54.000 abgeschabte Din-A4-Blätter

Der Südtiroler Josef Oberhollenzer scheitert mit seinem Prosawerk „Sültzrather“ nicht nur an der Romanform

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist es statthaft, einen Roman daran zu messen, was der Klappentext verspricht? Dieser gehört zum Buch, ist aber als „Paratext“ (wie Gérard Genette das nannte) nicht Teil des literarischen Werks und stammt auch nicht aus der Feder des Autors. Wir erwarten von ihm Orientierung und entscheiden oft nach dem Überfliegen, ob wir uns dem Buch eingehender widmen wollen oder nicht. Entscheiden wir uns dafür, ist der Klappentext nicht mehr von Interesse. Im Fall des Romans Sültzrather des 1955 im Südtiroler Ahrntal geborenen Josef Oberhollenzers ist das anders. Was der Rückentext verrät – neben Angaben zum Inhalt vor allem die nicht alltägliche Frage „Woraus ist Erinnerung nach dem Verschwinden gemacht?“ –, weckt nicht nur die Neugier des Lesers, sondern ist auch eine Frage, die sich bei der Lektüre dieses neoavantgardistischen Romans nicht unbedingt von selbst aufdrängen würde. Ohne diese Hinweise wäre der gutwillige Leser dem, was ihn in 15 Kapiteln erwartet, ziemlich orientierungslos ausgeliefert.

Zwei Erzählkerne liegen diesen knapp 180 Seiten zugrunde. Einmal ist da das schicksalhafte Ereignis im Leben des Südtiroler Zimmermanns Vitus Sültzrather: Er stürzt im Mai des Jahres 1959 im Alter von fast 28 Jahren von einem Baugerüst und ist seitdem querschnittgelähmt. Im Rollstuhl entdeckt er das Schreiben, wird ein anerkannter Schriftsteller und lebt noch über 40 Jahre, nur von einer Zugehfrau versorgt. Der zweite, thematische Erzählkern betrifft die Poetik und den Schreibprozess Sültzrathers: In den letzten 20 Schaffensjahren schabt der Dichter das Geschriebene mit einem Messer wieder vom Papier ab. So heißt es bilanzierend in den Erinnerungen seines Großneffen:

Wenn man also 500 Din-4-Blätter mal 54 Wochen mal 20 Jahre rechnet, so hat mein Großonkel in seiner letzten Schaffensphase, die einerseits ja seine produktivste und andererseits aber in Wirklichkeit auch seine unproduktivste gewesen ist, 54.000 Din-A4-Blätter vollgeschrieben und abgeschabt, abgekratzt, ausgelöscht.

In diesem Vernichtungsakt sieht der Schriftsteller sein eigentliches, „sein vollkommen makelloses werk“. „Jeder Satz, den ich streiche, wiegt schwerer als all die Sätze, die heute geschrieben sind“ – das bringt Sültzrathers negative Produktionsästhetik auf den Punkt. Damit ist ein veritables Thema angedeutet, das nicht erst seit Elias Canettis Blendung oder Thomas Bernhards Korrektur und Auslöschung die Literatur beschäftigt – die „Schriftvernichtung“, wie es Mona Körte in ihrer Studie Essbare Lettern, brennendes Buch aus dem Jahr 2012 nennt.

Es hätte auch das Hauptthema in Oberhollenzers Roman sein können, wenn dieser es nicht darauf angelegt hätte, es mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln unkenntlich zu machen, sofern es denn – wie es der Klappentext suggeriert – überhaupt sein Thema war. Dass Sültzrather mit nichts weniger als mit einem Roman zu tun hat, bedarf keiner Diskussion – ist doch „Roman“ ein Marketing-Label, das schon seit geraumer Zeit, einhergehend mit der Erosion normativer Verbindlichkeit in der Gattungspoetik, an Aussagekraft verloren hat.

Die beiden genannten Erzählkerne sind in keiner Weise bestimmend für den Erzählverlauf: Sie strukturieren ihn weder chronologisch noch inhaltlich; das meiste, wovon in den Episoden die Rede ist, hat keinerlei Bezug darauf oder beleuchtet es nur indirekt, gebunden an zahlreiche Personen aus dem Umfeld des Protagonisten (ein vorangestelltes Personenverzeichnis würde einem Roman von Fjodor Michailowitsch Dostojewski alle Ehre machen). In mehr als einem Drittel der Abschnitte kommt Sültzrather gar nicht vor; sie sind thematisch völlig disparat und bilden mitunter abgeschlossene Prosastücke zu Themen wie „Krieg“ oder „Europa“, die einem ganz anderen Zusammenhang entrissen scheinen. Das angeblich Wichtigste verliert sich in einem Wust von Abschweifungen und diversen Textebenen (auch Traumerzählungen sind darunter) und taucht nur wie beiläufig auf. Die Hauptfigur gewinnt keine rechte Kontur, geschweige denn psychologische Tiefe, weil es an erzählerischem Fokus fehlt. Inhaltlich zerfasert alles in Nebensächlichkeiten und Details. Als einzige Probe von Sültzrathers Dichtkunst wird ein kleines biblisches Versepos über einen Sohn Noahs, so kryptisch wie apokryph anmutend, als Typoskript wiedergegeben.

Auch auf der Darstellungsebene ist der Text fragmentiert bis an die Grenze der Unlesbarkeit. Es ist, als hätte Oberhollenzer alle Schreibverfahren und Stilmittel aus dem Musterkoffer modernistisch-experimenteller Poetik in Anschlag bringen wollen. Neben der notorischen Kleinschrift bremsen auf Satzebene einmontierte Typoskriptbrocken in entsprechender Optik sowie Zitatmontagen im Fettdruck den Lesefluss. Man muss unentwegt zweigleisig lesen, da ein Fußnotentext mit über 200, mitunter halbseitigen, Anmerkungen bis zum Schluss durchläuft, wie Arno Schmidts Zettels Traum en miniature, wobei die Verteilung auf Haupt- und Anmerkungsteil nichts über Relevanz des Mitgeteilten verrät, ja oft die Hierarchie konterkariert. Der Fußnotentext ist dabei meist kohärenter und in einer klareren Syntax abgefasst.

Der Roman ist hochgradig intertextuell instrumentiert. Die Literaturverweise in den Fußnoten reichen vom 15. Jahrhundert bis zu zeitgenössischen Autoren – stets mit philologisch-umständlicher Quellenangabe – und gehen quer durch alle Genres. Neben den zahlreichen Motti stehen sie allenfalls in einer assoziativen Beziehung zum Haupttext, strukturieren keinen Bedeutungsraum und bieten als einzigen, matten Reiz, dass fiktive und reale Quellen vermischt werden. Erzählt wird nichtlinear-assoziativ in einem indirekten Modus: Entweder kommt Sültzrather in Zitaten aus seinen Notizbüchern selbst zu Wort, werden die Erinnerungen seines Großneffen referiert oder eine „F.“ genannte Vermittlerfigur berichtet im Dauer-Konjunktiv. Das ist stilistisch nur schlechtes Bernhard-Epigonentum, ebenso wie der durchgehend überladene Satzbau mit seinen Bandwurmsätzen, freilich ohne die Musikalität der Bernhardschen Prosa. Anders als beim großen Vorbild ist es hier nicht stilbildend, sondern nur verständnishemmend und anstrengend. Außerdem sollte sich langsam herumgesprochen haben, dass sich der bernhardeske Erzählton, der in den vergangenen Jahrzehnten etliche Erzähler zu Adaptionen und stilistischen Umbildungen inspiriert hat, als Stilvorbild mittlerweile verbraucht hat und nicht mehr trägt.

Aber ist bewusst erschwerte Lesbarkeit denn überhaupt ein Wertungskriterium? Entspricht – so ließe sich einwenden – ein stark fragmentiertes, kaum fokussiertes, nicht Wichtiges und Unwichtiges hierarchisierendes Schreiben dem ungesteuerten Erinnerungsprozess nicht viel mehr als eine lineare und geglättete Textoberfläche? Das wäre richtig, wenn es nicht dem Autor an nichts so sehr fehlen würde wie an der Ökonomie der Mittel. Wenn diese Mittel allesamt aus dem Baukasten einer in die Jahre gekommenen Prosa-Avantgarde stammen, leidet das Lesevergnügen merklich. Nichts wirkt veralteter als die neuesten Schreibformen von gestern, wenn sie wie hier gehäuft und unkontrolliert aufgewärmt werden. Oberhollenzer hat sich offensichtlich zu viel vorgenommen; das Kernthema der „Auslöschung“ des Dichtwerks wird nicht plausibel entfaltet, da es von anderen Motiven überwuchert wird. Das literarische Spiel mit der Vermischung von Erfundenem und Realem in einer fiktiven Dichterbiografie ist, wenn man Meilensteile wie Vladimir Nabokovs Sebastian Knight oder Wolfgang Hildesheimers Marbot im Kopf hat, nur mäßig unterhaltsam. Dem Autor gelingt unfreiwillig das, was von seinem Protagonisten Sültzrather mehr oder weniger nur behauptet wird: die „Auslöschung“ seines Sujets durch mangelnde Ökonomie und Überinstrumentierung.

Wie frisch dagegen liest sich heute noch – trotz Kleinschreibung! – beispielsweise das poetologisch vergleichbare Porträt Aus dem Leben Hödlmosers (1973 erstmals erschienen) eines steirischen Originals von Reinhard P. Gruber und wie geistreich und souverän in der Sprachbeherrschung sind die Pastiches und Philologie-Persiflagen des Büchnerpreisträgers Jan Wagner zu ebenso fiktiven Dichtergestalten wie es Sültzrather ist (Die Eulenhasser in den Hallenhäusern, Hanser 2012). Oberhollenzer, dessen Roman es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte, hat der Tradition der österreichischen Avantgarde, die seit der klassischen Literaturmoderne der Jahrhundertwende und des frühen 20. Jahrhunderts über die Wiener und Grazer Gruppe hinaus für die Literatur im deutschsprachigen Raum impulsgebend und maßstabsetzend war, einen schlechten Dienst erwiesen.

Titelbild

Josef Oberhollenzer: Sültzrather. Roman.
Folio Verlag, Wien 2018.
180 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783852567419

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