Literaturkritik im Geist der Weltliteratur

Der alte Goethe als Rezensent

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Ist Goethe ein Klassiker der Literaturkritik? Nicht einmal die Experten scheinen sich da einig zu sein. Zweifellos hat er Rezensionen geschrieben, doch die Buchkritiken stehen, ebenso unbezweifelbar, nicht im Zentrum seines Werks. Abgesehen von der Rede „Zum Shakespeares-Tag“ ist der literarischen Öffentlichkeit auch von Goethes größeren literaturkritischen Essays nicht viel in Erinnerung geblieben. Er selbst hat sich gelegentlich sogar kritisch über seine, ja jede kritische Tätigkeit geäußert. Immer wieder gern wird der Vers zitiert: „Schlagt ihn tot den Hund! Er ist ein Rezensent“. Er war nicht Goethes einzige kritische Unmutsäußerung. Noch in den späten 1820er-Jahren diktierte er Eckermann einiges Kritische über Kritik und Kritiker in die Feder – etwa den Hinweis, August Wilhelm Schlegels ‚Behandlung‘ des französischen Theaters, zumal Molières, sei „das Rezept zu einem schlechten Rezensenten, dem jedes Organ für die Verehrung des Vortrefflichen mangelt und der über eine tüchtige Natur und einen großen Charakter hingeht, als wäre es Spreu und Stoppel“. Dieses scharfe Wort Goethes war nicht nur eine seiner zeitweise fast allfälligen Abfertigungen der deutschen Romantiker, sondern auch eine dezidierte Distanzierung zumindest von einer bestimmten Art der Literaturkritik, der er selbst im Alter eine ganz andere entgegenzusetzen versuchte.

Goethes eigene Tätigkeit als Rezensent ist überschaubar. Sie fällt im Wesentlichen in die frühen 70er-Jahre des 18. und die ersten des 19. Jahrhunderts; in den letzten ungefähr zehn Jahren seines Lebens hat er sie dann noch einmal aufgenommen. Dazwischen gab es Zeiten  ̶ mitunter ein ganzes Jahrzehnt, wie das zwischen 1807 und 1816  ̶ , in denen er kaum Bücher besprach. Als er die Ausgabe letzter Hand vorbereitete, sah er auch einen Band für seine Rezensionen vor, der in der schwierigen Zuordnung gerade der frühen Kritiken aber nicht unbedingt zuverlässig ist.

Der junge Goethe war ein forscher Kritiker im Stil der späten Aufklärung, der hart urteilen, ja verreißen konnte. Das erste Werk der deutsch-jüdischen Literatur, Isachar Falkensohn Behrs Gedichte von einem pohlnischen Juden, etwa fertigte er in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen kurzerhand ab. Er kritisierte die durchgehende „Mittelmäßigkeit“ und äußerte am Ende etwas herablassend den Wunsch, der Verfasser möge ihm „einmal wieder, und geistiger, begegnen“.

Keiner hat allerdings die Schwächen des jungen Rezensenten Goethe so scharf gesehen wie der alte Goethe. 1824 hat er sich gewissermaßen selbst rezensiert – und ist dabei mit sich so scharf ins Gericht gegangen, wie er es früher mit anderen getan hatte:

Die Rezensionen für die Frankfurter gelehrten Anzeigen haben einen eigenen Charakter. Wild, aufgeregt und flüchtig hingeworfen wie sie sind, möchte ich sie lieber Ergießungen meines jugendlichen Gemüths nennen als eigentliche Rezensionen. Es ist auch in ihnen so wenig Eingehen in die Gegenstände als ein gegebener in der Literatur begründeter Standpunkt, von wo aus diese wären zu betrachten gewesen, sondern alles beruhet durchaus auf persönlichen Ansichten und Gefühlen.

Dieses Urteil findet sich im vierten Band von Über Kunst und Alterthum, der Alters-Zeitschrift Goethes. In ihr hat er die meisten seiner späten Kritiken veröffentlicht, während die früheren zum größten Teil in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen und in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung erschienen waren. Goethes Selbstkritik, die zugleich eine Kritik kritischer Subjektivität ist, lässt erkennen, dass sich sein Verständnis der Buchbesprechung mit den Jahren grundlegend veränderte. Wie er sich, am Ende seines Lebens, Literaturkritik wünschte, verrät Über Kunst und Alterthum.

Allerdings hatten seine späte Zeitschrift und die in ihr publizierten kritischen Arbeiten lange keinen guten Ruf. Gervinus schmähte Über Kunst und Alterthum als „Magazin der Unbedeutendheit“, und Heine spottete über den Rezensenten Goethe, er habe „Angst vor jedem selbständigen Originalschriftsteller“ gehabt. Deshalb „lobte und pries“ er angeblich „alle unbedeutende Kleingeister; ja er trieb dieses so weit, daß es endlich für ein Brevet der Mittelmäßigkeit galt, von Goethe gelobt worden zu sein“.

Goethes Zeitschrift war kein Publikumserfolg. Ihr kamen vielmehr nach und nach die Leser abhanden. Die Auflage des ersten Heftes 1816 betrug noch 2000. Elf Jahre später war sie auf ungefähr 750 gesunken, Tendenz weiter fallend. Dafür mag es gleich mehrere Gründe gegeben haben: Die Zeitschrift erschien unregelmäßig, zwischen 1820 und 1824 gar nicht, ebenso noch einmal zwischen 1828 und 1832, bevor das letzte Heft posthum herauskam. Goethe missachtete aber nicht nur die Gepflogenheiten literarischer Periodika. Souverän schrieb er auch in diesem Fall immer wieder an seinen Lesern vorbei. Manche Hefte, vor allem der ersten Jahrgänge, haben, gerade in den pedantisch beschreibenden Artikeln über bildende Kunst, den Charme seiner amtlichen Schriften. Inzwischen findet Über Kunst und Alterthum allerdings mehr Anerkennung, wie insgesamt das oft eigenwillig und sperrig anmutende Spätwerk Goethes, zu dem es gehört.

2.

Über Kunst und Alterthum erschien von 1816 bis 1832 in sechs Bänden zu je drei Heften. Der Titel leitet sich von der Denkschrift Kunst und Alterthum am Rhein und Mayn her, mit der Goethe das Unternehmen eröffnete. Diese Denkschrift hatte er, auf Anregung des Freiherrn vom Stein, über eine Reise während seiner beiden Kuren in Wiesbaden 1814 und 1815 verfasst. Sie bestand im Wesentlichen aus einem Überblick über die historischen Sehenswürdigkeiten und Kunstschätze der Rheinlande, die 1814 auf dem Wiener Kongress an Preußen gefallen waren.

Schon das zweite Heft weist jedoch eine andere Struktur auf. Seine Erzählungen von der Wiesbadener Kur setzt Goethe zwar mit dem Bericht „Das Sanct Rochus-Fest zu Bingen“ fort, leitet das Heft aber mit der Polemik „Neu-deutsche religiös-patriotische Kunst“ ein. Diese Abrechnung mit den Nazarenern hatte allerdings nicht er selbst verfasst, wie seinerzeit meist angenommen wurde, sondern Heinrich Meyer, seit gemeinsamer Zeit in Rom sein kunsthistorischer Berater. Den Band beschließt die neue Rubrik „Aus verschiedenen Fächern Bemerkenswertes“, die Nachträge zu dem Bericht des ersten Bandes enthält.

Das dritte Heft beginnt mit der Erzählung „Im Rheingau Herbsttage. Supplement des Rochus-Festes“ (1814), die sich auf Goethes letzten Aufenthalt am Rhein bezieht. In der Abteilung „Aus verschiedenen Fächern Bemerkenswertes“ ist ein Aufsatz über „Deutsche Sprache“ abgedruckt, ein weiterer über „Redensarten, welche der Schriftsteller vermeidet, sie jedoch dem Leser beliebig einzuschalten erlaubt“, die Liste „Urteilsworte französischer Critiker“ und schließlich ein großer Aufsatz „Abendmal von Leonard da Vinci zu Mayland“.Das ergibt im Ganzen eine bunte Sammlung, die vor allem von den Erlebnissen und Interessen des Verfassers zusammengehalten wird.

Über Kunst und Alterthum war erkennbar eine Zeitschrift ohne Programm. In ihrer Heterogenität hat sie den Goethe-Forschern von jeher eine gewisse Verlegenheit bereitet. Wie sollte man diese merkwürdigen Hefte einordnen, in denen es zwar auch, aber nicht nur, ja vielleicht sogar immer weniger um Kunst und Geschichte ging und die Gegenden an Rhein und Main bald ganz aus dem Blick gerieten? Manche haben Über Kunst und Alterthum als Goethes Kunstzeitschrift verstanden, in der er vor allem seine Auseinandersetzung mit der romantischen Kunst und Kunsttheorie geführt habe – je nach Auslegung entweder von einem klassizistischen Standpunkt aus oder in heimlicher Übereinstimmung mit den Romantikern. Dass dies zu eng gedacht ist, lässt schon das dritte Heft vermuten, in das Goethe Texte auch zu literarischen Themen aufnahm. Ein wenig zu weit gefasst wiederum mag die Kennzeichnung als „Kulturzeitschrift“ sein, als Goethes „Hauszeitschrift für seinen Freundes- und Bekanntenkreis, Sprachrohr und Publikationsorgan […] für alle ihn interessierenden kulturellen Fragen“ (Gero von Wilpert). In der bislang letzten Edition firmiert Über Kunst und Alterthum unter den Ästhetischen Schriften. Hendrik Birus, ihr Herausgeber, hat die Zeitschrift als Spätwerk des alten Goethe charakterisiert, das wesentlich der „Kommunikation über Literatur und Kunst“ diene.

Auch das ist nicht ganz treffend, nicht nur weil sich in Über Kunst und Alterthum zudem Aufsätze zum Beispiel über Sprache, Architektur und Musik finden. Bei dieser wie bei den anderen Einordnungen wird auch meist vergessen, dass sich der Charakter der Zeitschrift ab dem zweiten Heft des zweiten Bandes gründlich änderte. Goethe nutzte sozusagen die Konzeptlosigkeit seiner Zeitschrift, indem er sie neu – oder erst richtig – konzipierte.

In zweiten Heft des zweiten Bandes gibt es erstmals die Abteilung „Literarische, Poetische Mitteilungen“. Goethe eröffnet sie mit den vielleicht sogar programmatisch gedachten Versen „Unmöglich ist’s den Tag dem Tag zu zeigen …“ und beendet sie mit seiner Übersetzung aus Byrons Manfred. Das dritte Heft des zweiten Bandes beginnt er wiederum poetisch, mit dem Gedicht „National-Versammlung“, dem nach einer Rezension von „Il conte di Carmagnola. Tragedia di Alessandro Manzoni, Milano“ eine ganze Abteilung von weiteren 14 Gedichten folgt, dann sein Selbstkommentar zu „Urworte, orphisch“, ein gedrängt-kurzer Essay „Bedenkliches“ und eine lockere Reihe „Zahme Xenien“.

Die Rubrik „Poesie, Ethik, Literatur“, in die Goethe das alles aufgenommen hat, führt er im nächsten Heft, dem ersten des dritten Bandes, fort, abermals mit Gedichten und, unter dem Titel „Eigenes und Angeeignetes in Sprüchen“, auch mit Aphorismen. Diese setzt er im vierten Band fort, platziert vorher aber im dritten Band noch Notizen über verschiedene Themen, von Rameau’s Neffe von Diderot bis zu Lebensbekenntnisse im Auszug. Im ersten und vor allem im zweiten Heft des fünften Bandes setzt Goethe dann das Experiment mit kurzer Prosa unter dem Titel „Einzelnes“ fort. All diese Texte sind weder im strengen Sinn essayistisch noch aphoristisch. Sie sind am ehesten noch einer Aufzeichnungsliteratur zuzurechnen, wie sie in Deutschland, allerdings ohne sie der Öffentlichkeit zu präsentieren, Georg Christoph Lichtenberg begründet und Elias Canetti schließlich etabliert hat, 140 Jahre nach Goethe. Auf Goethe ist in diesem Zusammenhang allerdings nie hingewiesen worden.

Unter der Hand, ohne ausdrückliche Erklärung, hat Goethe so im vierten Band Über Kunst und Alterthum bereits in eine literarische Zeitschrift verwandelt, in der er u.a. verschiedene kurze Formen in Vers und Prosa ausprobierte. Als Motto dafür eignen sich die Verse, die dem zweiten Heft des vierten Bandes vorangestellt sind:

„Sprich wie du dich immer und immer erneust?“
Kannst’s auch, wenn du immer am Großen dich freust.
Das Große bleibt frisch, erwärmend, belebend;
Im Kleinlichen fröstelt der Kleinliche bebend.

Das prominent platzierte Gedicht lässt erkennen, dass es dem alten Goethe tatsächlich darum ging, nicht nur sich, sondern auch seine Zeitschrift ständig zu erneuern und weiterzuentwickeln.

3.

Dass Über Kunst und Alterthum wenigstens hefteweise auch eine literarische Zeitschrift eigener Art darstellt, ist immer wieder übersehen worden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich früh die Aufmerksamkeit der Goethe-Philologen auf die literaturtheoretische Bedeutung der Zeitschrift konzentriert hat. Schon Bernhard Seuffert und Bernhard Suphan haben in der Weimarer Ausgabe auf den Zusammenhang mit „Goethes Lieblingsvorstellung von einer Weltliteratur“ hingewiesen. Tatsächlich spielt die Zeitschrift für die Entwicklung der Idee der Weltliteratur unübersehbar eine Rolle. In das dritte Heft des fünften Bandes und das erste Heft des sechsten Bandes nahm Goethe 1826 und 1827 die umfangreiche Rezension der ersten vollständigen Übersetzung seiner Dramen ins Französische von Jean-Jacques Ampère auf, dem Sohn des berühmten Physikers, und zwar in seiner eigenen Übertragung. Er druckte auch zwei Rezensionen über ein neues Tasso-Drama des französischen Autors Alexandre Duval ab, in denen sein eigener Tasso kontrovers beurteilt wurde. Dem Ganzen gab er seine erste öffentliche Bemerkung über Weltliteratur bei, in der er sich überzeugt zeigte, „es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur“.

Die Rezension Ampères war in der liberalen Zeitschrift Le Globe erschienen, die Goethe regelmäßig las. Diese Zeitschrift griff den Gedanken einer entstehenden Weltliteratur in ihrer Ausgabe vom 1. November 1827 auf, allerdings nicht das Wort. Statt von einer ‚Weltliteratur‘ war von einer „littérature occidentale ou européene“ die Rede, die auch die Franzosen im Entstehen sahen. Auf diese zustimmende Reaktion nahm Goethe dann wiederum Bezug im letzten von ihm besorgten Heft seiner Zeitschrift. Unter dem Titel „Bezüge nach Außen“ druckte er seine Übersetzung der Passage aus Le Globe ab und setzte ihr eine kurze Bemerkung voran: „Mein hoffnungsreiches Wort: daß bei der gegenwärtigen höchst bewegten Epoche und durchaus erleichterter Kommunikation eine Weltliteratur baldigst zu hoffen sei, haben unsre westlichen Nachbarn, welche allerdings hiezu großes wirken dürften, beifällig aufgenommen.“

Über Kunst und Alterthum benutzte Goethe, um die Idee der Weltliteratur der Öffentlichkeit nicht nur zu präsentieren, sondern auch um sie zu propagieren. In seiner Zeitschrift erschienen allein 1827 Artikel über chinesische, neugriechische, böhmische und serbische Literatur, über Bücher von Benjamin Constant, Walter Scott und Thomas Carlyle. Besonders prominent vertreten sind im Ganzen Alessandro Manzoni und Lord Byron, die beiden europäischen Autoren, die Goethe am meisten schätzte.

Über Manzoni setzte Goethe sein Publikum zuerst im zweiten Heft des zweiten Bandes in Kenntnis, in „Klassiker und Romantiker in Italien sich heftig bekämpfend“. Am Ende, im vorletzten Heft, zeigte er noch Manzonis Roman I Promessi Sposi an. Wie er seine Übersetzungsprobe aus dem Conte di Camagnola und die vollständige Übertragung von Manzonis Ode auf den Tod Napoleons Il cinque Maggio (Der fünfte Mai) abdruckte, legte er seinen Lesern auch kleinere Übertragungen aus Byrons Manfred und Don Juan vor. Er zeigte dessen Cain an, erwähnte zumindest den Werner, den Byron ihm nach einigem Hin und Her gewidmet hatte, und eröffnete den fünften Band mit seinem Gedicht „An Lord Byron“. Schließlich nahm er nicht nur seinen Essay „Teilnahme Goethe’s an Manzoni“ auf, sondern auch unter dem Titel „Alexander Manzoni an Goethe“ dessen einzigen Brief an ihn. Offensichtlich war der literarische Horizont von Über Kunst und Alterthum international, auf jeden Fall europäisch, gelegentlich auch global.

Es sind allerdings nicht allein die Gegenstände, die Über Kunst und Alterthum zu dem publizistischen Organ der Goethe’schen Idee der Weltliteratur machen. Es ist auch die Form der Rezension, die er wählte. Vor allem ein Wort wiederholt sich hier in den Titeln: Teilnahme – „Teilnahme Goethes an Manzoni“, „Teilnahme der Franzosen an deutscher Literatur“, „Teilnahme der Engländer u. Schottländer an deutscher Literatur“, schließlich „Teilnahme der Italiäner an deutscher Literatur“. „Teilnahme“ mag nicht nur vom heutigen Verständnis her eine ungewöhnliche Bezeichnung für eine Rezension sein. Sie steht jedoch in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Idee der Weltliteratur.

Weltliteratur ist die erfolgreichste Begriffsprägung des alten Goethe – und zugleich seine am meisten missverstandene. Der Begriff hat sich schon bald von der Bedeutung abgelöst, die er mit ihr verbunden hat. Wenn heutzutage von Weltliteratur gesprochen wird, ist in aller Regel die Rede entweder normativ von einem internationalen literarischen Kanon oder empirisch-extensiv von der Gesamtheit der Literaturen der Welt. Goethe kannte beide Bedeutungen, aber er hatte etwas anderes im Sinn, als er die Epoche der Weltliteratur ausrief.

Berühmt geworden ist vor allem seine Bemerkung aus dem Gespräch mit Eckermann vom 31. Januar 1827: „National-Literatur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Welt-Literatur ist an der Zeit und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen“. Dieser aperçuhafte Satz, typisch für Goethes aphoristischen Altersstil, lässt allerdings bestenfalls in Umrissen – und ansonsten nur, wenn man ihn in die richtigen Kontexte stellt – erkennen, was er unter Weltliteratur verstanden hat.

Genauer hat Goethe sich ein Jahr später, 1828, in seiner Grußadresse für „Die Versammlungen deutscher Naturforscher und Ärzte“geäußert. Wenn er „eine Europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur zu verkünden gewagt habe“, schreibt er da,

so heißt dieses nicht daß die verschiedenen Nationen von einander und ihren Erzeugnissen Kenntnis nehmen, denn in diesem Sinne existiert sie schon lange, setzt sich fort und erneuert sich mehr oder weniger; Nein! hier ist vielmehr davon die Rede, daß die lebendigen und strebenden Literatoren einander kennen lernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlaßt finden gesellschaftlich zu wirken. Dieses wird aber mehr durch Reisende als Korrespondenz bewirkt, indem ja persönlicher Gegenwart ganz allein gelingt das wahre Verhältnis unter Menschen zu bestimmen und zu befestigen.

Dieser Hinweis Goethes ist gleich doppelt bemerkenswert. Er skizziert sein weitestes Verständnis von Weltliteratur: als Bezeichnung für die seit der Antike zu beobachtende sprachübergreifende Intertextualität – und grenzt von dieser allgemeinen seine spezielle Auffassung der aktuellen Weltliteratur ab. Sie ist bestimmt durch ein neuartiges ‚Verhältnis‘ zwischen Schriftstellern verschiedener Nationalitäten, die ‚gesellschaftlich wirken‘, in seiner Sprache: gemeinsam literarisch tätig sein sollten. Die Grundlage dafür sah Goethe in Kontakten, wie sie besonders durch persönliche Begegnungen oder brieflichen Verkehr geschaffen werden.

Von seiner Idee der Weltliteratur her hat Goethe ein neues, eigenes Konzept von Literaturkritik entwickelt, das er gleichfalls in Über Kunst und Alterthum formuliert hat. Es steckt in seinem Plädoyer für eine „productive Kritik“, das er bezeichnenderweise in seinem Artikel „Graf Carmagnola noch einmal“ aufgenommen hat. Die „productive“ grenzt Goethe von der „zerstörenden Kritik“ ab und charakterisiert sie durch die Fragen, die sie leiten: „Was hat sich der Autor vorgesetzt? Ist dieser Vorsatz vernünftig und verständig? Und in wiefern ist es gelungen, ihn auszuführen?“

Vor allem drei Merkmale kennzeichnen die „productive Kritik“: Sie ist erstens eine immanente Kritik, die ein Werk an den Intentionen des Autors misst – und ausdrücklich nicht an den subjektiven Vorstellungen des Kritikers, der „irgend einen Maßstab, irgend ein Musterbild, so borniert sie auch seien, in Gedanken aufstellen“ mag. Die ‚productive Kritik‘ ist zweitens auch nicht in erster Linie für das Publikum, sondern für den Autor gedacht. Man müsse, so Goethe, „mehr um des Autors als des Publikums willen urteilen“. Solche ‚productive Kritik‘ ist deshalb drittens Teil eines Dialogs zwischen Kritiker und Autor und letztlich dazu gedacht, den Autor in seiner Arbeit zu fördern. Goethes Wort von den „lebendigen und strebenden Literatoren“, die sich „veranlaßt finden gesellschaftlich zu wirken“, findet ihre Entsprechung in diesem Konzept von Literaturkritik. „Teilnahme“ ist seine Formel dafür.

Goethe hat dies nicht nur postuliert, sondern selbst zu praktizieren versucht – im Dialog mit Byron und vielleicht noch mehr mit Manzoni. Der Prüfstein einer ‚productiven Kritik‘ ist offenbar Il Conte di Carmagnola geworden. Der Tragödie Manzonis widmete Goethe im dritten Heft des zweiten Bandes eine einlässliche Rezension, die das Stück gegen die – italienische – Kritik ausdrücklich verteidigte. Er habe sich, schreibt er, sein kritisches Verfahren resümierend, „den deutlichsten Begriff von Herrn Manzonis Absichten zu verschaffen gesucht; wir haben dieselben löblich, natur- und kunstgemäß gefunden und uns zuletzt, nach genauester Prüfung, überzeugt daß er sein Vorhaben meisterhaft ausgeführt.“ Für die Rezension bedankte sich Manzoni in dem erwähnten Brief. Darauf wiederum reagierte Goethe in seinem Artikel „Graf Carmagnola noch einmal“, den er im zweiten Heft des dritten Bandes veröffentlichte. Die Einleitung lässt keinen Zweifel daran, dass Goethe die erwünschte Wirkung einer ‚productiven Kritik‘ bei Manzoni festgestellt hatte: „Wie gut und heilsam unsere erste Rezension auf den Autor gewirkt hat, hat er uns selbst eröffnet, und es gereicht uns zu großer Freude mit einem so liebwerten Manne in nähere Verbindung getreten zu sein; an seinen Äußerungen erkennen wir deutlich, daß er im Fortschreiten ist.“

Am Beispiel der Tragödie demonstrierte Goethe geradezu, Schritt für Schritt, wie er ‚productive Kritik‘ als poetisch-kritischen Dialog in der Epoche der Weltliteratur verstand. Dass er den Conte di Carmagnola dafür wählte, scheint vor allem einen Grund gehabt zu haben. Was er „productive Kritik“ nannte, entsprach genau den Forderungen, die Manzoni im Vorwort zu seinem Stück formulierte, das er gegen ungerechtfertigte Kritik verteidigte. Goethe machte sich diese Vorstellung von Kritik zueigen – und wandte sie gleich auf ihren eigentlichen Urheber an.

Anne Bohnenkamp hat für einen solchen produktiv-kritischen Dialog die Formel von der „Rezeption der Rezeption“ gefunden und in ihr den Kern der Goethe’schen Weltliteratur gesehen: „Goethes ‚Weltliteratur‘ entsteht nicht nur aus der internationalen und interkulturellen Kommunikation, sie ist diese Kommunikation selbst.“ Das mag allerdings eine zu starke, von unseren heutigen inter- und metatextuellen Konzepten geprägte Formulierung sein. Zumindest Goethes Wort, dass „die lebendigen und strebenden Literatoren“ sich „veranlaßt finden gesellschaftlich zu wirken“, legt eher den Schluss nahe, dass er mit ‚Weltliteratur‘ die Texte meinte, über die die Autoren miteinander kommunizieren. Für ihn dürfte im Mittelpunkt immer noch das Werk gestanden haben, dem die Rezension dienen sollte. Insofern ist die ‚productive Kritik‘, zumindest im engeren Sinn, nicht selbst Weltliteratur, sondern Kritik im Geist und im Dienst der Weltliteratur.

4.

Gegen Goethes Konzept einer ‚productiven Kritik‘ lassen sich leicht Einwände vorbringen. Der billigste, der Heines, ist allerdings unhaltbar: Goethe hat sein Lob keineswegs an mittelmäßige Talente verschwendet. Er hat es vielmehr zunächst den beiden lebenden Autoren zuteil werden lassen, die er am meisten schätzte. Seine ‚teilnehmenden‘ Besprechungen sind auch nicht als Gefälligkeitsrezensionen abzutun. Goethe konnte noch im Alter sehr wohl zugleich loben und tadeln, und selbst seinem höchsten Lob ist noch anzusehen, dass es durch Abwägung gewonnen wurde. Der zentrale Satz in der Anzeige von Byrons Don Juan belegt das beispielhaft: „Don Juan ist ein gränzenlos-geniales Werk, menschenfeindlich bis zur herbsten Grausamkeit, menschenfreundlich, in die Tiefen süßester Neigung sich versenkend; und, da wir den Verfasser nun einmal kennen und schätzen, ihn auch nicht anders wollen als er ist, so genießen wir dankbar was er uns mit übermäßiger Freyheit, ja mit Frechheit vorzuführen wagt.“ Vielleicht ist das für die Methode des Kritikers Goethe der bezeichnendste Satz: Er kritisiert, aber mehr noch charakterisiert er, er wägt ab, ohne zu schmeicheln, und lobt mit Einschränkungen. So lässt er erkennen, dass auch die ‚produktive Kritik‘ sehr wohl Kritik ist.

Gleichwohl dürfte das Konzept heute vielen seltsam anachronistisch erscheinen: in einer Zeit, in der ein Kritiker wie Marcel Reich-Ranicki, der Goethes Unterscheidung zwischen ‚produktiver‘ und ‚zerstörender Kritik‘ als „oberflächliche und dubiose Alternative“ bezeichnet hat, seinen Ruhm auf „Lauter Verrisse“ gründen und mit ihnen bekannter werden konnte als mancher Autor, den er rezensiert hat. Goethes Kritik kritischer Beliebigkeit, ja Borniertheit mag auch mancher Rezensent als narzisstische Kränkung empfinden, der seinen eigenen kritischen Geist über den produktiven anderer stellt. Goethe kehrt die Hierarchie um: Er stellt den Autor über den Kritiker, der ihm auf teilnahmsvoll-verständige Weise zu dienen habe.

Wenn man seine Antithese von ‚zerstörender‘ und ‚productiver Kritik‘ zu Ende denkt, dürften es vor allem zwei Punkte sein, die aus heutiger Sicht besonders anstößig – und eben deshalb besonders bedenkenswert sind. Goethes Kritik an einer Subjektivität, deren Wendung ins Kritisch-Negative ihm als Anmaßung erschien, weil ihr „die Verehrung des Vortrefflichen“ fehlt, steht im Widerspruch zum Individualismus moderner Literatur. Seine Ablehnung kultureller oder literarischer Zerstörung widerspricht zudem dem Programm des ‚Traditionsbruchs‘ in der Moderne, die sich durch ständige Erneuerung definiert und in diesem Geist unentwegt vermeintlich oder tatsächlich Veraltetes ‚teilnahmslos‘ hinter sich lassen muss.

Wie immer man Goethes ‚productive Kritik‘ heute beurteilen mag – in einer Hinsicht ist sie allerdings kaum übertroffen worden. Dem alten Goethe als Anwalt der Weltliteratur war es selbstverständlich, literarische Werke auf Französisch, Italienisch und Englisch zu lesen und sie zu rezensieren, bevor sie übersetzt waren. Ja, in vielen Fällen, vor allem dem Manzonis, bereitete er deren Rezeption im Deutschen erst vor. Im Zeitalter der Globalisierung ist ein solcher literarischer Horizont noch immer keine Selbstverständlichkeit – ganz abgesehen von dem literarischen Sachverstand, über den Goethe als Autor und Kritiker verfügte (und den ihm mancher von Friedrich Schlegel bis Marcel Reich-Ranicki absprechen wollte). In dieser Hinsicht zumindest ist Goethes Literaturkritik im Geist der Weltliteratur bis heute unerreicht.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist eine (u.a. um Zitatbelege und Literaturhinweise) gekürzte und modifizierte Fassung des Aufsatzes mit demselben Titel, der 2017 in dem von Jörg Schuster, André Schwarz und Jan Süselbeck herausgegebenen Band „Transformationen literarischer Kommunikation. Kritik, Emotionalisierung und Medien vom 18. Jahrhundert bis heute“ (Verlag De Gruyter) erschienen ist. Er steht dort mit drei weiteren Aufsätzen von Gerhard Kurz, Michael Pilz und Uwe Wittstock im ersten Kapitel, das sich mit Literaturkritik befasst. Zu Goethes Konzept der Weltliteratur siehe auch Dieter Lamping: Die Idee der Weltliteratur. Ein Konzept Goethes und seine Karriere. Stuttgart 2010.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz