Zwischen Dada und Surrealismus

Zum 100. Jahrestag der „magnetischen Felder“ eröffnet Ré Soupault den Blick auf Tristan Tzara als Bindeglied der beiden Kunstbewegungen

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was müssen das für Zeiten gewesen sein, als im Rundfunk noch solche Features produziert und gesendet wurden? Das ist eine dem heutigen Radio vielleicht nicht ganz gerecht werdende Frage, die sich aber demjenigen nahelegt, der den vorliegenden kleinen Band mit zwei Hörfunk-Features von Ré Soupault gelesen hat. Die Dichte, mit der die 1901 in Pommern geborene und seit 1937 mit Philippe Soupault, dem Co-Autor der Magnetischen Felder, verheiratete Künstlerin, Fotografin, Modedesignerin, Übersetzerin und Autorin hier die Geschichte von Dada und Surrealismus darstellt, wozu sie aus dem reichen eigenen Erfahrungsschatz schöpfen kann, wirkt äußerst beeindruckend. Herausgegeben von Manfred Metzner bietet das schmale Bändchen Vom Dadaismus zum Surrealismus im Blick voraus auf den baldigen 100. Geburtstag des Surrealismus – denn 1919 entstanden André Bretons und Philippe Soupaults Champs magnétiques – eine Möglichkeit zur (Wieder-)Begegnung nicht nur mit dem Werk der beiden Soupaults, um das sich hierzulande kaum einer so verdient gemacht hat wie der Heidelberger Anwalt und Verleger Metzner. Sondern mehr noch gibt es Gelegenheit, sich Gedanken über die Verwandtschaft und die Unterschiede dieser prägenden Kunstströmungen der Zwischenkriegszeit zu machen.

In den Jahren 1968 beziehungsweise 1974 widmete Ré Soupault diesem Zusammenhang zwei Features für den Hessischen Rundfunk: Tristan Tzara, Begründer des Dada und „Wir haben uns geirrt: Die wahre Welt ist nicht, was wir geglaubt haben.“ Die Entstehung des Surrealismus. Beide Beiträge, mit denen Soupaults deutsche Ehefrau, die nach den Jahren des Exils 1948 nach Europa zurückgekehrt war, auf Dada und Surrealismus zurückblickte, sind nun in einem Bändchen versammelt. Und Tristan Tzara, der 1916 in Zürich mit Hugo Ball das Cabaret Voltaire aus der Taufe hob, der „Stratege“ und „Propagandist“ von Dada wird, verbindet dabei nicht nur die beiden Texte miteinander, sondern wird von Soupault überhaupt in seiner Funktion als Bindeglied der beiden literarisch-künstlerischen Bewegungen hervorgehoben. 1922 schließt er sich dem Surrealismus in Paris an, stand aber schon vorher mit André Breton, Louis Aragon und Philippe Soupault in engem Kontakt; bereits 1919 war er in ihrer Zeitschrift Littérature vertreten. Ré Soupault zitiert ihren Mann:

Tzaras Ankunft in Paris, Dezember 1919, war wie ein Signal: die Frénésie dieses jungen Rumänen wirkte ansteckend. Breton, Aragon und ich waren seit 1917 mit ihm in Verbindung. Endlich, eines schönen Tages, kam er nach Paris, man darf wohl sagen mit Pauken und Trompeten zog er hier ein.

Dada, das seine Energie aus der Empörung über die Verlogenheit der im Krieg bankrott gehenden europäischen Kultur bezog, wurde zu einer „Explosion in der Geschichte der Literatur und Kunst“. Anders als ein Ereignis, einen zeitlich eng begrenzten Moment der Literatur- und Kunstgeschichte kann man sich Dada als prinzipielle Infragestellung auch nicht denken. Jedoch: „Aus der gotteslästerlichen Gewalttätigkeit Dadas entstand eine Art von neuem geistigen Heroismus … ein ungewöhnlicher Begriff auf dem Gebiet der Literatur, der Begriff der Gefahr und des moralischen Mutes.“ So zitiert Soupault wiederum Tristan Tzara in seinem Weiterziehen hin zum Surrealismus, der – im Streben zu einer neuen Geisteshaltung – anhaltendes, ja noch anwachsendes Interesse verzeichnen könne und auch verdiene. In den 1970er Jahren resümiert Ré Soupault damit eine kriegsfolgebedingt nachholende Surrealismus-Rezeption in Westdeutschland (so bei Elisabeth Lenk, Peter Bürger, Gisela Steinwachs). Nicht anders als Dada hätten Apollinaire und sodann die Surrealisten um Aragon, Breton und Soupault einst auf den Ersten Weltkrieg reagiert: „Der Surrealismus war eine Kampfansage an die gesamte geistige Situation in Frankreich am Ende des Ersten Weltkrieges. Seitdem ist er in das Leben eingedrungen, weit über Frankreich hinaus.“

Ob man das auch heute noch, da der Surrealismus als literarisch-künstlerische Bewegung weithin historisiert ist, so sagen darf, muss an dieser Stelle offen bleiben. Selbst die unter dem Eindruck der persönlichen Beteiligung abgefasst Retrospektive Ré Soupaults ist heute historisch geworden. Andererseits bietet wohl kaum ein Anlass wie das bevorstehende Jubiläum eher den Grund, auf dieses Jahrhundert des Surrealismus zurückzublicken und sich dazu dem Blick einer faszinierend vielfältigen Künstlerin zu bedienen. Manfred Metzner als dem Herausgeber der deutschen Werkausgabe Philippe Soupaults wie auch des fotografischen Werks der 1996 verstorbenen Ré Soupault ist es zu danken, mit der vorliegenden schmalen Edition zweier thematischer Essays dieses Feld wiederum bereitet zu haben.

Titelbild

Ré Soupault: Vom Dadaismus zum Surrealismus. Zwei Essays.
Herausgegeben von Manfred Metzner.
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2018.
77 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783884236024

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch