Von schwermütigen Serienermittlern und interkulturellen Textdetektiven

Der Sammelband „Kriminographien“ von Metin Genç und Christof Hamann begegnet der Vielfalt kriminalliterarischer Schreibweisen mit einer beachtlichen Perspektivenpluralität

Von Franziska PlettenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Plettenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbei sind die Zeiten, von denen Richard Alewyn, einer der Pioniere der deutschen Kriminalliteraturforschung, in seinem Aufsatz Anatomie des Detektivromans sagte: „Das Lesen von Detektivromanen gehört zu den Dingen, die man zwar gerne tut, von denen man aber nicht gern spricht. Man kann seinen Ruf kaum wirksamer gefährden, als indem man sich ernsthaft damit befaßt, zumindest in deutschen Landen. Anstößig ist seine Popularität, und für anstößig gilt sein Thema.“ Dieser Weg der im allgemeinen Sprachgebrauch oft als „Krimi“ bezeichneten Gattung vom heimlich konsumierten Trivialvergnügen hin zum anerkannten Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung ist nicht zuletzt ein Ausdruck der bemerkenswerten Innovationsintensität des Genres: Kriminalliterarische Textstrukturen und Genrestrategien sind mittlerweile auch weit über die traditionellen Gattungsgrenzen hinaus in derlei viele Texte eingeschrieben, dass sie schwerlich von der Forschung übersehen oder ignoriert werden könnten. Von der momentanen Popularität der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Kriminalliteratur zeugt nun auch der Sammelband Kriminographien. Er widmet sich der Analyse aktueller, vorwiegend deutschsprachiger, im engeren wie auch im weiteren Sinne der Kriminalliteratur zuzuordnenden Texte. Herausgeber sind Metin Genç und Christof Hamann, wobei letzterer dank zweier Veröffentlichungen, die in jüngerer Vergangenheit im Metzler Verlag erschienen sind, wahrlich kein Unbekannter auf dem Gebiet der Krimiforschung ist.

Bereits der Titel ist Ausdruck des Bestrebens der beiden Herausgeber, sich der „Vielfalt der Erscheinungsformen literarisierter Delinquenz“ angemessen zu nähern. So widmet sich Genç nicht nur in seinen einleitenden Worten der Aufgabe, das „vielgestaltige Spiel mit Gattungskomponenten und Genrekonventionen“ und die zunehmende Hybridisierung des Gegenstandes pointiert zu umreißen, sondern eröffnet den Band zudem mit einem Plädoyer für die Neuklassifikation von Kriminalliteratur. Im Zentrum seiner gattungstheoretischen Überlegungen stehen dabei ein triadisches Bestimmungsmodell und die Kategorie kriminalliterarischer Schreibweisen, die Genç als abstrakten Rahmen einer möglichen  Revision literaturwissenschaftlicher Beschreibungskategorien verstanden wissen möchte. Zwar erscheint dieses Vorhaben angesichts der Tatsache, dass bis dato kein allgemein konsensfähiger Begriff von Kriminalliteratur in der Forschung vorliegt, ebenso ehrenwert und innovativ wie notwendig – es bleibt jedoch abzuwarten, inwiefern das ambitionierte Modell sich gegen die etablierten Begriffe behaupten kann.

Erklärtes Ziel des Sammelbandes ist nach Genç eine offene Perspektive: Kriminalliterarische Schreibweisen sollen nicht allein intragenerisch untersucht werden. Zugleich gilt es, genreübergreifend deren Relevanz und Implementierung in den Blick zu nehmen. Ganz im Sinne dieser programmatischen Perspektiverweiterung widmen sich die Analysen neben eher konventionellen Gattungsvertretern auch solchen Texten, deren Subsumierung unter den Begriff „Krimi“ zunächst eher befremdlich anmutet. Zu ersterer Gruppe zählen etwa die dank der Serie Babylon Berlin aktuell überaus populären Gereon-Rath-Romane Volker Kutschers. Ihnen widmet sich Thomas Kniesche, seit seiner Einführung in den Kriminalroman von 2015 eine gegenwärtig wichtige Bezugsgröße im Bereich der Krimiforschung, in einem Beitrag, der zwar gewohnt leserfreundlich, jedoch ohne neuartige Erkenntnisse daherkommt. In die zweite Gruppe dürfte wohl Merle Krögers Text Havarie einzuordnen sein, der auf einer Recherche zum gleichnamigen Dokumentarfilm aufbaut. Trotz des Fehlens einer zentralen Ermittlerfigur und zwar vorhandenen, keineswegs aber eindeutig als Verbrechen zu klassifizierenden Todesfällen lässt sich der Text bei näherer Betrachtung sehr treffend mit Gençs Begriff des „extragenerischen Einsatzes kriminalliterarischer Schreibweisen“ fassen. Neben einer breiten Auswahl deutschsprachiger Texte gilt das Interesse auch fremdsprachigen Werken, was wohl dem Umstand geschuldet sein dürfte, dass es sich beim Krimi seit jeher um eine überaus importfreudige Gattung handelt.

Auch der von der traditionellen Kriminalliteraturforschung oft stiefmütterlich behandelte kinder- und jugendliterarische Krimi erfährt eine angemessene Betrachtung. Wie üblich wird er zwar fast durchgehend auf sein didaktisches Potenzial hin befragt, dennoch liefern die zugehörigen Beiträge auch im Hinblick auf literaturwissenschaftliche Aspekte erhellende Erkenntnisse. Gabriele von Glasenapp beispielsweise wirft im Kontext einer längst überfälligen Typologisierung jugendliterarischer Kriminalromane die interessante Frage auf, ob und inwieweit die Darstellung der Verbrechen an und von Jugendlichen als Metapher jugendlicher Krisen und Suchbewegungen gelesen werden kann.

In puncto Medienwechsel lässt der Sammelband die „üblichen Verdächtigen“ erstaunlicherweise außer Acht. So rücken weder Film noch Fernsehen (obgleich dem Leser gerade im Zusammenhang von Serialität und Krimi vermutlich unzählige TV-Serien vorschweben, die der zugehörige Beitrag aber bewusst ausspart), stattdessen aber ein kontrovers diskutiertes digitales Medium in den Fokus der Untersuchung. Oliver Rufs medienwissenschaftlich ausgerichteter Ansatz, Jussi Adler-Olsens Roman Erbarmen als Facebook-Thriller neu zu inszenieren, mutet zunächst innovativ an und verspricht ein interessantes Gedankenexperiment, wird jedoch de facto nicht zufriedenstellend zu Ende gedacht. Der Medienwechsel vom Roman in den spezifischen social-media-Kontext hat wesentlich mehr Potential, als Ruf ihm bescheinigt. Das liegt vor allem darin begründet, dass die tatsächlichen Anwendungsmöglichkeiten der Plattform teils nicht in Gänze erfasst, teils kaum kreativ herangezogen werden. Wie die Inszenierung eines speziell auf die Darstellungsoptionen diverser sozialer Netzwerke zugeschnittenen Krimis gelingen kann, lässt sich beispielsweise am Multimedia-Thriller The Chef des amerikanischen Bestsellerautors James Patterson verfolgen, bei dem der Klick auf ein Messer-Emoji im Facebook Messenger den Einstieg in einen interaktiven Ermittlungsspaß verspricht. 

Die Perspektivoffenheit des Bandes gründet sich jedoch nicht allein auf einer breiten Gegenstandswahl. Die von Genç innerhalb der Einleitung betonte „Pluralität der Zugänge“ äußert sich vor allem in der Tatsache, dass die Beiträge sich in zwei große Blöcke gliedern: Rein literaturwissenschaftlich (oder im Falle von Stefan Hinterwimmer, der sich in höchster Detailgenauigkeit mit dem Gebrauch von Demonstrativpronomen in Wolf Haas’ Brenner-Romanen beschäftigt, sprachwissenschaftlich) angelegte Analysen werden ergänzt durch solche, die sich der didaktischen Pragmatisierung kriminalliterarischer Texte zuwenden. Wie Genç erläutert, vertiefe der Band nach zwei Seiten die Frage nach dem Verhältnis von Formspielen und Medialität der Kriminalliteratur und gewinne gerade daraus seine produktive Kraft. Diese Grundprämisse, literaturwissenschaftliche und -didaktische Perspektiven in einem Band zusammenzuführen, mehr noch: gleichberechtigt nebeneinander zu stellen, ist ebenso begrüßenswert wie ungewöhnlich. Dass nämlich diese beiden Blickwinkel auf literarische Texte üblicherweise stets getrennt voneinander realisiert werden, erscheint angesichts der mannigfachen literaturdidaktischen Potentiale des Krimis nicht nur bedauerlich, sondern in Anbetracht mehrerer gelungener Beiträge auch unbegründet. Sie belegen, dass gerade die Verbindung beider Perspektiven eine Untersuchung besonders anschlussfähig werden lassen kann.

Wie mehrfach zu erkennen ist, kommt dem Kriminalroman als „Medium der Vermittlung des Gesamtsystems kultureller Diskurse“ nämlich insbesondere in literaturdidaktischen Zusammenhängen eine entscheidende Bedeutung zu. Stephanie Kroesen und Antje Arnold etwa führen überzeugend vor, wie in den jeweiligen Werken die Konventionen kriminalliterarischen Schreibens in den Dienst interkultureller Fragestellungen gestellt werden. Dabei folgen Arnold wie auch Kroesen einer ähnlichen These: Die Ermittlung im vordergründig relevanten Kriminalfall führt auf einer tieferen Ebene dazu, Vorurteile rassistischer Natur respektive interkulturelle Identitätskonzepte erkunden zu können. Aus dieser ästhetisch-formalen Doppelstruktur der Texte ergibt sich im Kontext der didaktischen Erschließung die naheliegende Möglichkeit, den Erwerb literarischer wie auch interkultureller Kompetenzen an einem für die jugendlichen LeserInnen ansprechenden Gegenstand miteinander zu verbinden. An den Entwürfen wird dabei aber auch erkennbar, wie wichtig es im Kontext einer anspruchsvollen Krimididaktik ist, den zugrundeliegenden Kriminalroman nicht rein inhaltsorientiert zum Gegenstand eines zwar spannenden, aber in literaturdidaktischer Hinsicht wenig fruchtbaren „Ermittlungsworkshops“ zu verkürzen. So demonstriert vor allem der Beitrag von Kroesen an dem vielschichtigen Jugendkrimi Der Mond isst die Sterne auf, wie eine gelungene Verzahnung literaturdidaktischer und interkultureller Unterrichtsziele aussehen kann: Die Lernenden werden zu detektivischen LeserInnen, die den Text in seiner Qualität als literarisches Werk ernst nehmen und zugleich diffizile Fragen verschiedener Identitätskonstruktionen reflektieren.

Doch auch über diese erfreuliche Engführung von Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik hinaus zeichnen sich die von Genç und Hamann versammelten Analysen durch eine bemerkenswerte Vielfalt eher unkonventioneller Untersuchungsansätze aus. Erwähnenswert erscheint hier zum einen der Aufsatz von Julia Menzel, der sich aus einem Forschungsdesiderat in Bezug auf die Verknüpfung von Kriminalliteratur und Serialität herleitet. Indem sie beide Kategorien hinsichtlich grundlegender Strukturprinzipien parallelführt, begreift sie die Mechanismen des Serialen als „Antwort auf die kommunikativen Aufgaben des Genres“ und bietet dem Leser damit anregende Erkenntnisse über einen bislang kaum beachteten Zusammenhang. Juliane Kreppel wiederum knüpft mit ihren Ausführungen zu Friedrich Anis Süden-Reihe an die praxeologisch ausgerichtete Gegenwartsliteraturforschung an, die neben dem literarischen Text auch dessen Rezeptionszeugnisse in die Analyse einbezieht. Mit einer umfassenden Kenntnis der Romane arbeitet sie anhand der Gestaltung der Ermittlerfigur Tabor Süden die Wechselwirkungen zwischen literarischer Rezeptions- und Produktionsseite heraus und kommt zu dem Ergebnis, dass die Konzeption des Ermittlers und seiner charakteristischen Schwermut als poetologische Auseinandersetzung mit der Rezeption der Texte gedeutet werden kann. Sie sei einerseits Ausdruck der leserorientierten Schreibweise Anis, andererseits werde daran dessen Selbstverständnis als gegenwärtiger Krimiautor erkennbar.

Vielfalt ist also letztlich in jeder Hinsicht das Motto dieses Bandes: Ein gerade in den letzten Jahrzehnten so innovatives und wandlungsfähiges Genre wie die Kriminalliteratur verlangt nach methodisch wie perspektivisch vielfältigen Zugängen, die ihr Genç und Hamann in jedem Falle zukommen lassen. Ebenso breit wie das Aufgebot der Untersuchungsansätze ist auch das qualitative Spektrum der Beiträge gestreut. Neben leicht bekömmlichen, beinahe schon unterhaltsamen Analysen stehen solche, die sich auf anspruchsvolle, in Einzelfällen ein wenig zu theorielastige Weise mit den Werken auseinandersetzen – und spiegeln damit im besten Sinne die Vielfalt ihrer Gegenstände wider. In dieser Variationsbreite liegt schließlich die große Stärke des Sammelbandes, der auch für den mit der Forschung zur Kriminalliteratur hinlänglich vertrauten Leser manch unerwartete Erkenntnis über die Gattung und deren Spielarten bereithält und dabei zu immer neuen Fragen anregt. Denn was der eingangs erwähnte Richard Alewyn für die Kriminalliteratur als solche feststellt, trifft auch auf deren Erforschung zu – man kann vom selben Gegenstand auf ganz verschiedene Weise berichten.

Titelbild

Metin Genç / Christof Hamann (Hg.): Kriminographien. Formenspiele und Medialität kriminalliterarischer Schreibweisen.
Unter Mitarbeit von Anahita Babakhani-Kalla.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2018.
292 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826060953

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