alltäglicher Wahrnehmungs-, Einordnungs- und Bezeichnungsverfahren, die dazu führen, dass Beobachter in bestimmten Situationen annehmen, dass ihr Gegenüber weiß oder männlich ist. Bezeichnungen dienen, so Matzner, der Ein- wie Ausgrenzung, sind zudem sprachlich unhinterschreitbar, soll heißen, sprachliches Handeln und damit Orientierung in sozialen Zusammenhängen ist ohne sie nicht möglich. Das führt einerseits dazu, dass die binäre Aufteilung der sozialen Welt in zwei Geschlechter eine wichtige Funktion hat, jedoch zugleich, wie sprachliches Handeln insgesamt, alles, was nicht in das binäre Schema passt, unterschlägt bis ausschließt. Der Clou am Ansatz Matzners ist, dass er daraus nicht folgert, Bezeichnungen aufzugeben. Stattdessen plädiert er für „eine Sensibilität für potenzielle Irritationen durch Unausgesprochenes“. Was wohl bedeutet, dass das Reden von „Männern“ und „Frauen“ zwar sinnvoll sein kann, aber nicht bedeuten darf, dass Phänomene, die dieser Codierung nicht entsprechen, nicht möglich sein dürfen. Mehr noch, sie müssen in die gesellschaftlichen Prozesse selbstverständlich einbezogen werden, auch wenn sie sprachlich nicht erfasst werden. Das rührt an die Forderung an die Subjekte in der Moderne, dass sie notwendigerweise Differenz aushalten müssen, ohne dass dabei unter der Hand Unterordnungsverfahren gestartet werden.

Die Frage jedoch, die daran anschließend von Laura F. Mega gestellt wird, weist auf ein methodisches Problem hin: Sie akzeptiert zwar die orientierungs- und handlungsleitende Funktion von Geschlechtszuweisungen, verortet ihre Varianzen jedoch nicht in den kulturellen und sozialen Verfahren, sondern sieht die zentralen Beeinflussungsebenen auf individueller und politischer Ebene. Soziale und kulturelle Praxen, die weit darüber hinaus reichen, werden dabei allerdings sträflich vernachlässigt. Jedoch gelingt es ihr anhand eines Wahrnehmungsexperiments nachzuweisen, dass im Alltag Geschlecht sehr schnell und anhand weniger, als typisch klassifizierter Merkmale zugewiesen wird. Dies wird freilich nicht nur von heterosexuellen, sondern eben auch von queeren Probanden praktiziert. Die weitergehende Frage würde nun in die Richtung gehen, zu verstehen, ob und wie weit eine solche Wahrnehmung die weitere Interaktion prägt.

Wie sehr die definitive Trennung in zwei und in nur zwei Geschlechter kulturelles Handeln bestimmt, zeigt Marion Müller, die die Versuche innerhalb des Sports, die Geschlechterdivergenz zu bestimmen und aufrechtzuerhalten, untersucht. Erkennbar ist, dass aus der Grundannahme, dass zwei Geschlechter zu trennen, dabei Trans- oder Interphänome zu tilgen sind, die Bemühungen um Eindeutigkeit teils absurde Konsequenzen zeitigen. Stattdessen, so betont Müller, bestehe nur ein indirekter Zusammenhang zwischen der Geschlechtszugehörigkeit und der sportlichen Leistungsfähigkeit.

Da geschlossene Geschlechtsmodelle von traditionell orientierten Repräsentanten religiöser Bekenntnisse vertreten werden, stehen deren Basistexte, wie im Beispiel des Beitrags von Ruth Scoralick, im Fokus. Allerdings scheint das Ziel, in diesen Texten eine vergleichsweise offene Zuweisung geschlechtsspezifischer Rollen zu finden, durch die kulturellen und sozialen Kontexte mindestens ihrer Entstehungszeit, wenn nicht ihrer Überlieferung begrenzt. Aufschlussreich ist dazu eine Bemerkung von Gero Bauer, der in seinem Beitrag darauf verweist, dass das verbreitete Auftreten etwa der Homophobie in islamischen Gesellschaften und Gruppen ein historisch neues Phänomen ist, das, so Halynia Leontiy, auf kulturelle Übernahmen aus dem westlichen Kulturkreis im 19. Jahrhundert zurückgeht.

Der Verweis auf die Dynamik geschlechtsspezifischer Rollenverteilung im sozialen Raum und historischen Prozess, der von Haidle bereits betont worden ist, findet seine Resonanz bei Ingrid Hotz-Davies, die in den Erziehungsbüchern des späten 17. Jahrhunderts (exemplarisch an George Saviles Advice to a Daugher) Hinweise für ein „one-sex-model“ findet, das bis zur frühen Neuzeit Bestand gehabt habe. Folgt man diesem Modell, dann gibt es zwar den idealen Menschen, dem der ideale Mann am nächsten komme. Der Frau falle dies deutlich schwerer. Allerdings ist die Realität von Männern bestimmt, die weit entfernt davon sind, ideal zu sein: Säufer, Schläger, Geizkragen, Verrückte und mehr. Was von der Frau, deren Bestimmung in der sozialen Schicht, in der solche Erziehungsbücher entstehen und kursieren, nun die Heirat ist, besondere Anstrengungen und einen hohen Selbstbeherrschungs- und Reflexionsgrad erfordert. Allerdings werde dieser Ansatz im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts zu Gunsten eines „two-sex-models“ aufgegeben, mit dem das später als bürgerlich konnotierte Familienmodell etabliert werden kann. Um dies unanfechtbar zu machen, müssen geschlechtsspezifische Rollen, wie Hotz-Davies in ihrem Beitrag vermerkt, mehrfach ontologisiert werden. Bis hin zum Geschlechtergegensatz, ja -kampf, der das Denken um 1900 bestimmt.

Bleiben immer die derzeit so intensiv diskutierten queeren Phänomene, deren sprachliche Repräsentation den Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg gegenwärtig so in Rage zu bringen scheinen, dass er gleich mehrfach in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vorstellig geworden ist, um das grammatische Geschlecht zu verteidigen. Auf die an den Anfang gestellte Verwunderung über die Irritation durch intergeschlechtliche Personen gibt Angelika von Wahl eine teils bestürzende Antwort. Als quantitatives Phänomen sind Inter-Personen eine vergleichsweise kleine Gruppe, deren Zahl 2008 auf 80.000 bis 120.000 Personen geschätzt wurde, also deutlich weniger als 1 Prozent der Bevölkerung. In einer Bundestagsdebatte wurde 2013 nach von Wahl die Zahl von 150 bis 340 Neugeborenen pro Jahr genannt, die mit nicht eindeutigen äußeren Geschlechtsmerkmalen geboren werden. Darin nicht inbegriffen sind Phänomene, in denen körperliche Merkmale und die Selbstwahrnehmung von Personen (Intersexualität) differieren oder schwanken. Ebensowenig werden davon Homosexuelle erfasst, also Personen, deren sexuelle Präferenzen nicht dem heterosexuellen Muster entsprechen (um weder von Norm noch von Normalität zu sprechen). Auffallenderweise hat allerdings die Akzeptanz der These, Geschlechterrollen seien soziale Phänomene, in den USA der 1950er Jahren dazu geführt, dass – um den Leidensdruck von Betroffenen frühzeitig zu mindern – uneindeutige Merkmale chirurgisch korrigiert wurden, so von Wahl. Dieser grundlegende Eingriff in die körperliche Integrität, die teils massive körperliche und psychische Spätfolgen bedingt hätten, sei die Ursache dafür, so von Wahl, dass Inter*Personen dem konstruktivistischen Paradigma kritisch gegenüberstünden und sich auf biologistische Argumente zurückzögen. Eine Haltung, die nachvollziehbar ist. Deren Konsequenz – eine weitreichende Geschlechtervarianz – wird jedoch schwerlich operationalisierbar sein.

5. Wann ist der Mann ein Mann? Und wie ist er dann?

In eine andere Richtung weist Lothar Böhnisch in seinem „Entwurf einer Sozialtheorie der Männlichkeit“, womit der Irritationen zwar kein Ende gemacht werden kann, aber immerhin ist hier noch von „echten Männern“ die Rede, was immer das auch sein mag. Für Böhnisch ist Männlichkeit jedenfalls im Wesentlichen gleichfalls ein soziales Merkmal, das zwar in der biologischen Anlage mitbegründet, aber eben nicht von dort her umfassend bestimmt wird: Das „Biologische wird im Rahmen seiner sozialen und kulturellen Interpretation und Verwendung erkannt“, wogegen nichts zu sagen ist. Die neuen Konjunkturen männlichen Rollenverhaltens sieht er in der grundsätzlichen Orientierung des Mannes in der kapitalistischen Gesellschaft auf das Berufsleben begründet, die im Gegensatz zur Bedeutung des weiblich besetzten reproduktiven Bereichs steht, in den er neben der Gebärfähigkeit auch alle Bereiche der sozialen „Sorge“ verortet. Der Mann stehe damit grundsätzlich in einem widersprüchlichen Verhältnis zu seiner Berufsorientierung und der wachsenden Verfügbarkeit, der er sich in der sich dynamisierenden kapitalistischen Ökonomie ausgesetzt sieht. Dieser basalen Verfügbarkeit widerspreche grundsätzlich eine Orientierung hin zum reproduktiven Bereich, was publizistisch an der Oberfläche als Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben diskutiert wird, von Böhnisch aber tief in die Bedürfnisstruktur von Männern verlagert wird. Die Teilhabe am Reproduktiven sieht Böhnisch strukturell verhindert, was mit zu der Konstituierung anachronistischer Männerrollen führt, in denen der Mann die Verfügungsgewalt über sein Leben wiederzugewinnen versucht.

Eine analoge, diese Anamnese stützende Argumentation baut Böhnisch über eine psychoanalytische Konstruktion auf: Die Prämisse des absenten Vaters (die er aus der Berufsorientierung des Mannes ableitet) führe zu einem komplexen und widersprüchlichen Verfahren, in dem der Mann Identitätsbildung über die Auflösung der Symbiose mit der Mutter und der Orientierung auf abstrakte Männlichkeitsbilder betreiben muss. Das führe zu einer Überkompensation, die die Schwäche (nämlich den Symbiosewunsch), die in der Außenorientierung kontraproduktiv ist, überdecken soll. Die Konsequenz sei ein demonstrativ negatives Frauenbild, das mit einer verstärkten Aufwertung vorgeblich männlicher Tugenden verbunden wird: Stärke, Gewaltbereitschaft, Außenorientierung, Risikobereitschaft, Machtbewusstsein, Dominanz, mithin auch sexuelle Potenz. In einem solchen Muster haben vorgebliche Schwächen wie Flexibilität, Sorge, Angst, Empathie oder auch nur soziale Kompetenz nichts zu suchen.

Gewalt sieht Böhnisch damit strukturell im psychischen und ökonomischen System begründet: „Männlichkeit ist im institutionellen System der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung verankert.“ Das führt dazu, dass er aktuelle Männlichkeit grundsätzlich aus dem Extrem heraus definiert sieht. Die Abgrenzung nicht gewalttätiger Männer gegen gewaltaffine versteht er als den Versuch, die strukturelle Verankerung von männlicher Gewalt zu leugnen. Die Widersprüchlichkeit und die Vielfalt der Verhaltensanforderungen an den Mann führt zudem zu einer Modularisierung von Verhalten, das kontextuell gebunden wird. Je nach Kontext und Anforderung wird Männlichkeit unterschiedlich interpretiert, die Muster können modularisiert werden, um praktikabel zu sein: „Der moderne Mann ist der modularisierte Mann, der sich in unterschiedlichen Lebensbereichen sozial und im Geschlechterverhältnis entgegenkommend oder eben anpassend bis strategisch verhält, sich aber auch seiner männlichen Identität weiter versichert.“ Erschüttert sei Männlichkeit heute nicht wegen der Erfolge der Frauenbewegung, sondern wesentlich stärker wegen der „sich in den letzten Jahren häufenden Nachrichten von den ‚männlichen Verlierern‘ – Jungen in der Schule, Langzeitarbeitslose, Stressopfer, Verlassene – , die massiv auf die Erosion männlicher Dominanz verweisen.“

Um Männlichkeit in der modernen Gesellschaft neu zu situieren, seien verschiedene Anforderungen zu erfüllen: Die strukturelle Einbettung männlicher Gewalt müsse aufgehoben werden, was unter anderem durch die neuen sozialen Bewegungen ermöglicht werde, die in den Schnittstellen des kapitalistischen Verwertungssystems wirksam werden und aus ihnen heraus das System verändern können. Die von Böhnisch so genannte „männliche Dividende“, die unter anderem aus Anerkennung der Peergroup, Aufmerksamkeit der sozialen Umgebung oder vermeintlichem Zuwachs an Selbstbestimmung besteht, müsse suspendiert werden. Böhnisch versteht das männliche Geschlecht durch seine Außenorientierung als schwaches Geschlecht, dessen Schwäche eben gerade darin besteht, nicht am reproduktiven Bereich teilzunehmen. Gebärfähigkeit als zentrale Kompetenz zeichne die Frau gegenüber dem Mann aus. Das führe zu den komplexen Kompensationsverfahren, die mit Machtansprüchen und einem Gewaltprivileg verbunden werde.

Um dies aufzulösen , müsse die „Bedürftigkeit“ des Mannes wahrgenommen und akzeptiert werden. Die Ausbalancierung von Leben und Arbeit sowie die Behauptung privater, unverfügbarer Lebensräume könne mithin in eine Neukonstituierung männlicher Identitätsbildung führen. Sobald Männer in den Reproduktionsbereich integriert werden, könnten nachfolgende Generationen aus dem oben skizzierten Dilemma männlicher Identitätsbildung ausbrechen.

6. Gewaltaffinität als Kompensation von Schwäche?

Wenngleich das Konzept, das Boehnisch vorstellt, umfassend abgesichert wird und hinreichend konsistent wirkt, sind doch einige kritische Bemerkungen geboten. Das beginnt bereits mit seiner sozialhistorischen Ableitung der Entwicklung von Männlichkeit aus der Geschichte der Industrialisierung: Hier differenziert Böhnisch nicht zwischen sozialen Gruppen oder Klassen. So ist gerade bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Arbeitsquote von Frauen und damit deren Außenorientierung unter Arbeitern/innen deutlich höher als im Bürgertum. Das Familienmodell, das Böhnisch vorschwebt, ist jedoch aus dem bürgerlichen Modell abgeleitet und nicht universal. Dass es zudem ein Derivat der traditionalen geschlechtsspezifischen Trennung sozialer Räume ist, wie es etwa Pierre Bourdieu am Beispiel der kabylischen Gesellschaften Nordafrikas vorgestellt hat, sieht Böhnisch nicht. Konzediert man das jedoch, musste das Vordringen von Frauen in öffentliche Räume über die Emanzipationserfolge des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die die Arbeitsquote im proletarischen Raum übrigens nicht berührt, zu Konkurrenzen um Gestaltungsmöglichkeiten und Ressourcen, in der Folge zu heftigen Reaktionen von Männern führen, die sich in ihrem ureigenstem Feld mit einem neuen Mitbewerber beziehungsweise neuen Mitbewerberinnen konfrontiert sahen. Die rechtliche Gleichstellung von Frauen mit Männern über die Aufhebung der Vormundschaft, die strafrechtliche Relevanz von Gewalt etwa in Ehen, zeigen gleichfalls die Auflösung der traditionellen Geschlechterrollen und der Aufteilung sozialer Räume nach Geschlechtern an.

In diesem Zusammenhang steigert sich auch die Außenorientierung von Frauen, erkennbar an der Quote berufstätiger bürgerlicher Frauen seit den 1920er Jahren auch im Bürgertum. Damit verfällt zugleich das bei Böhnisch stabile Modell des männlichen Profils, nämlich eine hohe Orientierung auf Beruf und beruflichen Erfolg sowie eine geringe Teilhabe am Sozialleben. Zugleich steigt die Verfügbarkeit von Frauen grundsätzlich im kapitalistischen System nicht weniger an als die von Männern. Hinzuweisen ist zudem darauf, dass gerade in Industrien Europas und der USA im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit ungeheuren Reservearmeen gearbeitet wurde, die stetig durch die Betriebe geschleust wurden. Erst mit dem Ausbau von Arbeitnehmerrechten und dem Verständnis für die Kosten dieses Verfahrens wurde diese Praxis abgebaut. Die Prämisse Böhnischs also, dass die Verfügbarkeit von Männern grundsätzlich massiv gewachsen sei (was die Selbstbestimmungsmöglichkeiten verringert), wäre also überhaupt erst noch abzusichern und gegenüber den angeblich so viel höheren Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Frauen abzugrenzen.

Anders gewendet und mit Blick auf ein Modernemodell, das von einem gestiegenen Komplexitätsgrad und einer erhöhten Dynamik in einer Massengesellschaft ausgeht, weitet sich das Problem der geringen Selbstbestimmung und der Wirkungslosigkeit individuellen Handelns ins Allgemeine aus. Damit sind alle Individuen in solchen Gesellschaften betroffen, unabhängig von Position und Geschlecht. Böhnisch kann sich auf dieses Argument nicht weiter stützen, auch wenn für bestimmte Gruppen – eben auch rein männlicher Besetzung – dieser Umstand einen hohen verhaltensbestimmenden Einfluss hat. Um dies ableiten zu können, wären also differenziertere Modelle notwendig, die gegen andere Verhaltensweisen hinreichend stark abgegrenzt werden müssten.

Das hat anscheinend keine Auswirkungen auf die Verteilung von Lasten im Reproduktionsbereich. Folgt man den Erkenntnissen, die Böhnisch aus Befragungen ableitet, ist die Quote der Männer, die Haushalttätigkeiten übernehmen, zwar gewachsen, bleibt aber noch deutlich hinter der Beteiligung von Frauen zurück. Daraus leitet Böhnisch ein Männlichkeitsprofil ab, das als neues Muster erkennbar ist, wobei es Privilegien aus älteren Modellen übernimmt (Gewaltvorbehalt in Beziehungen, geringes Engagement im Haushalt et cetera). Auffallend ist jedoch, dass sämtliche haushaltsnahen Tätigkeiten von Männern – handwerkliche Arbeiten oder dergleichen – nicht einmal Erwähnung finden. Es scheint das Bild eines berufstätigen, ansonsten aber in der berufsfreien Zeit untätigen Mannes auf. Also: „Beine hoch, Männer“, und: „Frau, bring das Bier aus dem Kühlschrank“?

Vorbehalte sind auch beim Konstrukt des abwesenden Vaters vorzubringen, der bestenfalls am Wochenende in überzogenes Eventengagement vorfällt. In der wohl typischen Biografie Heranwachsender sind heutzutage spätestens mit dem zweiten Lebensjahr weitere Sozialisationsinstanzen wie Kindertagestätten oder dergleichen beteiligt. Die Berufstätigkeit von beiden Elternteilen hat einen hohen Anteil. Abwesende Väter wären also um abwesende Mütter zu ergänzen. Allerdings ist die Abwesenheit berufstätiger Eltern im Rahmen einer 40 Stundenwoche und 26 bis 30 Urlaubstagen von reduzierter Relevanz – oder das ganze Denkmodell, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, ist aufzugeben. Man wird zwar konzedieren können, dass die Präsenz von direkten männlichen Rollenvorbildern in den ersten Lebensjahren in der Regel geringer ist als die von weiblichen, was mit der Betreuungsstruktur, die in der Mehrzahl der Fälle gewählt wird, zusammenhängt. Ob das aber zu der von Böhnisch skizzierten erschütterten Sozialisation von männlichen Heranwachsenden führt, während weibliche Heranwachsende, folgt man dem Modell, davon unberührt bleiben, ist zu bezweifeln.

Schließlich ist das Konzept des schwachen Mannes grundlegend anzugehen. Stärke oder Schwäche sind im wesentlichen organisatorisch begründet und werden symbolisch aufgeladen. Ob Empathie oder Angst als Schwäche verstanden werden müssen, hängt jeweils vom Interpretationskontext ab. Ähnliches gilt für die Ausstattung in den jeweiligen (konventionellen) Rollenmustern.

Eine exemplarische Überlegung: Es ist anzunehmen, dass in traditionalen Gesellschaften der Umstand, dass ihre Fortsetzung an der Gebärfähigkeit von Frauen hängt, wahrgenommen wurde. Dass der männliche Beitrag dazu gleichfalls bekannt war, ist ebenfalls anzunehmen. Anders lässt sich etwa eine agrarische Wirtschaft kaum denken. Es ist zudem anzunehmen, dass etwa die Einschränkungen in der Mobilität, die durch die Belastungen von Geburt und früher Kinderversorgung, die Frauen in traditionalen Gesellschaften wohl hinnehmen mussten, zu organisatorischen Konsequenzen geführt hat. Aus dieser Konstellation eine Schwäche von Männern abzuleiten, die mit einer machtorientierten Konstruktion kompensiert worden ist, ist nicht möglich. Die organisatorischen Anforderungen, die an solche Gesellschaften durch die Gebärfähigkeit von Frauen gestellt werden, werden damit voreilig und unangemessen interpretiert. Was im übrigen nicht suspendiert, dass sich Gesellschaften im Weiteren mit einem starken geschlechtsspezifischen Machtgefälle strukturiert und unter anderem solche strukturellen Ansätze genutzt haben. Dass dies aus einer Position der Schwäche der Männer geschehen sei, ist nicht plausibel. Ganz im Gegenteil, die skizzierte Struktur gibt Männern einen Mobilitätsvorteil, der entsprechend ausgebaut werden kann – aber nicht muss.

Zudem scheint die Wortwahl von Böhnisch befremdlich, wenn er etwa von der Gebärfähigkeit „der Frau“ und nicht „von Frauen“, also von einer Gattung spricht. Angemessener wäre es, davon zu sprechen, dass es Frauen gibt, die Kinder gebären, aber eben lange nicht alle können oder wollen das. So wie eben Männer vielleicht Kinder haben wollen, aber eben nicht alle diesen Wunsch haben oder realisieren können. Die Gebärfähigkeit ist entsprechend dem weiblichen Geschlecht zuzuschreiben, aber eben immer auch zu konkretisieren. Verweigert man dies, wie im Fall Böhnischs, verlieren sich sämtliche Differenzen, was eine generische Konfrontation konstruiert, die so nicht existiert.

Vergleichbar wäre es, dem Argument Böhnischs entgegenzuhalten, dass Kriminalität ein weitgehend männliches Verhalten ist. Dies ist zwar im Grundsatz richtig, der Kurzschluss, dass kriminelles Handeln als Kompensationsverhalten einzuschätzen ist, ist aber nicht zulässig. Wie bei näherer Betrachtung des in den Kriminalstatistiken erfassten Verhaltens zu erkennen ist, sind für große Teile tatsächlich ökonomische Kriterien ursächlich. Der Umstand, dass die Kriminalitätsraten zudem insgesamt seit Jahren sinken und dieser Trend nur durch Sonderereignisse gebrochen wird, bleibt unerwähnt, wäre aber im Zusammenhang mit den neuen Konjunkturen von Männlichkeitsmodellen zu berücksichtigen.

7. Schwäche, Stärke, Männer, Frauen

Stärke und Schwäche, mithin die unterstellte Bedürftigkeit von Männern wäre also neu zu diskutieren und einzuordnen. In diesem Zusammenhang wäre zu berücksichtigen, inwiefern die verschiedenen Verhaltensmodelle in einer modernen Gesellschaft als erfolgreich anzusehen sind oder nicht. In einer Gesellschaft, die sich beständig im Umbruch befindet, ist zudem davon auszugehen, dass es neben Gewinnern auch Verlierer gibt. Ob letztere stets – soweit sie männlich sind – mit einem Rekurs auf gewalttätige Männlichkeitsmodelle reagieren, bliebe zu prüfen. Insgesamt wäre das Männlichkeitsmodell, das Böhnisch als basal und damit dominant unterstellt, zu hinterfragen. Wenn er dieses Modell von der strukturellen Gewalt der modernen Gesellschaft ableitet, während er pazifizierten Verhaltensmodellen unterstellt, sich zu weigern, die strukturellen Gewaltverhältnisse überhaupt wahrzunehmen, verschiebt er das dominante Modell des Mannes deutlich in Richtung maskuliner Aggressivität. Das aber ist angesichts der Fragilität seiner Argumentationsbasis kritisch zu bewerten. Mit anderen Worten, er könnte seine Sozialtheorie auch als (komplexeren) Beitrag zum hashtag #MenAreTrash auszeichnen, was er sicherlich verweigern würde.  Und – warum auch immer – dem will man nicht zustimmen.

Titelbild

Ingrid Hotz-Davies / Gero Bauer / Regina Ammicht Quinn (Hg.): Die Naturalisierung des Geschlechts. Zur Beharrlichkeit der Zweigeschlechtlichkeit.
Transcript Verlag, Bielefeld 2018.
223 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783837641103

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Titelbild

Lothar Böhnisch: Der modularisierte Mann. Eine Sozialtheorie der Männlichkeit.
Transcript Verlag, Bielefeld 2018.
253 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783837640755

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