Literarische Geschichtspolitik

Susanne Hantke untersucht die Entstehungsgeschichte des Romans „Nackt unter Wölfen“ von Bruno Apitz

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Stefan Heym stammt das ironisch abschätzige Urteil, der Kollege Bruno Apitz habe mehr als ein Buch nicht zustande gebracht. Aber dieses eine, das Buchenwald-Epos Nackt unter Wölfen, hatte einen Erfolg, von dem selbst Heym, der keine literarische Nischen-Existenz führte, nur träumen konnte. Erschienen im Sommer 1958 im Mitteldeutschen Verlag in einer Auflage von 10.000, hatte das Buch am Ende des folgenden Jahres bereits 200.000 Käufer gefunden. Bis 1989 wurden in der DDR ungefähr zwei Millionen Exemplare unter die Leute gebracht. Übersetzt in 30 Sprachen mit einer Gesamtauflage von geschätzten drei Millionen, wurde der Roman ein Weltbestseller, der einzige, den die DDR je hervorgebracht hat. In den neunten und zehnten Klassen der Schulen zählte er neben Texten von Anna Seghers, Arnold Zweig, Heinrich Mann, Friedrich Wolf und Johannes R. Becher zur Pflichtlektüre. 1961 brachte der Rowohlt Verlag eine Taschenbuchausgabe heraus, in der DDR gab es Fernseh-, Rundfunk- und Kinoadaptionen. Der zuvor weithin unbekannte Apitz wurde gleichsam über Nacht berühmt, überschüttet mit Einladungen, Interviewwünschen und Ehrungen. Während sein Text im Osten kanonische Geltung erlangte, meldeten sich im Westen auch kritische Stimmen. Marcel Reich-Ranicki etwa monierte einen Mangel an Realitätsgehalt, die erzählte Geschichte sei sentimentale Erinnerungsdidaktik, verfasst von einem in den Gefilden der Literatur herumirrenden Dilettanten.

Mit welchen Strategien und in welchen Kontexten Nackt unter Wölfen zu einem Kultbuch der antifaschistischen Literatur aufrücken konnte, schildert Susanne Hantke. Schreiben und Tilgen, so der Titel ihrer Studie, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Entstehungsprozess des Buches, auf die Gründe für umfängliche Veränderungen der Fabel, auf Streichungen, Überarbeitungen, Ergänzungen und Erweiterungen. Dem kam zugute, dass die verschiedenen Fassungen des Textes relativ gut überliefert sind. Die einzelnen Etappen der Romanproduktion ließen sich daher detailliert rekonstruieren. Beteiligt waren daran die Zensurinstanzen der Staatsmacht, ehemalige Buchenwald-Häftlinge und das Lektorat des Mitteldeutschen Verlags in Halle, hier vor allem Martin Gustav Schmidt, der 1958 in die Bundesrepublik übersiedelte, wo er im literarischen Betrieb als Martin Gregor-Dellin rasch Fuß fasste. Dass die gemeinsame Arbeit am Manuskript nicht immer einfach war, kann man sich gut vorstellen. Daran erinnerte sich Gregor-Dellin ebenso wie Apitz. Solange er geschrieben habe, notierte dieser, sei er der „Gott“ in seiner Welt gewesen, in die niemand habe hineinreden können. Als sich dann aber die Lektoren des Werks bemächtigten und ihre Urteile fällten, sei eine „gefährliche Vielgötterei“ entstanden. Noch Jahre später ist die Enttäuschung über die Entzauberung und den Verlust auktorialer Souveränität zu ahnen: „Der gestürzte Gott wird zum armen Häschen, auf freier Wildbahn umstellt von seinen Häschern. Ihre Fangzähne und die gestreckten Zeigefinger: Das stimmt nicht und jenes ist falsch, und dies mußt du so schreiben, und das hier ist überhaupt unmöglich.“

Nackt unter Wölfen ist kein wie immer gearteter autobiografischer Roman, aber eingeflossen sind die Erfahrungen schon, die Apitz während der achtjährigen Haft im Konzentrationslager Buchenwald gemacht hatte. Diese zu verarbeiten und das ‚richtige‘ Bild über die Verhältnisse dort zu vermitteln, war für den Autor gleichermaßen Motiv und Stimulanz. Im Mittelpunkt stehen zwei Geschichten, die unterschiedlich viel Raum beanspruchen, sich alsbald ineinander verknäueln und den Leser bis zum Schluss in Atem halten: Zum einen die der Hilfe für einen dreijährigen polnisch-jüdischen Knaben, der mit einem Transport aus dem Vernichtungslager Auschwitz im Frühjahr 1945 nach Buchenwald kommt, versteckt im Koffer eines Mannes, der in Wirklichkeit der Vater war, im Roman aber eine Figur, die ohne Konturen bleibt. Zum andern geht es um das, was als Selbstbefreiung des Lagers durch tatbereite, umsichtig und entschlossen agierende Kommunisten in der historischen Selbstverortung der DDR eine zentrale Rolle spielte, tatsächlich und wesentlich jedoch nur durch die näher rückenden amerikanischen Truppen ermöglicht worden ist.

Als sich die beiden Konstellationen immer weiter ineinander schieben, brechen existentielle Konflikte auf. Die Rettung des Kindes gefährdet den von den Kommunisten im Untergrund organisierten Widerstand. Die Zwangslagen, die daraus erwachsen, die Notwendigkeit, die geheime Organisation, deren Pläne und Aktivitäten vor der SS zu verbergen wiederum bedrohen das Leben des Jungen. Die alles entscheidende Frage kreist um die Geltung von Mitgefühl, Humanität und Parteiräson. Wie schwer es ist, dies zur Deckung zu bringen, lässt der Roman zumindest ahnen, die komplexen Hintergründe beleuchtet Susanne Hantke mit ihrer äußerst informativen, breit recherchierten und überzeugend argumentierenden Studie. Ihre Absicht ist es, den „Konstituierungsprozess einer literarischen Sinnbildung über Buchenwald“ zu entschlüsseln. Dabei war Apitz mannigfachen Einflüssen ausgesetzt, solchen von außen und solchen von innen: „den apologetischen Bemühungen der Buchenwald-Kommunisten, den staatsoffiziell beförderten Buchenwald-Narrativen und den subjektiven Erfahrungen an die eigene KZ-Haft.“

Um dies zu veranschaulichen, bedarf es der sorgfältigen Analyse der überlieferten Manuskriptschichten. Um zu verstehen, warum der Roman „Geschichte schrieb“, wird darüber hinaus das Augenmerk auf biografische und historisch-politische Kontexte gelenkt. Möglich wurde eine vorsichtige Relativierung petrifizierter Deutungsangebote erst in den späten 1980er Jahren. Vollends verschoben sich die Rezeptionshorizonte mit dem Ende der DDR. Nun wurden in entgegengesetztem Pendelschlag die Leerstellen, auch die Schwächen des Romans hervorgehoben, etwa die völlige Abwesenheit des Holocaust, die Elemente von Kolportage und Legende. Ruth Klüger monierte, dass Apitz für das Schicksal der Juden jede Empathie vermissen lasse. Tatsächlich erschöpft er sich in seinem Roman in Floskeln und Stereotypen, die Verfolgungserfahrung der jüdischen Häftlinge bleibt randständig. Klüger sprach in diesem Zusammenhang von „KZ-Sentimentalität“. Der Mitarbeiter in der Gedenkstätte Buchenwald, Harry Stein, konstatierte, die „Botschaft des Romans“ gehe „gänzlich an der Realität des Lagers vorbei“. Die Überlebenden habe sie mit einer „erdrückenden normativen Hypothek“ befrachtet, überdies in der DDR dazu beigetragen, dem eigentlichen Problem, nämlich der Dominanz der kommunistischen Kapos in der Lagergesellschaft und dem moralpolitischen Preis, der dafür zu entrichten war, mit „beharrlichem Verschweigen“ zu begegnen. Das habe die Erzählung „ins Formelhafte“ abgleiten lassen.

Über die literarische Qualität von Nackt unter Wölfen zu räsonieren, ist Susanne Hantkes Sache nicht. Ihr Anliegen zielt vielmehr auf Historisierung des Romans und seiner Entstehungsbedingungen. Das macht sie in zwei übersichtlich gegliederten Teilabschnitten, zunächst geht sie auf das Leben und die Lebensumstände des Autors ein, um sich dann der „textgenerischen Rekonstruktion des Schreibprozesses“ zuzuwenden. Schnell wird klar, wie stark das eine mit dem anderen zusammenhängt, wie sehr die biografischen Erfahrungen, vor allem aber die von der SED gesetzten geschichtspolitischen Rahmungen auf die Herstellung eines druckreifen Manuskripts eingewirkt haben. Apitz selbst hat übrigens öffentlich nie die korrigierenden Interventionen Dritter eingestehen wollen. Danach zu forschen hätte, wie Hantke vermutet, die „Autonomie der Autorschaft zur Disposition“ gestellt. Das wäre insofern heikel gewesen, als es missliebige Diskussionen hätte auslösen können über „Zensur und Selbstzensur“, über Anpassung und von außen gesteuertes „Passendmachen“, was wiederum den „sakrosankten“ Status des Werkes wie seines Autors hätten beschädigen oder doch zumindest relativieren können.

Apitz, der aus einer in Leipzig ansässigen Proletarierfamilie stammte, war ein überzeugungstreuer Kommunist. Während der späten 1920er Jahre arbeitete er für die Partei in der Abteilung Agitprop, bereits im Mai 1933 wurde er verhaftet und in verschiedenen Zwischenlagern verwahrt, ehe er im November 1937 in Buchenwald eingeliefert wurde. Er gehörte zu den Häftlingen der ersten Stunde. Schon früh gelang es ihm, seine künstlerische Begabung und seine als Autodidakt erworbenen Fertigkeiten für die Schaffung einer Art Nischenexistenz zu nutzen. SS-Führer beauftragten ihn mit Schnitz- und Bildhauerarbeiten, er dichtete Couplets, entwarf Sketche und kleine Bühnenstücke. Im Block der Pathologie, wo er die letzten Jahre bis zur Befreiung verbrachte, verfügte er über Tisch, Papier und Schreibmaschine. Gesegnet mit mancherlei Talenten, erlangte er nach und nach ein gewisses Maß an Prominenz, erhielt Einblick in die parasitären Lebensweisen der höheren und mittleren SS-Chargen und genoss diese oder jene Vergünstigung. Wie das der übrigen Inhaftierten war sein Leben zwar prinzipiell gefährdet und konnte sich von einem zum anderen Tag grundlegend ändern. Dessen ‚materieller‘ Zuschnitt aber hob sich von dem der Majorität seiner Leidensgefährten ab.

 Apitz war kein Kapo, also kein Mitglied der Häftlingsselbstverwaltung, sondern führte auf seine Weise die Existenz eines privilegierten Sklaven, was immerhin einen gewissen Schutz vor der Willkür des Lagerregimes bot. Die chaotischen Tage unmittelbar vor der Befreiung verbrachte er versteckt in  einem Kanalschacht, weil er zusammen mit einigen Dutzend anderer Kommunisten, derer sich die SS vermutlich entledigen wollte, auf einer Liste vermerkt war. Nach seiner Rückkehr ins zivile Leben arbeitete er für Presse und Theater, 1950 fand er für einige Jahre Unterschlupf bei der DEFA. Entfalten konnte er sich dort allerdings nicht. Der Versuch, einen Film über Buchenwald unterzubringen, scheiterte, weil man die Thematik nicht für vordringlich hielt und Apitz die Durchführung eines solchen Projekts nicht zutraute. Dieser Misserfolg wurde zum Katalysator für den späteren Roman, denn schon das Filmexposé hatte die Rettung eines polnischen Waisenjungen mit der Befreiung Buchenwalds verknüpfen wollen. 1955 begann Apitz, der ohne Stellung in „bedrückender Mittellosigkeit“ lebte, mit der Niederschrift, drei Jahre später war das Buch auf dem Markt.

Der Prozess des Schreibens ähnelte einer Wanderung durch geschichtspolitisches Minenfeld. „Die Entstehung des Romans“, betont Hantke, „war eng verflochten mit den persönlichen und offiziösen Erinnerungen ehemaliger Buchenwaldhäftlinge.“ Diese allerdings hatten ein Problem, nämlich die partielle Kooperation mit der SS. Das diente dem Schutz gefährdeter Kameraden, was häufig jedoch nur möglich war, wenn man jemanden anderen ans Messer lieferte, diente der Tarnung der Widerstandsorganisation, dem Sammeln von Informationen und der Vorbereitung des bewaffneten Kampfes, sobald die Situation dafür günstig erschien. Hinzu kam ein Zweites: Die Geltungsansprüche der Buchenwalder, die anfangs mit höheren Positionen im Staats- und Parteiapparat betraut worden waren, kollidierten schon bald mit den Machtambitionen jener Gruppen, die im Schatten der Roten Armee in die russische Besatzungszone eingerückt waren. Die Strategie der ‚Moskauer‘ jedenfalls lief auf Diskreditierung und Marginalisierung der unliebsamen Konkurrenz hinaus.

Als Vehikel nutzte man parteiinterne Verfahren, auch solche vor der Sowjetischen Militärjustiz. Die Vorwürfe lauteten: Korrumpierung und Kollaboration mit den Organen des Faschismus, Mitwirkung bei Misshandlungen und Beihilfe zum Mord. Vor diesem Hintergrund bemühte sich Apitz, die Akte von Widerständigkeit zu rehabilitieren und ihnen ein Denkmal zu setzen, dabei das moralische Dilemma, das im Kurs der kommunistischen Funktionshäftlinge steckte, nicht zu verschweigen, es jedoch im selben Atemzug zu rechtfertigen und am Ende durch die Zusammenführung von Kindsrettung und Selbstbefreiung aufzulösen. Dies alles ließ sich indes nur realisieren, indem er sich zunehmend an den von der SED vorgestanzten Narrativen orientierte. In dem Maß, wie in der DDR „Nackt unter Wölfen“ als „antifaschistische Heilsgeschichte“ gelesen wurde, so abschließend die Autorin, blieben „der bittere Preis des Überlebens, die Erfahrung tragischer Verstrickung kommunistischer Häftlinge und die Grenzen ihres Widerstandes“ in einem von Willkür geprägten Terrorsystem weitgehend „ausgeblendet.“ Das galt für die Rezeption des Romans ebenso wie für das öffentliche „Buchenwald-Gedächtnis“. Dies  unaufgeregt und facettenreich ins Bewusstsein zu rufen, ist das Verdienst der Studie von Susanne Hantke. Mit ihr dürfte zur Causa Apitz ein letztes Wort gesprochen sein.

Titelbild

Susanne Hantke: Schreiben und Tilgen. Bruno Apitz und die Entstehung des Buchenwald-Romans „Nackt unter Wölfen“.
Herausgegeben von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
400 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783835332003

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