Notizen jenseits des Fiktiven

Mit dem Band „Ohne Umkehr“ veröffentlicht Günter Kunert weitere Notate aus seinem „BIG BOOK“ – diesmal ist die unmittelbare Gegenwart Hintergrund der Aufzeichnungen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das BIG BOOK genannte Schreibprojekt Günter Kunerts ist eine Mischung aus Traumnotaten, Erinnerungssplittern, Erzähl- und Gedichtskizzen, Aphorismen und Aufzeichnungen zur Tagesaktualität. Kunert (geb. 1929) führt es seit mehr als vier Jahrzehnten und publiziert von Zeit zu Zeit Auszüge aus dem tagebuchähnlichen Vorhaben. So sind seit der Jahrtausendwende  zwei Sammlungen mit Traumnotaten (Nächtlings abseits, Leipzig 2008, und Nächtlings verwandelt, Bayreuth 2016) sowie die Aufzeichnungsbände Gestern bleibt heute (Neumarkt 2009), Die Geburt der Sprichwörter (Göttingen 2011) und Tröstliche Katastrophen (München 2016) erschienen. In der letztgenannten Sammlung finden sich ausgewählte Reflexionen, Notate, Erinnerungen und Aphorismen aus den Jahren 1999 bis 2011. Ohne Umkehr schließt zeitlich daran an und führt seine Leser bis in die unmittelbare Gegenwart.

Kunert hängt seit jeher das Attribut des pessimistisch auf Welt und Menschen Blickenden an. Das weiß er auch selbst, wenn er formuliert: „Ich habe mir, teils mühevoll, teils leichthin, einen schlechten Ruf geschaffen, als Schwarzseher, Nihilist, Untergangsprediger.“ Als die „männliche Kassandra von Kaisborstel“ – seit seiner Übersiedlung in den Westen 1979 lebt Kunert in der knapp 80 Einwohner zählenden Gemeinde Kaisborstel nördlich von Itzehoe – charakterisierte er sich selbst 2009 in einem Gespräch anlässlich seines 80. Geburtstages und setzte mit einem Aphorismus von Felix Pollack hinzu: „Ein Hellseher, der kein Schwarzseher ist, ist kein richtiger Hellseher.“

Entsprechend kommt Ohne Umkehr nicht nur abgeklärt und frei von allen Illusionen daher, die Kunert einst als beginnenden Autor noch kennzeichneten, sondern der Dichter hat, was die modernen Weltläufte betrifft, auch kaum noch die Kraft zum Hoffen. Was sich in unseren Tagen zwischen Syrien und der Ostukraine, dem Mittelmeer und den Ländern des sogenannten „Arabischen Frühlings“, einem nur noch auf sich bedachten Amerika, dem emporstrebenden China und einem heftig um seine alte Bedeutung im internationalen Kräftespiel ringenden Russland abspielt, bezeichnet er als „Hinschliddern am Abgrund“. „Etwas liegt in der Luft. Etwas hat sich verändert. Etwas beunruhigt die Menschen nach einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Ruhe“, heißt es da. Dieses „Etwas“, da ist sich Kunert ziemlich sicher, ist nichts Geringeres als eine „Zeitenwende“, die niemanden, der auf dieser Erde lebt, auf Dauer unbeschadet lassen wird.  

In solchen Zeiten noch zu dichten, will deshalb kaum mehr gelingen: „Schon seit längerem ist mein Interesse am Fiktionalen erloschen. Die Realität hat alle Fantasie übertroffen und aus dem Feld geschlagen.“ Dass das Wort eine Macht besitzt, die Herzen ergreifen und Menschen besser machen kann, ist für Kunert kein Mantra mehr. Dennoch hängt er weiterhin an der „Goldwäscherarbeit“ des Lyrikers, der oft tage- oder gar wochenlang nach dem einen einzigen Wort sucht, ohne das er das Gedicht verloren geben müsste. Bei dem Warum dieser oft nächtelangen Anstrengung ist die selbst gegebene Antwort allerdings ernüchternd: „Verstehst du, warum ich das tue? Nein? Ich auch nicht.“

Nicht immer ist Kunerts Erinnerung ganz zuverlässig – etwa wenn er aus dem in Heinrich Heines Vorrede zur französischen Ausgabe der Lutetia auftretenden „Krautkrämer“ einen „Fischhändler“ macht. Doch gegen „das Vergessen […]; vor allem: gegen meine Vergesslichkeit“ anzuschreiben und damit eine Art von höherem Gedächtnistraining zu praktizieren, ist wohl Antrieb genug, sich auch weiterhin mit der „Herstellung von Literatur“ zu beschäftigen. Und so werden in mal gelungenen – „Mit dem Alter kehrt die Kindheit zurück. Zuerst als Erinnerung, dann als Verhalten.“ –, mal weniger gelungenen Aphorismen – „Ich bin Autodidakt, Autofahrer und erwarte nur noch die Autopsie.“ –, der Wiedergabe von (in der Regel Alb-) Träumen und zahllosen Alltagsbetrachtungen die Fesseln beschrieben, die Günter Kunert noch an diese Welt ketten.

Für den Leser freilich ist das Ganze eine Fundgrube, in die einzutauchen er sich Zeit nehmen sollte – denn es lohnt sich wirklich. „Dass immer weniger gelesen wird, dass die Mehrheit der Leute auf Literatur verzichtet und sich den bunten und nichtigen Bilderströmen hingibt, auf denen es sich gut treiben lässt“, wird er da zum Beispiel vernehmen und, das schmale Buch aufgeschlagen vor sich, von dem guten Gefühl erfüllt sein, zu jenen Auserwählten zu zählen, für die Günter Kunert auch in seinem neunzigsten Lebensjahr noch fleißig die Seiten füllt.

Titelbild

Günter Kunert: Ohne Umkehr. Erinnerungen für morgen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
170 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783835333314

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