Thomas Bernhards Leben, Werk und Wirkung

Das von Martin Huber und Manfred Mittermayer herausgegebene „Thomas-Bernhard-Handbuch“

Von Natalie MoserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalie Moser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im selben Jahr, in dem der Suhrkamp Verlag die Thomas-Bernhard-Werkausgabe in Taschenbuchformat veröffentlicht hat, hat der J.B. Metzler Verlag das Thomas-Bernhard-Handbuch publiziert, womit der Klassikerstatus des streitfreudigen und streitbaren Schriftstellers doppelt untermauert wird. Das Handbuch wurde von drei namhaften, institutionell dem Literaturarchiv Salzburg zugehörigen Bernhard-Forschern betreut: Die Herausgeberschaft hat das erprobte Duo Martin Huber und Manfred Mittermayer übernommen, unterstützt wurden sie von Bernhard Judex. Das Handbuch enthält über 90 Einzelbeiträge und ist in die Sektionen Leben (I), Werke (II), Kontexte und Diskurse (III) und Rezeption und Wirkung (IV) eingeteilt.

Ein kurzes Vorwort der beiden Herausgeber, das Anspruch, Umfang, Aufbau, Adressierung und Entstehungsort des Handbuches benennt, und ein Anhang, der aus einer Zeittafel, Literaturangaben, Uraufführungen von Bernhards Theaterstücken, Autorinnen und Autoren der Einzelbeiträge und einem Personenregister besteht, rahmen die durchnummerierten thematischen Beiträge. Mit Blick auf diese, dem Format des Handbuchs geschuldeten Elemente sei lediglich die Auflistung der Uraufführungen herausgegriffen, die aufgrund der Nennung der Regisseure und der Darstellerinnen und Darsteller mit Blick auf den Aufführungskontext die personelle Konstanz im Bereich Regie (insbesondere Claus Peymann) und Schauspiel (insbesondere Bernhard Minetti, Marianne Hoppe und Kirsten Dene) sichtbar macht.

Das Handbuch eröffnet eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven auf das Phänomen „Thomas Bernhard“, von denen hier vier Schwerpunkte skizziert werden sollen: Nachkriegsliteratur, Erzähl- beziehungsweise Darstellungsstruktur, Selbstinszenierung und -vermarktung sowie Inspiration anderer Autorinnen und Autoren.

In mehreren Beiträgen werden Bernhards Texte und Person in den Kontext der Nachkriegsliteratur gestellt. Günther Stocker widmet sich in seinem Beitrag Bernhard und die literarische Landschaft Österreichs der 1950er und 1960er Jahre zum einen den frühen Texten des Autors. Diese werden auch in einer separaten Abteilung der Sektion „Werke“ mit dem Obertitel „Frühwerk“ nach Gattungen geordnet thematisiert und im von Andreas Gößling verfassten Beitrag zu Frost, Bernhards erstem Roman, im Rahmen einer Skizze der werkgeschichtlichen Stellung des Romans beschrieben. Zum anderen beschreibt Stocker die Bedingungen der Literatur der Nachkriegszeit und geht dabei auch auf den Unterschied zwischen der österreichischen und deutschen Nachkriegsliteraturlandschaft ein. Deutlich wird des Weiteren, wie Bernhard trotz seiner Selbstinszenierung als Solitär ein tragfähiges Netzwerk an ihn unterstützenden Personen aufgebaut hat. Auf Stockers Relativierung der Außenseiterposition Bernhards folgt eine weitere: Mit Blick auf die Gattung der Anti-Heimatliteratur, als deren Begründer Bernhard deklamiert worden ist, hält Stocker fest, dass Bernhard diese von Robert Menasse als genuin österreichisch beschriebene Gattung wie kein anderer bedient habe, jedoch ältere Texte von österreichischen Kollegen wie Hans Lebert vorliegen, die dieser spezifischen Form der Heimatliteratur vor Bernhards Darstellung (österreichischer) Anti-Idyllen zum Durchbruch verholfen haben.

Alexander Honold widmet sich Fragen der Erzählstruktur, die nicht nur die epischen Texte des Schriftstellers, sondern auch seine dramatischen und – könnte man nach der Lektüre weiterer Beiträge des Handbuches ergänzen – die nicht in erster Linie fiktionalen Texte durchzieht. Honolds neun Seiten umfassender Beitrag bietet die Möglichkeit, sowohl einen ersten Eindruck von der erzähltechnischen und stilistischen Spezifik von Bernhards Texten zu erwerben, als auch auf eine Grundlage für Untersuchungen werkspezifischer Text- und Darstellungsverfahren zurückzugreifen. Als markante Merkmale von Bernhards Erzählstil nennt Honold Wiederholung, Übertreibung und Oppositionslogik, die mit einer Anhäufung von Paradoxa einhergehe. Angesichts der Omnipräsenz dieser Merkmale weist Honold darauf hin, dass Bernhards Texte im Rahmen einer Einzeltextanalyse immer auch auf das virtuelle Gesamtwerk bezogen werden sollten beziehungsweise auch von einem großen, sich fortschreibenden Text, der sich aus Romanen, aber auch aus Reden und Interviews zusammensetzt, ausgegangen werden kann. Auf die in Bernhards Texten formulierte Sprachkritik hinweisend, unternimmt Honold am Ende seines Beitrags eine literaturhistorische Verortung von dessen Werk und Stil, indem er es in den Kontext moderner Autoren wie Robert Musil, Hermann Broch, Franz Kafka, Elias Canetti oder Virginia Woolf stellt.

Clemens Götzes Beitrag Selbstdarstellung und -inszenierung, der sich auf die Ergebnisse von Götzes Promotionsschrift zu Bernhards Autorschaft und medialen Inszenierung stützt, sowie Harald Gschwandters Beitrag in der Abteilung „Bernhard und die Öffentlichkeit“ widmen sich beide dem vom Autor selbst geschaffenen transmedialen Phänomen „Thomas Bernhard“. Beide Forscher betonen die Vielzahl von Formaten, derer sich Bernhard für seine Selbstinszenierung bedient und damit eine die Grenze zwischen Literatur und Wirklichkeit auflösende Kunstfigur – ein in diesem Zusammenhang von Wendelin Schmidt-Dengler eingeführtes Konzept – oder ein künstlerisches Gesamtwerk erschaffen habe. Gschwandter weist insbesondere auf den performativen Aspekt dieser Kunstfigur hin, die erst unter Berücksichtigung der Gestik, Mimik, Prosodie und Rhetorik Bernhards in ihrer Komplexität erfahrbar werde. Im Rahmen der Debatten über die Rückkehr des Autors (und der Autorin) – man denke beispielsweise an stilometrische Untersuchungen in den Digitalen Literaturwissenschaften – wurde zwischenzeitlich diese Dimension von Bernhards Gesamtwerk auch zum Gegenstand der Forschung. Mit Blick auf die vielfältigen, von Gschwandter übersichtlich dargestellten Ausprägungen von Bernhards Wirken ist dies sehr zu begrüßen.

Als letzter Punkt soll auf die Nachwirkung hingewiesen werden, die Uwe Betz und Manfred Mittermayer mit Blick auf von Bernhard beeinflusste beziehungsweise inspirierte Autorinnen und Autoren beschrieben haben. Besonders sei auf das Verdienst aufmerksam gemacht, dass Bernhards Wirkung bis in die jüngste (und nicht nur deutschsprachige) Gegenwartsliteratur nachverfolgt wurde, womit sein Werk nicht nur in den Kontext der Moderne und der Nachkriegsliteratur, sondern auch in denjenigen der Gegenwartsliteratur gestellt wird. Dies zeigen beispielsweise Hinweise auf zwei im Jahr 2017 erschienene Romane, Tau von Thomas Mulitzer und Dichtersgattin von Mario Schlembach. Ersterer hat Bernhard als (verstorbene) Figur zum Gegenstand, während letzterer mit einer typischen Figurenkonstellation in Bernhards Werk und Leben spielt, dabei aber dessen Sprachduktus beibehält.

Wie die vier beitragsübergreifend thematisierten Schwerpunkte zeigen, bildet das Handbuch nicht nur ein hilfreiches Nachschlagewerk oder eine Einflugschneise in den Bernhard-Kosmos, sondern auch eine solide Basis für weiterführende Forschungshypothesen und -diskussionen.

Titelbild

Martin Huber / Manfred Mittermayer (Hg.): Bernhard-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung.
Unter Mitarbeit von Bernhard Judex.
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2018.
555 Seiten, 89,99 EUR.
ISBN-13: 9783476020765

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