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William Gaddis und das Räderwerk der Welt. Zum 20. Todestag des Autors

Von Marcus JensenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Jensen

Hier findet man fast alles – William Gaddis (1922–1998) hat dafür gesorgt, dass seine formal sehr unterschiedlichen Riesenromane unendlich viel Material, Geschichten und Bezüge anhäuften wie Naturkundemuseen mit angegliederten Kuriositätenkabinetten, weil sie die Welt an sich packen sollten, aus Übermut oder Wut.

Gaddis, getrieben von geistigen, geistlichen, geisterhaften Systemen schien in seinen monumentalen ersten beiden Romanen ein hochkomplexer Vorläufer des zeichenmanischen Enzyklopäden Umberto Eco gewesen zu sein, was unter anderem Gaddis‘ Hauptinterpret Steven Moore schon 1982 feststellte. Der in New York geborene Agnostiker, der in einer Quäker-Familie aufwuchs, schuf semantische Schlachtengemälde und pflügte Sein und Bewusstsein mal lustvoll, mal grimmig unter. Gegenüber dem ironischen, im Katholizismus aufgewachsenen Agnostiker Eco war Gaddis mit einer weiteren Sorte Humor gesegnet: dem verbitterten. So herrscht in seinen Büchern oft ein protestantisch geprägtes Misstrauen gegen jede mildernde Abrundung der Welt. Es ist der Humor eines Autors, der sich abschuftet an der conditio humana.

Aus guten Gründen geraten meist nur seine ersten zwei Romane in den Blick: The Recognitions von 1955 und der berühmtere JR von 1975, die in ihren herausragenden deutschen Übersetzungen von Marcus Ingendaay und Klaus Modick jeweils die tausend Seiten sprengen.

 1. Buch der Verwandlungen

Schon das fünfte Wort in The Recognitions, einem Weltwunder, das Gaddis 1955 mit 32 Jahren veröffentlichte, lautet wie pflichtschuldig „masquerades“. Nun ist der Romantitel fast unübersetzbar (wörtlich etwa: „Die Muster-Wiedererkennungen“), die deutsche Fassung hat 1998 das Beste daraus gemacht – Die Fälschung der Welt – nachdem das Buch zuerst 1997 als Die Fälscher erscheinen sollte. Ein bedeutender Unterschied, der das Werk in eine stimmigere Richtung bringt und eben auch das Fehlen klassischer Heldenfiguren berücksichtigt. Die Schwierigkeit, The Recognitions zu lesen, liegt weniger in seiner wahnwitzigen enzyklopädischen Anhäufung von verknüpften Welten und Zitaten, sondern darin, dass dessen Elemente und Figuren kaum zu gewichten sind. Alles und alle sind Back- und Stempelformen – und zwar füreinander. Material ist Material für dessen Einschmelzung, Nachahmung, Umbenennung, Verwechslung. Gaddis leitet gewissermaßen die Göttin Maya durch Willy Wonkas Schokoladenfabrik. Moore hat 1982 ein Kompendium zum Roman herausgebracht, das selbst ein Viertel so dick ist wie das Buch und dessen Komplexität sogar noch erhöht.

Wyatt Gwyon wächst in den 1920er Jahren in einer amerikanischen calvinistischen Familie auf. Seine Mutter Camilla stirbt auf einer Reise nach Spanien, und sein Vater, ein Priester, muss beobachten, wie die spanische Dorfbevölkerung die Kleidung seiner toten Frau untereinander verteilt und zweckentfremdet. Sein Gang durch die Ortschaft bedeutet eine Wiedererkennung Camillas im Kollektiv. 30 Jahre später wird seine Asche hierhergeschickt und von den spanischen Mönchen irrtümlich als Mehl verwendet. Sein Sohn Wyatt wiederum, der sich in dieses Kloster zurückgezogen hat, isst ahnungslos und gleichmütig seinen Vater in Brotform. Diese Szenerie steht typisch für die Zeichenwelt des Romans.

Wyatt wird nicht Priester, sondern Maler, und liebt europäische mittelalterliche Meister. Aus seiner Bewunderung mittels Kopie und Fortentwicklung von Linien wird eine Identifikation – und bald auch ein reales Geschäft. Denn in Manhattan findet er in den mephistophelisch gestalteten Kunsthändlern und -experten Rektall Brown und Basil Valentine die Hehler für diese Ware und seine Vermarkter und Antreiber. Bis er sich mit Gewalt von ihnen losreißt. Das ist nur ein Handlungsstrang von vielen.

Motive der Auflösung religiöser und/oder künstlerischer Menschen in ihrer Sache ziehen sich durch den opaken Roman. Figuren stolpern übereinander, Kreise und Motive überblenden sich oder wiederum die Figuren, die im eigenen Rahmen beziehungsweise Elend schmoren. Sie stehen nicht für etwas, sondern stehen gleichberechtigt mit allen anderen Elementen. Es geht um die sinnhafte Kulisse der Welt, wie sie funktioniert oder funktionieren könnte. Sind Identifikationsfiguren Kitsch? Oder ist diese Frage sinnlos in einem Mahlwerk, das gar nicht weiß, wohin mit der Kraft? (Gaddis wurde übrigens aus diffuser Körperschwäche vom Kriegsdienst zurückgestellt.) Modernistisch an dem Koloss ist die Verneinung von Zentralperspektive und Identifikation, spätgotisch die Struktur, barock die Ausmalung mit Geschichten, Belegen und Spielen. Aus dem Wimmelbild muss man sich die Handlungs-Anker oft aus Nebensätzen herauspicken und deshalb höllisch aufpassen. Diese permanente Arbeit beim Lesen verhinderte zuverlässig, dass Gaddis je ein Erfolgsautor wurde. „Der Leser soll selbst sehen, wie er zurechtkommt, vom Autor ist keine Hilfe zu erwarten“, stellte Moore fest. Eine Cool-Jazz-Prosa, die sich keine Blöße gibt. Es regiert ein hochernstes Lustprinzip: Jeder mit jedem und alles mit allem.

Dass Gaddis jedoch nicht nur ein genialer Konstrukteur, sondern auch ein großartiger Erzähler war, bewies er immer wieder in Szenen, die wie Lichtungen wirken und freies Atmen ermöglichen. Die Kapitel für sich sind schon starke, dichte Romane, das Ganze aber im Blick und unter Kontrolle zu halten, überfordert jede Leserschaft.

Erst die Auftritte des Hehlers und des Experten eröffnen die eigentliche Handlungsebene – ähnlich wie die Erscheinung des Teufels in Thomas Manns Doktor Faustus. An der deutschsprachigen Welt interessierte Gaddis vor allem der Gothic-Aspekt, wie die vielen Motive aus Alchemie und Faust sowie Grimms Märchen und C. G. Jungs Psychologie zeigen. Seine Äußerung im 1986er Interview mit der Paris Review „… based on the Faust story“ galt dem ersten Entwurf des Romans, ließe sich als Interpretationsansatz aber gar nicht halten angesichts der Bilder von Wyatts linkischem Benehmen und Ego-Auflösung.

Moore folgt penibel seit 1982 beziehungsweise in seinem Standardwerk zu Gaddis von 1989/2015 der Bilderanreicherung des Autors und präpariert im Werk arbeitende Systeme heraus, vor allem das alchimistische, statt es bei einem allgemeinen ästhetischen, nicht-semantischen Nenner all dessen zu belassen: das Täuschende und das Trugbild als Weltbeschreibung, ob nun metaphysisch oder menschlich gesetzt.

Paul Ingendaay betont in seiner Dissertation von 1993 die Sinnlosigkeit der Frage nach einer zugrundeliegenden semantischen Struktur. Der Roman biete eine „schiere Masse an isolierten Objekten, Geräten, Konstruktionen, die geradezu obsessiv ihre Einmaligkeit und Echtheit beteuern.“ So „könnte man nahezu an beliebiger Stelle im Roman einsteigen und von dort aus die Fäden des Motivs verfolgen.“

Gaddisʼ Spielfreude am laborhaften Mischen und an Masken fand natürlich in der Kunst und der Religion zahllose sinnliche Anhaltspunkte des Chimärischen. Jeder Versuch einer Gesamtsicht erzeugt selbst eher eine Wahnsinnsapparatur à la Jean Tinguely, eine Riesenmaschine, die sich im Buch auch noch reproduziert. Manche Figuren reflektieren all das Erratische, aber ihr Bewusstsein nützt ihnen nichts. Gaddis stürzte sich auf die Kunst- und Kulturwelt Manhattans, beschrieb sogar eine Hipster-Szene im Paris von 1938, weil ihm das Geschwätz der armen Party People zugleich Biotop und Heterotopie war, wie in seinen späteren Romanen. Laut seinem Biografen Joseph Tabbi (2015) herrschte in den Nachkriegsjahren tatsächlich eine Verschmelzung der Kunstsparten in Manhattan vor, alle interagierten miteinander. Gaddis hatte immer eine diebische Freude am Überschneiden der Wege und des Bildens von Blasen. Die sanfte Brutalität dieses Zugriffs gestand nur Nebenfiguren ein normales eigenes Leben zu, nicht aber Wyatt: „Yes, I don’t live, I’m … I am lived, he whispered.“ Warum ist der zwischen den konstruierten Welten ent-individualisierte Fälscher doch ein Held? Gaddisʼ parallele Fixierung auf Wyatts Pastorenfamilie und deren Tradition, sein Sich-Abarbeiten an religiösen Worten und Werten, an Calvinismus und Mithraskult, sei es zynisch oder relativierend, deutet sehr auf die herausgehobene Wichtigkeit dieses Handlungsstrangs hin.

2. Er, der Schemen

Wyatt, der sein ohnehin schwaches Ego verliert, verliert auch sein eigenes Werk. Während er schon alte Meister nachahmt, teilt ihm seine Frau Esther mit, dass sein gesamtes bisheriges Schaffen in einem Lagerhaus gerade verbrannt ist. Es macht ihm nichts aus. In einem Roman mit lauter doppelten Böden leben alle Figuren ohne Sicherheit. (Tabbi berichtet, dass Gaddis keine Kopien seiner Manuskripte anfertigte, sondern jedesmal das Original verschickte. Der letzte Roman ging beinahe verloren auf dem Postweg.) Der Held Wyatt ist das schlechte Gewissen des satirischen Werks: „Wie ein bleicher Schemen war während der ganzen Zeit eine Gestalt durch den Partydschungel geglitten.“ Er wird ab einem recht frühen Zeitpunkt als Ding herumgestoßen. „Ein Roman ohne Held wäre folglich eine höchst beunruhigende Sache“, sagt ihm Kunstexperte Valentine ins gesichtslose Gesicht – ein typischer Metakommentar à la Gaddis. Wyatts Verlust seiner Merkmale, seine Verschattung, seine Ich-Beraubung ganz nebenher, seine Verwandlung in einen namenlosen Hohlkörper dürfte einer der genialsten Schnitte der Literatur sein. Ob die Handlungsstränge nun „eine Projektion von Wyatts Unbewußtem darstellen“ (Moore), ist dabei kaum unterscheidbar vom Gesamtgeschehen, denn die anderen Figuren haben letztlich ohnehin dienende und/oder ausmalende Funktion: „characters reflecting facets of the central figure“, wie Gaddis 1986 im Interview mit der Paris Review sagte.

Seine Helden der ersten beiden Romane haben stark autistische Züge;  charakteristisch ist außerdem, dass Gaddis anfangs nie mit Identifikationsfiguren arbeitete, sondern Wyatt und später JR immer wieder aus dem Fokus rückte und sie aufgehen ließ im größeren Rahmen, wie um zu sagen: So wichtig sind diese Typen nun auch wieder nicht, verguckt euch nicht in sie, ihr lernt sie nie wirklich kennen. Dieses schwer durchschaubare Nebeneinander der Protagonisten, das die Anstrengung beim Lesen von Gaddisʼ ersten drei Romanen ausmacht, hat etwas Taoistisches. In der Dünung der Menschen löst sich Dramaturgie auf zugunsten eines Panoramas. Gaddisʼ erste Helden bestimmen nicht das Geschehen im Sinne einer Ego-Stärke, sie verkörpern am ehesten das Wesen des Geschehens. Der typische Gaddis-Held ist diejenige Figur, die am engsten die Funktionsweise des Romanapparats erfüllt. Das trifft auf Wyatt und JR besonders zu. Die sinnliche, lustvolle Darstellung der Welt – die die Leserschaft bei der Stange hält – entspricht der höchst abstrakten Bestimmung der chimärischen beziehungsweise ökonomischen Maschine: Gaddisʼ wichtigste Figuren sind undurchschaubar und streben nach nichts, der Fälscher verliert sein Wesen, der Kapitalist wirkt nie berauscht, die Hehler und Händler sind bunte, aber mediokre Möchtegerndämonen.

Wyatt bekommt als junger Maler Besuch von einem schmierigen Kritiker, der ihm gegen Geld anbietet, ein Lob seiner Werke zu schreiben; er weigert sich und muss dann erleben, wie dieser Kritiker ihn verreißt. Wyatt wendet sich sofort ab von der ökonomischen Welt. Dagegen ist die allererste Tätigkeit des Folgehelden JR, gedankenverloren den „ausgeleierten Schnappverschluß einer alten Geldbörse“ zu bedienen.

3. Geschäftsgeschwätz

Die finanziellen Folgen des Betrugs beschrieb Gaddis in The Recognitions fast gar nicht. Diese wären zu messbar und daher irrelevant für das Chimärische. (Der Literaturkritiker und -wissenschaftler Peter Dempsey irrte, als er über alle dessen Romane meinte: „At root, they are about money.“) Im Folgewälzer JR von 1975 tat er aber genau das. Es ist, als ob das operettenhafte Bösen-Personal um Brown und Valentine herum nun den Schwerpunkt übernähme. Das Debüt umspannt drei Jahrzehnte und Kontinente, während JR während einiger Wochen im Herbst 1974 (1972?) in New York und auf Long Island spielt.

Gaddis begann zwar sehr bald nach seinem Erstling mit JR, aber durch den profanen Druck des Geldverdienenmüssens, um seine Familie zu ernähren, verzögerte sich alles. 20 Jahre später erschien sein bis heute bekanntestes Werk. Der überwiegend aus Dialogen konstruierte Roman wäre technisch gesehen gut verfilmbar – und laut Tabbi hat der sich sonst so kommerzscheue Gaddis für diese Option eingesetzt. Obwohl auch der zweite Roman ein Wimmelbild ist, funktioniert er ganz anders, topmodern, und lässt sich leichter lesen: Man bastelt sich im Kopf ein höchst eigenes Hörbuch zusammen. JR ist, obwohl es keine Kapitel und kaum Leerzeilen gibt, klarer als der Erstling, wenn man einmal die überblendende Schnitttechnik akzeptiert hat. Hier drücken sich die Figuren gerne buchstäblich die Klinke in die Hand, damit die ihnen maßgeschneiderten Sprachstile nahtlos wechseln können.

Die meisten Figuren sind untereinander durch ein Zentrum vernetzt – eine Highschool auf Long Island und deren innovatives TV-System – wie in einer quirligen Redaktion. Diese Welt ist viel überschaubarer als die Künstler- und Medienszene des Debüts und dessen Schnitzeljagd rund um den Erdball. Die Schule wirkt als Ruhezentrum des Romans, als Verteilerebene. Das Gefüge bleibt gleichwohl überdicht und liest sich immer noch atemberaubend. Die gesamte Papier- und Analog- und Fernsehwelt der 1970er schnurrt zwar heute komplett digitalisiert ab, aber rasende Geschwindigkeit wird bereits in JR erzeugt, durch das permanente Hin und Her zwischen den Videokanälen der Schule, dem Gruppenaustausch in Geschäftsetagen und Toilettenkabinen und vor allem durch Telefongespräche. Das Geplapper der Boheme auf den Greenwich-Village-Partys in The Recognitions weicht 20 Jahre später dem Business- , Verkaufs- und Anwaltsgerede durch Leitungen. Und heute, viereinhalb Jahrzehnte danach, wirkt die Hilflosigkeit der Pädagogen im Umgang mit dem Video-System wunderbar vorausschauend.

4. JR und die Lawine

In der Eingangssequenz wird als Gruß ans Debüt erwähnt, dass mit der Asche eines Vaters etwas Peinliches geschieht. Edward Basts Vater hinterlässt chaotische Verhältnisse, wie Wyatts Vater, nur dass Bast, der Musiklehrer und Beinahe-Held in JR, nicht sonderlich darunter zu leiden scheint. Er mag sich mit dem möglichen Erbe, ja mit der Ökonomie an sich gar nicht beschäftigen (wie Wyatt), ist bis zum bitteren Schluss mit seinem Komponistenwunschleben beschäftigt und leidet unter seinen Geld-Jobs, die ihm eh nichts nützen: Sein Familienanwesen wird am Ende für einen Dollar verscherbelt. Bast soll für die besagte hippe Highschool einen Wagner-Abend einüben, in dem der elfjährige kleine JR Vansant die Rolle des Tarnkappen-Schatzzwergs Alberich bekommt. Mit der Klassenlehrerin Amy Joubert unternimmt JRs sechste Klasse einen Ausflug an die Wall Street, wo ein paar dauergestresste alte Hasen die Kinder in die Möglichkeiten einführen, am amerikanischen Traum teilzunehmen. Die Opernhandlung kann einsetzen. (Allerdings reicht die Wagner-Analogie nicht gerade weit.)

Die Jungs tauschen ohnehin schon Gratis- und Werbeangebote und auch Pornos aus, gickeln darüber, und nun kommt durch den Besitz einer gemeinschaftlich (!) erworbenen Aktie JR auf den Geschmack, diesen speziellen Weg zum Anhäufen von Dingen weiterzuverfolgen. Unter anderem eben von Pennystocks. Äußerst geschickt finanziert der altkluge Rotzlöffel ein blödsinniges Geschäft mit dem nächsten blödsinnigen. Der nie endende Reigen an ökonomisch diktierten Szenen, die leerzeilenlose Komposition, die großmeisterlich maßgeschneiderten Sprechweisen erzeugen einen einzigartigen Mahlstrom der grotesk-komischen Unerbittlichkeit, für den Gaddis berühmt wurde. Nur der Lehrerin gehörte seine ganze Sympathie, er gewährte Amy Joubert als einziger Person im hochverdichteten Wahnsinn („the noisiest novel that ever existed“ (Moore)) mehrere Seiten prosaischer Ruhe. Sie versucht JR von seinem Weg abzuhalten, sie ist ein sozialer Anker.

Der Junge baut dabei nicht die böse Maschine um sich herum, ebenso wenig wie Wyatt, sondern beide passen lediglich in sie hinein. Er, „ein Baissespekulant erster Ordnung“ (Ingendaay), begreift nicht inhaltlich, was er tut. JR errichtet rasend schnell ein Imperium auf der Basis der optimal eingesetzten Kenntnis von Gratisbroschüren („man läßt sich per Post einfach umsonst diese Infobriefe kommen“) zu Geldströmen, Querfinanzierungen, Abschreibungsmöglichkeiten, Rückpachtungen, Steuerlücken, Tausch- und Termingeschäften. Gaddis beweist eine sardonische Freude am Vorführen des kostenfreien Zugangs zur Kostenwelt. Land of the Free. Jeder kann das machen, wenige machen es tatsächlich. Es sind Vorgänge, die rein theoretisch (!) ein va-banque-spielender Turnschuhbengel zustande brächte. JR setzt bald seinen Musiklehrer als erwachsenen Geschäftsführer ein, nachdem er es leid ist, mit einem dämpfenden Taschentuch vor dem Mund das Schultelefon zu missbrauchen, um seine Händel abzuwickeln. Zwischendurch kauft er seine Highschool, das erste seiner Schnäppchen, von dem er ein bisschen was versteht. Die Tarnkappe wirkt. Gestandene Businessleute reden am Ende über ihn als Graue Eminenz und halten seine „JR Corporation“ für einen Trust. Über seinen Strohmann heißt es: „Bast hat mir mal erzählt, daß der Boß selbst nie die sechste Klasse geschafft hat“. Das Ganze bricht ebenso schnell und aus ebenso nichtigen Gründen zusammen, wie es entstanden ist. Zahllose Menschen stürzen bis dahin ins Unglück, geleerte Rentenkassen und ein durchdrehendes Indianerreservat sind dann Kollateralschäden.

5. Weil man das so macht

 Ist JR ein böser Held? Der Junge hatte nicht geplant, mit der Klassen-Aktie ins Spekulationsgeschäft einzusteigen, sondern nutzt lediglich die Möglichkeiten aus, die die Finanzwelt jemandem bietet, der frisch loslegt. Hier geht das Sammeln von Dingen für ihn einfach weiter. Seine einzige reelle Investition beläuft sich auf fünf Dollar, so viel kostet ihn die Eröffnung eines Kontos in Nevada, dessen Bank nicht nach dem Alter des Inhabers fragt. Der Rest eskaliert als Schneeballsystem mit geisterhafter Automatik. Er bekommt es zugeworfen. JR, dieser schlampig herumlaufende, eigentlich reizlose Self-Made-Boy, ist eben nicht der Knabenchor aus Herr der Fliegen in einer Person. Gaddis selbst entpuppte sich im Interview keineswegs als Kapitalismuskritiker und sagte über JR: „motivated only by good-natured greed“. Der Junge ist keine Metapher des Kapitalismus, er denkt das Räderwerk nicht durch, sondern entdeckt die Hebel in den kostenlosen Betriebsanleitungen und zieht dran: „mir ist total egal, ob ich mich damit unbeliebt mache, eh.“ Er bricht kein einziges Gesetz. Er ist völlig unmusisch und nicht mal kreativ wie eine Art kalter Tom Sawyer – abgesehen von dem altersgemäßen Trick mit dem Taschentuch.

Die Frage nach der Moral ist bei Gaddis trotz seines galligen Humors und seiner Wut auf die Ungerechtigkeit der Welt („Outrage“, wie sein Biograf berichtet) nie vordergründig, schon seit seinem Debüt nicht. Gaddis beklagt im Wesentlichen die Verfallseffekte der USA nach seiner eigenen Jugend, er beklagt letztlich eine unbekämpfbare Entropie.

Die Hehler und Blender in The Recognitions sind bloß angeteufelte Gauner, Wyatt ist als depressiv, zerrissen und moralisch herausgefordert angelegt, JR aber ist von Anfang an vor allem empathiearm, jedoch wie Wyatt nicht böswillig. Er verhält sich zum Beispiel gegenüber seiner Klassenlehrerin sehr nett, ja angemessen kindlich. Er tut das, „was geht“, und betont mehrmals: „Weil man das so macht!“ Nicht einmal das Einspannen seines weichen Musiklehrers Bast in seine Dienste ist eine eigentlich verwerfliche Handlung.

Wyatt wächst ohne Mutter auf, JR ohne sichtbare Eltern, lediglich über dessen Mutter heißt es, sie sei Krankenschwester und nie da. Der zerrissene Künstler ohne Ursprung, der dumpfe Kunstferne ohne Nest. Das Spiel ist zwar wichtig, aber es bleibt ein Spiel, da JR nie ein Ziel hatte und auch keine Leidenschaft. Der Vorpubertäre hat an seinem Tun kein tieferes Interesse – anders als Wyatt am Fälschen der bewunderten Meister. Der Autor schickt ihn wie ein Instrument in jede Lücke, um diese aufzukeilen. Wyatt und JR, die beide die Hauptthemen der Romane verkörpern, sind a-sexuelle beziehungsweise vor-sexuelle Helden, freudlos, unnahbar, während jedoch JR nichts entzogen wird, der Junge verändert sich kein bisschen, und er bezahlt auch keinen Preis. Beide können oder dürfen nicht wirklich aus sich heraus ihre Welt formen. Sie brauchen Vermittler, Impressarios, Strohleute oder ein Agens. Sie sind in Ermangelung klassischer Protagonisten, deren Wille und Weg eine Handlung füllt, letztlich doch Nebenfiguren. Gaddisʼ erste Helden leben kaum. Andere zentrale Figuren, der Musiker Bast, die Schriftsteller Eigen und Gibbs, der Dramatiker Otto, Liz Booth und Oscar L. Crease sind dagegen die Menschen, die den Preis bezahlen für den Teufelspakt, das Sicheinlassen auf die Maschine, sie sind Durchschnittstypen, Everymen, die die Anforderung der Identifikationsfigur und des Sympathieträgers erfüllen. Wieso ist Bast nicht der Held, wo es doch im Zentralmassiv der Handlung, der gnadenlosen Durchökonomisierung der Welt, immer wieder um seine Familie und sein Erbe geht? Wo für Gaddis doch die Musik die höchste Kunstform war? Weil er nicht obenauf schwimmt, weil er anders als Wyatt aus der Sklavenrolle nicht ausbricht, bei JR nur Pennys verdient und seine eigenen musikalischen Ambitionen immer weiter reduziert.

Wyatt, der Erstlings-Held, überlebt seinen Monsterroman, und JR ebenfalls, beide auf ähnliche Weise: Sie gehen praktisch nur aus dem Bild. Die chimärischen beziehungsweise ökonomischen Maschinen um sie herum laufen gnadenlos weiter. In Ewigkeit.

6. Weitere Systeme

Literarisch betrachtet hat Gaddis nach seinem überkomplexen Erstling Rückschritte unternommen, er wurde immer leichter. Ontologisch insofern, dass er sich im Debüt das gesamte Sein vornahm, in JR die Welt der Ökonomie abbildete und in A Frolic of his Own die juristischen Mühlen. Das Opus Magnum von 1955 war zugleich das Opus Summum, alle Fähigkeiten, substanziellen Kenntnisse und Verfahren steckten bereits in The Recognitions.

Roman Nummer drei, Carpenter’s Gothic von 1985, der im Deutschen den irreführenden Titel Die Erlöser erhielt, verwendet eine JR verwandte Technik, allerdings stark abgespeckt, als Kammerspiel. Gaddis’ kürzester und räumlich begrenztester Roman ist praktisch ein Theaterstück auf einer Bühne aus lauter Brettern. Liz und Paul Booth haben am Hudson River ein großes Holzhaus der Zimmermannsgotik gemietet – diesen Stil verkörpert am bekanntesten wohl das dramatisch aufragende Heim der Familie Bates in Psycho. (An dem Wort Gothic sollte man sich nicht aufhalten, das Geschehen ereignet sich zwar um Halloween 1983 herum, aber unheimlich wird es nie.) Die starke Fassadenwirkung dieses Stils ist der beste Interpretationsansatz für diesen Zwischenroman, in dem Moore „a virtuosic exercise in metafiction“ sieht, während Tabbi ihn dagegen schnell übergeht.

Von fern wirkt der karrieresüchtige, skrupellose Reverend Ude hinein, für dessen Missionskreuzzug Paul Booth die PR macht. Der christliche Fundamentalismus ist allerdings – leider – nicht das Zentrum des Romans. Schon der Mithraskult in The Recognitions als vorgeführte Religion bot Gaddis immer wieder groteske Erscheinungen, aber diesem Buch fehlt ein solcher Schwerpunkt, wie ihn die ersten beiden Romane noch hatten, und es hat letztlich deshalb auch keinen Helden, höchstens Liz Booth als weitgehend passiv alle Stränge verbindende Aushalterin. Der Vermieter ist der angebliche Geologe und CIA-Mann McCandless, dessen Einrichtung und Leben die beiden Booths geradezu zu überschreiben versuchen. McCandless fängt eine Affäre mit Liz an und soll der Künstler im Buch sein, doch dessen Autorentätigkeit wird gewissermaßen nur doppelt behauptet. Der sonst so präzise Gaddis erlaubte sich im dritten Roman mehrere Perspektivbrüche, die eindeutig Fehler sind. Und er blieb recht unentschieden zwischen dem Suchen nach einem Leitthema und einer Handlung.

Das änderte sich wieder in seinem letzten Roman, A Frolic of his Own von 1994, seinem einfachsten Buch. Gaddis hat hier – als hätte ihn jemand dazu verdonnert oder als bezeichne es ein Nachlassen der Kräfte oder der alten Ansprüche – erstmals nicht mit realistischen, sondern mit gebräuchlichen Info-Dialogen gearbeitet. Diese Wegweiser in der  Riesenmaschine nehmen der Leserschaft einen gewaltigen Teil der Arbeit ab. Die Personen erklären nun oft genug, was sie tun und was andere Personen tun. Allerdings haben sie auch keine eigenen Sprechstile mehr – letztere sind dem Kauderwelsch der juristischen Dokumente vorbehalten. Gaddis schreibt erstmals verwässernd, sogar langatmig, er baut zum Beispiel ein eigenes Theaterstück von ca. 1960 mit ein, das einfach seitenweise vorgelesen wird. Es ist ein fast schon konventioneller Roman und vielleicht der beste Einstieg ins Werk.

Der Autor Oscar L. Crease hat sich mit dem eigenen, kurzgeschlossenen Automatikwagen versehentlich selbst überfahren und verklagt nun den Hersteller Sosumi (verballhornt = verklagmichdoch). Ein weiterer der irrwitzigen Fälle dieses Romans aus der Juristenhölle ohne eine einzige reale Szene vor Gericht ist der des Hundes Spot. Das Tier hat sich in der riesigen Metallskulptur „Cyclone Seven“ (die bereits in JR eine Rolle spielt) eingeklemmt und darf aufgrund gewisser Versicherungs-Bedingungen und des anfänglichen Protests des Künstlers Szyrk (verballhornt = Zirkus) nicht herausgeschweißt werden. Parallel dazu behauptet Oscar Crease, Hollywood habe sein altes Bürgerkriegs-Drama Einst am Antietam geklaut. Dort geht es um seinen eigenen Großvater, der sich damals vom Kriegsdienst freigekauft hatte durch zwei von ihm bezahlte Ersatzmänner, die dann auf verfeindeten Seiten kämpften und sich am Antietam Creek 1862 gegenseitig töteten – ein absurdistischer Fernselbstmord. Außerdem verklagt ein Mann seine Frau, weil sie plant, deren gemeinsames Kind abzutreiben. Pepsi-Cola und die Episcopal-Kirche bekriegen sich um Wortrechte.

Der Roman, der wieder einmal im Herbst (1990) spielt, führt viele Abwehr-Angriffe gegen das Eigene vor, Rheuma-Effekte, jeder verklagt hier jeden, wobei „es schon ein bißchen so ist, als ob man das gesunde Huhn schlachtet, um Suppe für das kranke zu kochen“. Die Interessenskonflikte können sich auf groteske Weise wieder wenden, gegen sich selbst. Beispielsweise willigt der Künstler Szyrk endlich ein, dass „Cyclone Seven“ beschädigt werden darf, aber nun will die Gemeinde von der Prominenz des Falls profitieren und das Drama so belassen, denn es lockt Touristen. Schließlich trifft ein Blitz die Metallskulptur, und der Hund stirbt.

Der Roman breitet ein internstes Bürgerkriegspanorama aus. Crease ist kein Michael Kohlhaas, kein Wutbürger, nur ein leicht autistischer, verwirrter Everyman. Er ruft mit einer Kinderhupe Hilfe herbei. Er ist zwar hineingefallen in die juristische Maschine, aber geht eben nicht mit ihr eine Wesensverbindung ein. Gaddis legte seinen letzten Helden eher als Vehikel an, um eine Vielzahl von Themen und Irrsinnigkeiten zu versammeln. Die Funktionsweise der Maschine ist hier transparent, da der juristische Apparat nicht nur von Menschen betrieben wird, sondern auch deren Willen repräsentiert. Menschen wissen hier – anders als in den wichtigen ersten beiden Romanen –, woher der Wahnsinn kommt. Die Juristerei in Gaddis‘ letztem Roman ist nicht kafkaesk. A Frolic of his Own stellt eine klassische Satire im Riesenformat dar.

Sein hinterlassenes Werk, Agapē Agape, zu deutsch Das mechanische Klavier, ist ein für Gaddis bescheidener, aber ungewöhnlicher mäandernder Monolog in Bernhardscher Tradition. Ein King Lear, der praktisch nichts zu verteilen hat, listet ununterbrochen seine tödlichen Krankheiten und Verfallserscheinungen auf, stellt überall „Aporie“ und „Verblödung“ fest und grantelt über die Mechanisierung der Welt, in der Klavierautomaten mit dem Klonschaf Dolly zusammentreffen. Es geht zwar um Maschinen, aber der recht simple Text errichtet selbst keine. Allerdings funktioniert er wie ein Parlando-Automat. Und der gibt freimütig zu, dass er sich seine Erzählantriebsart ausgeliehen hat: aus dem deutschsprachigen Raum.

Literaturverzeichnis

William Gaddis: The Recognitions. New York 1955. Deutsche Übersetzung: Die Fälschung der Welt. Frankfurt a.M. 1998.

- JR. New York 1975. Deutsche Übersetzung: JR. Frankfurt a.M. 1996.

- Carpenter’s Gothic. New York 1985. Deutsche Übersetzung: Die Erlöser. Reinbek 1988.

- A Frolic of His Own. New York 1994. Deutsche Übersetzung: Letzte Instanz. Reinbek 1996.

- Agapē Agape. New York 2002. Deutsche Übersetzung: Das mechanische Klavier. München 2003.

Paul Ingendaay: Die Romane von William Gaddis. Trier 1993.

Steven Moore: A Reader’s Guide to William Gaddis’s „The Recognitions“. Lincoln 1982. Deutsche Übersetzung: Die Fakten hinter der Fälschung: Ein Führer durch William Gaddis’ Roman „Die Fälschung der Welt“. Frankfurt a.M. 1998.

Steven Moore: William Gaddis. Boston 1989; Expanded Edition: New York 2015.

Joseph Tabbi: „Nobody grew but the Business“. On the Life and Work of William Gaddis. Evanston, IL 2015.