Frische Denkluft gegen den Muff im deutschen Islam

Lale Akgün ruft: „Platz da! Hier kommen die aufgeklärten Muslime“

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Platz da, hier kommen die Jecken! So ertönt es im Kölner Karneval. Aber das neue Buch der Kölner Psychotherapeutin, SPD-Politikerin, Hochschullehrerin und humoristischen literarischen Autorin Lale Akgün ist ein sehr ernsthaftes und ernstzunehmendes Buch, auch wenn manche es für jeck halten dürften, in die fast hoffnungslos emotionalisierte und ideologisierte Islam-Debatte aufklärend eingreifen zu wollen, in der geifernde Islam-Beschimpfer und muffige Islam-Apologeten am Aufmerksamkeits-Markt miteinander konkurrieren. Akgüns Buch plädiert für Aufklärung im Islam und führt selber eine solche exemplarisch und lehrreich vor. Die Autorin hat sich aus vielen Schriften anderer belehren lassen, so nennt sie aus Deutschland zum Beispiel Mouhanad Khorchide, Lamya Kaddor, Seyran Ateş, aus anderen Ländern Gilles Kepel, Fatima Mernissi, Nasr Hamit Abu Zaid, die türkischen Theologinnen der verdienstvollen, heute plattgemachten Ankara-Schule Bahriye Üçok, die wie der Journalist Uğur Mumcu Opfer eines islamistischen Attentats wurde, und Beyza Bilgin, die sie oft zitiert. Es versteht sich, dass weitere bedeutende Namen wie Mohammed Arkoun oder Abdelwahab Meddeb hätten dazukommen können. (Von dem neuen Buch Die islamische Aufklärung von Christopher de Bellaigue ist dagegen wohl eher abzuraten.) So sachlich gehaltvoll und reich an nützlichen Informationen und bedenkenswerten Argumenten das Buch Akgüns einerseits ist, so urteilsfreudig, persönlich glaubwürdig und erfahrungsgesättigt ist es andererseits. Und es ist höchst aktuell: Das sieht man schon daran, dass die Autorin ständig und richtig auf die neonationalistisch islamfeindliche AfD hinweist und am häufigsten von allen den Namen Recep Tayyip Erdoğan nennt. Ab und zu lugt sogar die Humoristin hervor, und sei es nur, dass sie erklärt, ihr Humor habe Grenzen.

Platz da, hier kommen die aufgeklärten Muslime! ist ebenso klar gegliedert wie geschrieben. Eine scharfe und scharfsichtige kritische Diagnose zum zeitgenössischen Islam in Deutschland und der Welt verbindet sich mit dem Appell an Muslime, Politiker und Bürger, gegen den derzeitig vorherrschenden orthodox erstarrten und politisch missbrauchten einen reformierten, aufgeklärten, liberalen, demokratischen Islam zu fördern. Das Buch wird eingerahmt von zehn vorangestellten Thesen über die Notwendigkeit einer solchen Erneuerung des Islams und von einer abschließenden persönlichen Bekundung der Autorin, die sich als ebenso treue wie freie Muslimin bekennt. Das unterstreicht sie glaubwürdig auch innerhalb des Buches wiederholt, an einer Stelle beruft sie sich ebenso anrührend wie auch mit gutem Grund auf ihren Großvater aus Edirne, der über das leidige Kopftuch weise dargelegt hatte: „Wenn Gott gewollt hätte, dass Frauen ihr Haupthaar nicht zeigen, hätte er sie wohl ohne Haupthaar geschaffen.“

Das Diagnose-Appell-Programm des Textes wird in sieben griffig aufgebauten und gegliederten Kapiteln umgesetzt, die alle jeweils mit einer Zusammenfassung schließen. Im ersten wird umrissen, wie sich der Islam, Diskurse über ihn und staatliches Handeln gegenüber ihm heute in Deutschland darstellen und welche empfindlichen Widersprüche zwischen der Mentalität und Strategie der dominierenden muslimischen Organisationen und den Anforderungen einer aufgeklärten, modernen Gesellschaft und des säkularen, gegenüber allen Religionen neutralen, allgemeine Grund- und Menschenrechte garantierenden demokratischen Staates bestehen. Diese Organisationen zeigen sich nicht bereit, die Regeln des Islams denen des Rechtsstaats uneingeschränkt unterzuordnen. Dabei haben gerade sie ihr Tun und Lassen in Deutschland und Europa allein der Aufklärung und Säkularität zu danken.

Im zweiten Kapitel folgt eine weltweite und kritische Musterung der „vielen Gesichter des politischen Islams“ und des „Islamismus“, das heißt des für politische Macht missbrauchten Islams, sei es nur als Herrschaftsideologie, sei es als Rechtfertigung terroristischer Gewalt, der sich global im Vormarsch befindet. Sie alle haben gemeinsam: Ablehnung der für einen demokratischen Rechtsstaat unverzichtbaren Trennung von Staat und Religion(en) und Überordnung religiöser Rechtsregeln (Scharia) über allgemeine Grund- und Menschenrechte. Weil die verantwortlichen Politiker das zu lange nicht haben sehen wollen, sondern mit Organisationen des politischen Islams sogar zusammengearbeitet haben, spinnt heute ein aggressiver, antidemokratischer Islamismus auch in Europa seine Fäden. Namentlich die bisherige deutsche Politik hat zu Stärkung dieser gefährlichen Richtung des Islams beigetragen, indem sie in den falschen Verbänden „Ansprechpartner“, „Brückenbauer“ und „Türöffner“ der Integration von Einwanderern gesehen hat.

Das dritte Kapitel erörtert die Möglichkeit und Notwendigkeit einer grundlegenden Reform des Islams. Dazu gehören theologische, sprachliche und Bildungs-Grundlagen. Es muss eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit den theologischen Quellen des Islams (Koran und Sunna) geführt werden: namentlich mit solchen Geboten, die, wörtlich verstanden, nicht mit der heutigen Zeit kompatibel sind, vor allem aber mit denjenigen, die Gewalt, egal in welcher Form, rechtfertigen. Der Koran enthält für Muslime zwar Gottes Offenbarung, aber für aufgeklärte ist er zugleich eine „religiöse Erzählung“ in einer menschlichen Sprache. Sein Geist, seine zeitlose Botschaft ist, um zu wirken, auf zeitgemäße Übersetzungen und Interpretationen angewiesen: „Gott spricht nicht Arabisch.“ Dieser kritisch-aufgeklärte Umgang mit dem Koran, der liberale Muslime kennzeichnet, stößt bei den Orthodoxen auf zähe, heftige, diffamierende und drohende Ablehnung. Darum müssen sich die muslimischen Reformfreunde miteinander vernetzen, wozu es in Deutschland bereits einige Ansätze gibt.

Das vierte Kapitel bietet, um zu beweisen, dass Islam und transreligiöser Humanismus keine Gegensätze bilden müssen, einen Exkurs zu einer muslimischen Gruppe, die seit 700 Jahren einen wahrhaft humanen Islam lebt: der mystische Bektaschi-Orden. Er lehrt Dankbarkeit für Gottes Liebe und für seine dialogische Beziehung zu den Menschen, appelliert für Toleranz und Nächstenliebe und betreibt eine metaphorische, nicht wörtliche Lektüre der heiligen Schriften.

Das fünfte Kapitel dieses Buches der Vollblut-Politikerin Lale Akgün ist das politischste: Es nimmt die vielfach misslichen Verflechtungen  von Islam-Politik mit Integrationspolitik scharfsinnig unter die Lupe. Die Defizite der Integration, besonders bei einer großen Gruppe von Muslimen, beruhen nicht darauf, dass sie Muslime sind, sondern hängen eng zusammen mit falschen Ansätzen bei den deutschen Politikern, die sich – „gut gemeint, aber voll daneben“ – ständig die falschen Partner suchen, nämlich demokratiefeindliche orthodoxe islamische Organisationen, die mehr und mehr eine ‚islamische Identität‘ zu ihrer Leitideologie gemacht haben, hinter der sich ein Geflecht von Religion, Macht und Geld versteckt. Die größte Organisation, die DITIB, die von Anfang an die von einer Militärjunta 1980 ausgerufene Ideologie einer ‚türkisch-islamischen Synthese‘ vertritt, ist inzwischen der „Hintergarten“ der Erdogan-Partei und damit der verlängerte Arm türkischer Politik in Europa geworden, setzte ihre Imame sogar als Spitzel an und bot jüngst mit dem Schauspiel ihrer Kölner Moschee-Eröffnung samt dem vom deutschen Präsidenten nach Deutschland eingeladenen türkischen ein Lehrstück, wie dieser „mitten in Europa den politischen Islam feiern und die Mehrheitsgesellschaft aussperren“ konnte. Nicht viel besser als die DITIB sind die übrigen Verbände. Mit diesen zu dealen – das haben die Politiker leider bewiesen –, führt zu keiner erfolgreichen Integrationspolitik.

Das sechste Kapitel stellt die „Schlüsselfrage“ nach der Rolle der Frau im Islam. Denn: „Die Frauenfrage ist nicht alles, aber ohne die Lösung der Frauenfrage ist alles nichts!“ Der vorherrschende konservative Islam unterhält – beileibe jedoch nicht als einzige Religion – eine verhängnisvolle Symbiose mit dem Patriarchat. Erst ein Islam, der die volle Gleichberechtigung der Frau anerkennte, wäre ein aufgeklärter. Wem gehört die Frau? Eure Frauen sind euer „Acker“ (Sure 2,223, übers. von Max Henning), wenn sie widerspenstig werden wollen, „schlagt sie“ (4,34), und im Paradies erwarten euch ohnehin „Jungfrauen mit schwellenden Brüsten“ (78,33). Diese frauenfeindlichen Traditionselemente im Islam müssen restlos ausgeräumt werden.

Das siebente und sachlich letzte Kapitel (vor dem „persönlichen Blick“ der Autorin im achten) hat den energischen Titel des ganzen Buches und ruft ebenso energisch zu befreiend kreativer Pluralität im Islam auf, zu radikalem Stopp der Zusammenarbeit mit demokratiefeindlichen Verbänden, zu liberalen Inhalten im Religionsunterricht, zur Abkehr von der schlechten Alternative ‚Bereicherung durch Islam‘ – ‚Bedrohung durch Islam‘. Ein aufgeklärter Islam muss sich religiös, kulturell, politisch und auch ökonomisch von reichen arabischen Ländern und von der Türkei lösen und dort ankommen, wo Muslime leben: in Deutschland somit als „eine Religion deutscher Staatsbürger“ und insofern als ein „deutscher Islam“.

Auch wer dieser schlüssigen Kombination von exakter Diagnose und plausiblen praktischen Folgerungen im Ganzen zustimmt, mag hier und da einige Problempunkte sehen und Fragen stellen. Da sind zunächst terminologische Fragen: Gewiss ist ‚Islamismus‘ heute eher ein Schimpfwort als ein gut greifender Begriff. Auch weiß man nicht, wie man dann diejenigen Christen, Juden, Hindus, Buddhisten und so weiter, die ihre Religion politisch missbrauchen, nennen soll: Christianisten, Judaisten, Hinduististen, Buddhistizisten etwa? Aber stattdessen „politischer Islam“ zu sagen, ist problematisch, auch wenn Akgün damit nur abkürzend, aber eindeutig den für politische Macht missbrauchten Islam meint und als den guten Gegensatz zu diesem schlechten einen privat-individuellen Islam denkt, welcher der modernen  Einsicht Rechnung trägt: Religion ist Privatsache. Jedoch haben religiöse Menschen und Gruppen seit je ihre Religiosität auch in politisches Handeln eingebracht und tun es weiterhin, und das nicht selten im besten Sinne – von dem religiösen Rebellen Scheich Bedreddin, dem Nazım Hikmet ein Epos gewidmet hat, bis zur lateinamerikanischen ‚Theologie der Befreiung‘ und zur jetzt wieder extrem aktuellen Friedensbewegung. Ebenso abkürzend, aber dadurch ‚essentialistisch‘ missverständlich ist der Ausdruck „deutscher Islam“, anstatt nüchtern und klar, wenn auch umständlich „Islam als Religion einer Gruppe deutscher Staatsbürger und in Deutschland Lebender“. Eine Definition dieses ‚deutschen‘ Islams wäre gebunden an die Frage danach, was ‚deutsch‘ ist, und die hat sich gerade heute wieder hoffnungslos ideologisch aufgeladen. Und wenn „europäischer“ Islam „Bejahung der säkularen Demokratie“ heißt, soll diese den Muslimen außerhalb Europas vorenthalten bleiben?

Zu terminologischen kommen sachliche Fragen. Kann man für eine „historisch-kritische“ Untersuchung der Schriftquellen des Islams, Koran und Sunna, plädieren, solch eine Untersuchung dann aber irgendwie doch stillstellen, indem man zwischen „zeitbedingten“ und „zeitlosen“, „wortwörtlich“ und metaphorisch zu verstehenden Geboten zu unterscheiden versucht – aber nach welchen Kriterien? Heutige Zeitgemäßheit? Ist zum Beispiel das vom Christentum übernommene muslimische Zinsverbot unzeitgemäß, weil wir heute in der schönen Epoche des globalen Finanzkapitalismus leben? Gotthold Ephraim Lessing hat die Versuche seiner ‚liberalen‘ theologischen Zeitgenossen, die starre buchstabengläubige Orthodoxie als ‚unreines Wasser‘ zu überwinden, als „Mistjauche“ bezeichnet. Kann man mit dieser Art von muslimisch-theologischer Aufklärung heutige Menschen zur Umkehr bewegen, die sich in großer Zahl vom Islam ihrer Herkunft und Umgebung verabschieden wollen?

Einerseits: Hat der „politische Islam“ weltweit nicht deshalb so viele Anhänger, weil er sich als Antikolonialismus, -kapitalismus und -imperialismus ausgibt, und müsste sich ein gegenüber der größten und gefährlichsten Destruktivkraft der Welt heute auch gesellschaftskritisch aufgeklärter Islam darum nicht als der bessere Antiimperialismus ausweisen? Andererseits: Wie erklärt sich das ständige Dealen westlich-demokratischer Politiker mit dem un- und antidemokratischen politischen Islam in In- und Ausland? Nur aus Kurzsichtigkeit und „Fehlern“?  Oder weil sie der ‚realpolitischen‘ Maxime folgen: Erst die Geschäfte und dann die Moral? Wie und wo sollte ein aufgeklärter Islam den Geschäften nützen können?

Mit diesen Fragen wird jedoch das sehr gute und erfrischend entmuffende Denkangebot, das Lale Akgün mit ihrem neuen Buch zum Islam uns allen macht, nicht in Frage gestellt. Wir sollten in der Islam-Debatte als einem Teil des nötigen großen Palavers über Weltlage und -veränderung, zu dem Noam Chomsky gerade mit seinem neuen Buch Kampf oder Untergang! beschwörend beigetragen hat, künftig nicht mehr unter dem Niveau bleiben, das Akgüns Buch markiert. Platz da in euren Köpfen, hier kommen bestformulierte und höchst bedenkenswerte Argumente zum Thema Islam und Muslime in unserer Gesellschaft!

Titelbild

Lale Akgün: Platz da, hier kommen die aufgeklärten Muslime! Schluss mit der Vorherrschaft des konservativen Islams in Deutschland.
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2018.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783865692986

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