Wenn düstere Wolken die Seele verdunkeln

Julia Cohens Fragment „Ich wurde nicht geboren“ verlangt dem Leser Geduld ab

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Verzweifelt, hoffnungslos und wütend erzählt die Lyrikerin J. in Julia Cohens Ich wurde nicht geboren davon, dass sie ihren schwer depressiven Freund nicht mehr erreichen kann, er ihr entgleitet und sich das Leben nehmen wollte – zum zweiten Mal. Das Buch besteht aus Dialogen in Therapiesitzungen, lyrischen Fragmenten voller Flehen, Suchen und Trauer, kurzen Essays, Gedankenfetzen und persönlichen Notizen.

Immer wieder stellt sich die Erzählerin Fragen: Ob ihr Freund N. noch letzte Worte hat? „Warum wolltest du keine Nachricht hinterlassen?“ „Gibt es Freude zwischen uns?“ „Zu Hause“ – was ist das noch und wo? Die Überschrift eines Gedichts lautet: „Bin ich aus etwas Größerem aussortiert?“ J. fühlt sich ausgesondert, mit der Aufgabe der Pflege des Depressiven aus dem Leben gefallen. N. verliert die Fähigkeit, positiv zu denken. Gesund sein, heißt in seiner Gedankenwelt, tot sein. Er versteckt Tabletten in Blumentöpfen, die er braucht, um dunkle Wolken aus dem Kopf zu vertreiben. „Hirnnebel“ ist die treffende Bezeichnung von J. sowohl für die Betäubung mit Tabletten als auch für die schwer greifbare Düsternis, die sich unvorhersehbar und immer wieder auf die Seele ihres Freundes legt.

Welche Herausforderungen das Leben in einer Partnerschaft mit einem an einer Depression mit somatischem Syndrom Erkrankten an die Liebe stellt, beschreibt Cohen intensiv. Schon der Einkauf von Lebensmitteln wird zu einer schweren Aufgabe. „Krankheit braucht eine bestimmte Art Geduld“, betont J. Und es ist eine große emotionale und körperliche Belastung, den Partner nicht alleine lassen zu können. Aus der fehlenden Kontaktpflege resultiert eine zunehmende Isolierung des Gesunden. Auch die Partnerin des Erkrankten fühlt sich zunehmend traurig, einsam und hoffnungslos. J. schreibt deswegen: „Manchmal möchte ich mein Derivat nicht verorten.“ Und: „Ich bin im Inneren einer Helix“. Das Bild der sich im Kreis bewegenden und sich mit scheinbarer Ziellosigkeit windenden Gedanken wird allerdings durchbrochen – wie viele andere Bilder, die in hoher Geschwindigkeit auf den Leser zuströmen. So bleibt im Leben mit einem Kranken nichts konstant, „ordentlich“ oder geplant. Mehrere metaphorische Bilder gehen unstimmige Verbindungen ein, die teils widersprüchlich sind. Es sind sprachliche Verletzungen, die denen entsprechen, welche sich die Partner in ihrer Beziehung zufügen, wenn er sich zurückzieht und sie in seinem Gesicht nichts mehr lesen kann, wenn die Geduld einmal nicht mehr ausreicht, wenn J.s Verständnis endet.

Diese Brüche machen Ich wurde nicht geboren schwer lesbar. Man braucht Geduld, um sich mit den Splittern zu beschäftigen. Doch die Anstrengung lohnt sich, denn es ist möglich, zu erkennen, welche Kraft aus dem Buch zu ziehen ist. J. sinniert über den Sinn des Lebens und die Oberflächlichkeit des normalen Alltags, der von Arbeit und Geld verdienen geprägt ist. Sie weiß, dass „es verrückt ist, / dass es Geld gibt.“ Bücher bezeichnet sie als Krankenhäuser und liest, so viel sie kann – ebenso N., der sich vor allem mit Paul Celan beschäftigt. Sie denkt über das Gelesene nach, während sie in eine Menschenmenge eintaucht. Sie denkt über die Grausamkeit der Depression nach und wie das „Gefühl, isoliert zu sein“, den Moment verstärkt. In der Isolation findet sich das Paar kurz wieder. Sie liegen gemeinsam in einer Nacht auf dem Dach eines Vans und genießen die Dunkelheit. Darauf folgen wieder Vorwürfe und Diskussionen. Von Trauer umfangen fragt J. – unter lyrischer Missachtung von Groß- und Kleinschreibung: „Ich verstelle der sonne die sicht? dann rüttelt / das gedicht sie frei.“ Sie schreibt sich den Schmerz von der Seele. Sie schreibt in Metaphernseligkeit ein Liebesgedicht, „verwirrt vor Angst“. Sie will in Sprache versinken wie in Wasser und schreibt: „Ich tanzte langsam mit der Sprache“. Dieser Tanz gipfelt in Traumbildern, Schatten an der Wand und mit Tränen durchsetzten undeutlichen Szenen. Ich wurde nicht geboren ist ein Fragment von poetischer Schönheit.

Titelbild

Julia Cohen: Ich wurde nicht geboren.
Übersetzt aus dem Amerikanischen Von Maria Hummitzsch.
Literaturverlag Droschl, Graz 2019.
123 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783990590270

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch