Von großen Herzen in wilden Zeiten

Sebastian Barrys verblüffender Western „Tage ohne Ende“

Von Martin GaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Gaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas McNulty aus Sligo in Irland muss während der Großen Hungersnot (1845–1852) sein trauriges Heimatland verlassen. Unter schlimmsten Umständen erreicht er per Schiff Kanada, wo es ihm kaum besser geht als zuhause. So schlägt er sich bis nach Missouri durch, wo er, bekleidet mit einem alten Weizensack, der in der Taille zusammengebunden ist, auf John Cole trifft. Er mag um die 15 Jahre alt sein, John Cole wohl auch. Sie tun sich zusammen, das ist besser, als alleine durchs Land zu streifen, und kommen nach Daggsville, eine matschige Bergarbeiterstadt voller Saloons. An einem hängt ein Schild mit der Aufschrift „Saubere Jungs gesucht.“ Und so beginnt eine der unglaublichsten und schönsten, der brutalsten und anrührendsten Geschichten, die die Literatur zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs, der Indianderkriege, eben des noch jungen Amerika zu bieten hat. Tage ohne Ende des irischen Schriftstellers Sebastian Barry, der mit Büchern wie Ein verborgenes Leben (Göttingen, 2009) oder Mein fernes, fremdes Land (Göttingen, 2012) begeisterte Leser fand. Seine Heimat Irland war schon immer Stoff für seine Bücher, vor allem die aufwühlende irische Geschichte bearbeitet Barry immer wieder mit Passion und großer Könnerschaft. Zu Irland gehört auch das Auswandern, weswegen er in Tage ohne Ende erneut ein irisches Schicksal in Amerika beschreibt, hier das von Thomas McNulty in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Im Saloon von Titus Noone werden die beiden Jungs in Frauenkleider gesteckt, in denen sie Abend für Abend für die derben und dreckigen, trotzdem meist sentimentalen Männer tanzen. Und auch mit ihnen. Mehr aber nicht. Titus Noone bezahlt und behandelt sie ordentlich, weswegen John und Thomas für eine gewisse Zeit glücklich und unbeschwert sind. Das ändert sich, als ihre Körper größer und kräftiger werden, sie immer weniger grazilen Frauen ähneln und Titus Noone ihnen schließlich mit dem Satz „ihr seid keine Kitze mehr“ schweren Herzens kündigen muss. Da ist Thomas 17 und die beiden entschließen sich, zur Armee zu gehen. So werden aus ihnen Soldaten. Und ja, der Ire Barry kann Genreliteratur schreiben, in diesem Fall einen Western – und was für einen! Er geht ins Detail, beschreibt unmenschliche Kälte und nicht auszuhaltende Hitze, das alles bei meist jämmerlicher Ausrüstung. Thomas und John, aus deren Freundschaft bald mehr wird, dienen sich nach oben, halten durch, sehen Kameraden erbärmlich verrecken, erwerben sich Achtung und Respekt in der Truppe. An diese Zeit denkt der älter gewordene Thomas McNulty zurück, Sebastian Barry hat sein Buch als Thomas’ Erinnerungen verfasst:

Ich denke an die Tage ohne Ende in meinem Leben. Heute ist alles ganz anders. Ich frage mich, was für Worte wir in jener Nacht so sorglos sagten, was für heftigen Unsinn wir von uns gaben, was für betrunkene Schreie wir ausstießen, was für Freude dem Ganzen innewohnte, und ich denke, dass John Cole noch jung war und so ansehnlich wie nur einer, der je auf Erden wandelte. Jung, und daran würde sich nie was ändern. Das Herz geht einem auf, und die Seele singt. Voller Leben und zufrieden wie die Mehlschwalben unter den Dachtraufen.

Auf ganz andere Weise als seine Kollegen Cormac McCarthy (Die Abendröte im Westen), Robert Olmstead (Der Glanzrappe) oder Pete Dexter (Deadwood), aber mit ebensolcher Intensität und Sprachgewalt, lässt Sebastian Barry eine Zeit lebendig werden, die geprägt war von Rohheit und Gewalt, von Armut und Willkür.

Tage ohne Ende stellt über fast die ganze Distanz ein besonderes Duell ins Zentrum, das der Armee gegen die Indianer, speziell gegen einen sehr kämpferischen und hinterlistigen, einen Häuptling mit dem Namen Caught-His-Horse-First. Auf einem der vielen Feldzüge gegen ihn und seine Leute, töten die Soldaten viele Frauen und Kinder, ohne ihren Häuptling zu fassen zu bekommen. In dem schrecklichen und blutigen Inferno können Thomas und John ein kleines Indiandermädchen retten. Sie bringen sie ins Fort, wo sie aufgenommen und unterrichtet wird. Als beider Militärzeit endet, adoptieren sie das Mädchen, das sie Winona nennen. John Cole gibt sich als ihr Vater aus, Thomas, der im Privatleben immer häufiger Frauenkleider trägt, fungiert als Winonas Mutter.

Barrys Roman ist überbordend und ausufernd, wild, romantisch und Grenzen sprengend, der Autor, der über eine Fülle an Details verfügt, muss eine große Freude und Freiheit beim Verfassen dieses Buches gespürt haben. Das wird auch in Hans-Christian Oesers Übersetzung spürbar, die die ganz besonderen sprachlichen Fähigkeiten Barrys famos transportiert. Die dreiundzwanzig Kapitel dieses an Überraschungen reichen Buches entwickeln allerdings keinen dauerhaften Erzählstrom, zu bildhaft und lyrisch sind manche Passagen, zu viele Vergleiche und Metaphern bremsen den erwartungsfrohen Leser ein ums andere Mal. Möglicherweise wäre hier weniger mehr gewesen. Trotzdem: Tage ohne Ende ist ein außergewöhnliches Werk, dessen thematische Vielfalt und sprachliche Meisterschaft lange nachwirken und das eine der verrücktesten Liebesgeschichten der Literatur zu bieten hat.

Titelbild

Sebastian Barry: Tage ohne Ende. Roman.
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
Steidl Verlag, Göttingen 2018.
263 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783958295186

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