Sekundärtextbegehren

Andreas B. Kilcher und Liliane Weissberg zum Kommentar in der jüdischen Geistesgeschichte

Von Stefan BreitrückRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Breitrück

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Andreas B. Kilcher und Liliane Weissberg legen mit Nachträglich, grundlegend einen Herausgeberband vor, der sich der zentralen Bedeutung des Kommentars für das Denken und Schreiben der jüdischen Moderne widmet. Flankiert von einer Einleitung und einer Nachbemerkung teilt sich der Band in zwei Abschnitte mit den Titeln Am Rande des Textes und Am Rande des Lebens, wobei sich die überwiegende Mehrzahl der Beiträge im ersten Teil findet. Der ideengeschichtliche Skopus der Aufsätze umfasst philosophische, theologische, philologische und psychoanalytische Denker, die da im Einzelnen sowie in der Reihenfolge, in der sie im Band behandelt werden, wären: Moses Mendelssohn, Hermann Cohen, Gershom Scholem, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Walter Benjamin, Leo Strauss, Sigmund Freud, Emmanuel Levinas, Jacques Derrida, Max Horkheimer und Karl Kraus.

Die Pointe, die die Arbeiten in Nachträglich, grundlegend verbindet, liegt in der dialektischen Reperspektivierung des Verhältnisses zwischen Kommentiertem und Kommentar. Gemeinhin gilt der Kommentar als Paradebeispiel für einen Sekundärtext, der seinem respektiven Primärtext dient: Als Fuß- oder Endnote, als Hyperlink, gegebenenfalls auch als ganzer Begleitband ist es die Aufgabe eines Kommentars, einen gegebenen Text zu analysieren, zu interpretieren und zu kontextualisieren. Nachträglich, grundlegend interessiert sich nun umgekehrt für solche theoretischen Hinsichten, in denen der Kommentar Autorität gegenüber dem Primärtext beanspruchen kann, sodass am Ende eine reziprok einander konstituierende Beziehung zwischen Kommentiertem und Kommentar deutlich zutage tritt.

Die zentrale Rolle des Kommentars in der jüdischen Moderne ist dabei nicht ohne die frühzeitliche und mittelalterliche jüdische Religionsgeschichte und Thora-Exegese zu verstehen. Kilcher und Weissberg bemerken in der Einleitung, dass sich das jüdische Volk seinem Selbstverständnis nach nicht nur zur Überlieferung, sondern auch zu einem immer tieferen Verständnis der sakralen Schrift verpflichtet. Eine mehrere Jahrhunderte umfassende Rezeptionsgeschichte, die sich prominent in der rabbinischen Kommentarpraxis des Talmud niedergeschlagen hat. Eine Kommentarpraxis, die den Sinn der Thora kontinuierlich aktualisierte, um sie der Glaubensgemeinschaft zu gegebener Zeit, an gegebenem Ort verständlich zu machen.

Im Zuge der Aufklärung und vor dem Hintergrund der Säkularisierung gewinnt der Kommentar sodann eine neue Rolle. Er wird zum typischen Textmodus in den Wissenschaften, zum Ort kritischer Reflexion, in jedem Fall geht er auf Distanz zum Kommentierten. Es ist schwierig, in Anbetracht der Bedeutung der in Nachträglich, grundlegend adressierten Geistesgrößen, die allesamt ihren Platz im komparatistischen Kanon haben, sowie angesichts der ausnahmslos sehr hohen Qualität der Beiträge eine akzentuierende Auswahl zu treffen und zu begründen. Exemplarisch lässt sich die Emanzipationsgeschichte des Kommentars mit den Beiträgen von Daniel Weidner, Liliane Weissberg und Peter Fenves zu Walter Benjamin, Sigmund Freud und Jacques Derrida illustrieren.

Der frühe Benjamin versteht den Kommentar – hier ist er gemäß Weidner ganz Kind seiner Zeit und Ausbildung – noch hauptsächlich als editionsphilologische Textsorte, die sich ganz in den Dienst der Primärliteratur zu stellen hat. Doch betont Benjamin mit der Zeit immer stärker, dass es erst der Kommentar ist, der das Kommentierte der Vergänglichkeit entreißt, es historisch adelt und zum Klassiker erhebt. Hieraus schöpft der Kommentar sein Selbstvertrauen, auf dass er auch für ästhetische Urteile in Frage kommt. Schließlich wird die philologische Grundlagenarbeit des Kommentars bei Benjamin zum Zubringer der Kritik und somit Teil eines reflexiven Programms. Beim späten Benjamin – Weidner bezieht sich hier auf dessen Arbeiten zu Bertolt Brechts Gedichten – erhält der Kommentar schließlich eine projektive und strategische Wendung, die ihn gänzlich aus der Botmäßigkeit des Kommentierten entlässt. Angesichts der historischen Umstände, vor deren Hintergrund sich die Frage der Vergänglichkeit aufs Dringlichste stellt und in denen Kritik nicht mehr möglich ist, wird der Kommentar zum ästhetischen Refugium. Benjamin kommentiert Brecht, um die Bedingung der Möglichkeit für zukünftige Kritik zu schaffen. Der Kommentar wird zum Ort des Überlebens und potenziellen Fortschreibens.

Bei Sigmund Freud wird der Kommentar – folgt man Liliane Weissbergs Beitrag – geradezu zur Eigentlichkeit des Kommentierten. In Totem und Tabu perspektiviert Freud den sakralen Überbau religiöser Gemeinschaften bekanntlich als die Sublimierung eines unbewussten Schuldkomplexes aufgrund eines in archaischen Zeiten von der „Urhorde“ verübten Königsmordes. Dieser König wird nach und nach zum Opfer stilisiert und schließlich zum Kulturstifter erhoben. Mit Der Mann Moses und der Monotheismus wendet sich Freud sodann fallbeispielhaft dem – wenn man so möchte – psychischen Schicksal des jüdischen Volkes zu, das am Berg Sinai Mosesʼ Prophetie verschmähte, so im übertragenen Sinne den Vater tötete und Schuld auf sich lud. Die Thora ist bei Freud unter dem Strich nur ein zu analysierender Kommentar zu diesem Schuldkomplex und – auch in materieller Hinsicht – nur Surrogat für die von Moses im Zorn zerschlagenen ersten Gesetzestafeln. Dies – so erhellt Weissberg – ist die typische Konstellation der Freud’schen Psychoanalyse: Das (vom Patienten) Erzählte ist nur Kommentar zur eigentlichen Geschichte. In der Traumdeutung – so fährt Weissberg fort – dreht Freud die Schraube noch eine Windung weiter. Dort setzt sich nämlich die Analyse der Traumdarstellungen des Patienten, die als Kommentar zum Kommentar zu verstehen ist, an dieselbe theoretische Position wie das Unbewusste, das es bewusst zu machen gilt. Das Unbewusste ist nur durch den Kommentar zweiter Ordnung zu haben, sodass er an die Stelle des Eigentlichen tritt. Die methodische Anlage der Freud’schen Psychoanalyse ist an dieser Stelle bemerkens- und vor allem bedenkenswert zirkulär, was von Weissberg noch einmal klarer hätte betont werden können.

Der verlorengegangene Archetext ist schließlich auch der Punkt, von dem Peter Fenvesʼ Ausführungen zu Jacques Derridas Auseinandersetzung mit Edmond Jabèsʼ Le Livre des questions ausgehen. Wie bei Freud stellen sich auch bei Derrida die Thora und der Talmud als Kompensationsbemühungen dar, die sich am leeren Zentrum abarbeiten. Doch anders als bei Freud hält Derrida klipp und klar fest, dass diese Kompensation nicht gelingen kann, dass auch der Kommentar das Kommentierte nicht zu rekonstruieren vermag. Der Kommentar nun, der diesen Umstand reflektiert und ausstellt, der das Fehlen des Zentrums akzeptiert und hieraus seine Kraft schöpft, wird bei Fenves mit dem Terminus „Hyper-Kommentar“ belegt. Ein weiterer hochinteressanter Aspekt bei Derrida, der von Fenves minutiös herauspräpariert wird, ist die Schicksalsgemeinschaft von poetischem Text und philologischem Kommentar angesichts des leeren Zentrums. Wo die Dichtung nach Autonomie strebt, diese aber nicht erreichen kann, weil sich ihre Freiheit immer als durch das Fehlen des Zentrums ermöglichte erweist, da möchte sich der Kommentar an das Zentrum binden, das allerdings nicht wiederhergestellt werden kann. In eben dieser ermöglichenden Vergeblichkeit fallen Poesie und Kommentar zusammen.

Das Thema von Nachträglich, grundlegend – die Bedeutung des Kommentars für die jüdische Moderne – liest sich sehr spezifisch, sodass Kilchers und Weissbergs Band auf den ersten Blick nur für eine kleine Leserschaft mit klar abgestecktem Forschungsgegenstand von Interesse zu sein scheint. Doch wird der Kommentar in Nachträglich, grundlegend nicht eng als sekundärliterarische Textgattung, sondern sehr weit als allgemeine Denkfigur gefasst, was Kilchers und Weissbergs Band für die ganze Bandbreite der Komparatistik anschlussfähig macht. Der Befund, dass ein Kommentar dem Kommentierten nicht nur dient, sondern diesen auch rückwirkend mitkonstituiert, liest sich in abstracto gar nicht einmal spektakulär. Es ist vielmehr die konkrete Arbeit zu den genannten Exponenten der modernen Geistesgeschichte, es ist die spezifische Entfaltung und Exposition der Dialektik in deren Denken, kurzum: es ist die in Kilchers und Weissbergs Band zur Schau gestellte Expertise, die Nachträglich, grundlegend absolut lesens- und empfehlenswert macht.

Titelbild

Andreas B. Kilcher / Liliane Weissberg (Hg.): Nachträglich, grundlegend. Der Kommentar als Denkform der jüdischen Moderne von Hermann Cohen bis Jacques Derrida.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
288 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783835333697

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