Alles ist miteinander verbunden

Thesen zur Konstruktion von Don DeLillos opus magnum "Unterwelt"

Von Peter KockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Kock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Don DeLillos Roman "Unterwelt" hat bei seinem Erscheinen in Deutschland letzten Herbst großes Aufsehen erregt und war einer der Haupttitel der Buchmesse. Von einem "Jahrhundertroman" war mitunter die Rede; DeLillo sei mit "Unterwelt" gelungen, "was Joyce zu Beginn des Jahrhunderts schaffte" (Süddeutsche Zeitung, 14.11.98). Mit Sicherheit aber könnte es einer der Romane der zweiten Jahrhunderthälfte sein oder, präziser, der amerikanische Roman der Epoche des Kalten Krieges. Die Frage, ob es vielleicht auch der postmoderne Roman ist, mag, wie all solche Kategorisierungsversuche, vorerst offen bleiben.

Tatsächlich gilt auch hier, daß ein Werk von solcher inhaltlicher Fülle, seiner Vielzahl von Diskursen, seinem weitgespannten Horizont bei aller erzählerischen Dichte zunächst ganz einzigartig wirkt und sich einer vorschnellen Rubrizierung entzieht. Einfacher ist es, "Unterwelt" als Hauptwerk seines Autors mit dem Werk der beiden amerikanischen Autoren zu vergleichen, die mit ihm stets zu den "Ober-Schamanen der Paranoiker-Schule der amerikanischen Literatur" (New York Review of Books) gezählt werden, nämlich mit Pynchon und dem (kürzlich verstorbenen) Gaddis. Während "Der Spiegel" in einem Artikel über "Unterwelt" und Pynchons letztes großes, noch nicht übersetztes "Mason & Dixon" den vorsichtigen Abschied vom Motiv der Paranoia konstatiert, um daraus gleich eine Tendenz zu einem "post-paranoiden Roman" zu folgern, scheinen mir die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Autoren eher in der Behandlung der Dialoge - und sie alle sind Meister der Dialogform - deutlich zu werden. Treibt Gaddis das (scheinbare) Durcheinanderreden einer Vielzahl von Stimmen als deren unsichtbarer Protokollant auf eine unüberbietbare Spitze, so könnte Pynchon (jedenfalls vor "Mason & Dixon") als Experte des Formen-Mischens gelten: auf hochrealistische Dialogpassagen folgt unvermutet der jähe Umschlag in Slapsticks, paradoxe Neben- und spielerische Abhandlungen. Daneben steht nun DeLillos Dialogtechnik, die gleichsam sehr viel ernster und nahe bei den Personen bleibt, "realistischer" erzählt und das Subkutane hinter dem Gesprochenen zum Klingen bringt.

Im folgenden soll es darum gehen, über den Handlungsverlauf und das Spezifische der Dialogbehandlung bei DeLillo hinaus die Konstruktion von "Unterwelt" in ihren motivischen und erzählerischen Verschränkungen aufzuzeigen.

Da ist zunächst

1. der lineare Ablauf des Erzählgeschehens, der nahezu umgedreht wird. Er ließe sich von der Chronologie her vereinfacht so darstellen:

Die Struktur des Romans ist jedoch nicht nur von diesem offensichtlichen, den Zeitverlauf auf den Kopf stellenden, mit dem Rücken zur Gegenwart hin ausgerichteten Blick (wie Benjamins berühmter Engel der Geschichte) geprägt. DeLillo vermittelt, zeitlich permanent zurückschreitend, die Genese von Handlungspartikeln der Gegenwart; laufend müssen die Hypothesen, die wir zu ihrem Ablauf gebildet haben, revidiert werden. Und es wird deutlich, daß mit dieser Methode der Umkehrung dem Determinismus, den der gewohnte lineare Zeitpfeil nach sich zieht, hier eine Absage erteilt werden soll: es hätte alles auch ganz anders kommen können. So bleibt Geschichte offen, wird der Leser in eine hochaktive Spannung versetzt, können dann die Konstruktionsprinzipien ihre Wirkung entfalten.

2. Die Last der Geschichte, die die Gegenwart determiniert, ist im Roman in erheblichem Maße über Bilder organisiert, die sich übereinanderschieben und gleichsam vertikal in die Tiefe reichen.

2.1 Da wäre im Prolog das von Edgar Hoover betrachtete und detailliert beschriebene Bruegel-Bild "Triumph des Todes".

2.2 In einer zweiten Schicht assoziiert Sister Edgar bei einem U-Bahn-Unglück in der Bronx, als flüchtende Passagiere aus dem Untergrund auftauchen (was uns an die Szenerie von 2.1 erinnert), die Schädelhaufen in einer unterirdischen römischen Kapuzinerkirche.

2.3 In einer dritten Schicht steigen in dem erfundenen Eisenstein-Film "Unterwelt" entkommene Gefangene ans Tageslicht. Diese Verunstalteten wiederum erinnern

2.4 an die grausam verstümmelten Atombombenopfer in Kasachstan, von denen Nick bei seinem Besuch erfährt. Das Auftauchen Maskierter bei der Schwarz-Weiß-Party Truman Capotes steht,

2.5 für das Auftauchen Oppositioneller aus dem Untergrund, die den an der Oberfläche Lebenden, nämlich den Vietnam-Profiteuren der High Society New Yorks, gleichsam den Totentanz vorspielen.

2.6 Auf das Bruegel-Bild antwortet mindestens noch ein weiteres Bild, "Kinderspiele".

Diese Einzelbilder und -szenerien sind verschiedenen Zeiten und Personen zugeordnet, sie werden vom Erzähler arrangiert und zu einer Komplexität zusammengefügt, die symbolische Bedeutung bekommt ("Last der Geschichte", "Todestriumph", "Dräuen der Unterwelt" etc.). Die Gliederung der Tiefenschichten, die hier bildlich erreicht wird, ähnelt der Arbeit des Gedächtnisses bei Marcel Proust oder Claude Simon: immer reichhaltiger wird die Szenerie der Binnen-Welten entfaltet, eine Szenerie, die durchaus Alptraumcharakter annehmen, aber auch zum glänzenden Wiederaufleben der Geschichte des Subjekts führen kann. Deren nostalgischer Glanz allerdings fehlt dem mehrfach traumatisierten Nick, der Hauptperson, deren Lage (vaterloses Immigrantenkind in der South Bronx der 40er und 50er Jahre) sich nicht mit dem Schicksal eines verzärtelten Kindes aus der französischen Bourgeoisie der Jahrhundertwende vergleichen läßt.

Zu dieser vertikalen Anreicherung von Tiefenschichten gesellt sich, gleichsam horizontal, der Weg von Symbol-Clustern oder, wenn man lieber will, Leitmotiven, und von Gegensatzpaaren quer durch den Erzählstoff hindurch.

3. Die Symbole fungieren als Groß-Metaphern:

3.1 der Ball, der Baseball: die "Quest" nach ihm durchzieht das ganze Buch

3.2 die Bombe, mit dem Ball wiederum über das Bild des Plutonium-Kerns verknüpft: steht für das Atomzeitalter, den Kalten Krieg

3.3 der Müll als Unterseite oder fast schon Hauptseite der kapitalistischen Produktion

3.4 der Schuß, die Explosion: als "shot heard round the world" 3.1 und 3.2 verklammernd; darüber hinaus auch als individueller Tötungsakt in die Handlungsebene hinein reichend (Nicks Zufallsmord, der Highway-Killer, der Lustmord an dem Mädchen), als gesellschaftlich verantwortetes Töten (die Bomberpiloten in der B-52 über Vietnam), die A-Bomben-Versuche der 50er Jahre, das Sprengen des Mülls per Atombombe usw.

Weitere Objekte, die als Metaphern fungieren, hängen eng mit diesen drei, vier Großmetaphern zusammen:

3.5 Beispielsweise die Handschuhe. Sie stehen für das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse im perfekten Mittelklassehaushalt der 50er Jahre (Familie Dening: Mutter putzt, Vater wachst das Auto; Söhnchen Eric wichst mit Handschuh), für den paranoiden Schutzzwang der beiden Edgars gegen Bakterien. Damit vom Bildgehalt her eng verbunden

3.6 die Kondome. Lenny Bruce zieht sich eins über die Zunge; am D-Day kommen die Kondome zum Einsatz: als Schutz der Gewehrmündungen vor eindringendem Wasser; ferner besuchen Nick und Brian eine Kondomerie.

Kondome stehen für das phallische Verhalten, für das Prinzip des Männlichen; dadurch sind sie mit dem Bomben-bzw. Raketensymbol korreliert.

Alle zentralen Metaphern bilden ein dichtes System von Verweisen: So wie die Bombe den Baseball enthält (den Plutoniumkern), klingt schon in ihrer Sprachgestalt das "om" des buddhistischen Nichts an. In der metaphorischen Dimension, bis in die Assonanzen des Sprachlichen hinein, beginnen die Dinge zu schwingen. "Alles ist miteinander verbunden", dieser Satz thematisiert bereits das Schlußkapitel. Während in der Moderne ein sinnstiftender Großzusammenhang längst zerfallen ist, fügen sich die fragmentarisierten Einzelteile zu einem Mosaik.

Andererseits ergeben sie kein neues Gesamtbild: Im Lacanschen Sinne gleiten die Metaphern und Signifikanten in Permanenz und gehen nicht in einem letzten Signifikat auf. Zur Signifikantenfolge gehört ihre Unabschließbarkeit. Deshalb gehen die Einzelbilder auch nicht 1:1 ineinander auf, sondern verschieben sich unaufhörlich gegeneinander. Das abschließende Wort, der definitive Sinn ist prinzipiell nicht zu finden.

3.7 Das zeigt meines Erachtens deutlich die Figur Marvin Lundys, des Baseballmaniacs, der am ehesten zu der paranoiden Suche nach Verschwörungen neigt; es zeigt sich ferner in der Interpretation von Gorbatschows Fleck auf der Kopfhaut oder in der Entschlüsselung der Grönlandkarte, die angeblich voller geheimer Botschaften steckt. Marvin gelingt es am Ende trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht, die Spur des Baseballs lückenlos zu rekonstruieren; diesen kleinen Triumph läßt DeLillo dem Leser, der allerdings nicht über alle Zwischenschritte Marvins informiert wird.

3.8 DeLillo demonstriert seinem Leser, daß Symbolketten nicht aufgehen müssen. Gemeint ist das Spiel mit der Ziffer 13. Umkreisten die beiden Listen Marvins mit ihren 12 und 14 Punkten die magische Ziffer, so taucht sie über den Text verstreut neun Mal auf, bis schließlich im Schlußteil Nick eine Bilanz zieht, wie häufig er die 13 gesehen hat: er kommt ebenfalls auf neun Mal. Witzig ist, daß mal Nick, mal Miles, mal der Erzähler selbst diese Suche spekulativ betreiben.

4. Die Gegensatzpaare wiederum organisieren die Handlung im Detail und sind von dem personellen Tableau nicht zu trennen:

4.1 Der Gegensatz Mann-Frau. Natürlich, sozusagen der primäre und selbstverständliche Gegensatz, aus dem eine ganze Reihe von Varianten ableitbar ist:

4.1.1 Nick/Klara

4.1.2 Nick/Marian

4.1.3 Nick/Amy

4.1.4 Matt/Janet

4.1.5 Bronzini/Klara

4.1.6 Nick/Klara usw.

In einem zotigen Dialog der Bomberpiloten über Vietnam heißt es zu dem Aufschub, den der militärische Einsatz vor dem Bordellbesuch erzwingt, "First we bomb them." "Then we fuck them." Die deutsche Fassung unterschlägt mit: "Erst wird gebombt." "Dann wird gebumst" das them, das sich ja auf durchaus unterschiedliche Feindgruppen bezieht: die Vietnamesen, und die Frauen (die aber Vietnamesinnen sind).

4.2 Der Gegensatz Vater/Sohn

4.2.1 Jimmy Costanza /Nick Shay (Variante: Manx Martin/Cotter)

4.2.2 Wainwright Sr. und Jr.

4.2.3 Nick/sein Sohn, seine Tochter

4.3 Der Gegensatz der Brüder (Nick/Matt)

Über diese an Personen gebundenen Paare hinaus sind folgende Gegensatzpaare strukturbildend:

4.4 schwarz/weiß

4.4.1 zunächst als "wir" und "die" in der atomaren Bipolarität: USA versus UdSSR

4.4.2 als Rassengegensatz: ein weiterer Gegensatz, der das ganze Werk durchzieht

4.4.3 und innerhalb einzelner Szenen: Schwarz-weiß-Party in New York

4.4.4 ein Werbefilm mit einem schwarzen und einem weißen Auto

4.4.5 der Habit von Sister Edgar

4.4.6 als Gegensatz von Schrift und Papier. Bronzini erwähnt das beiläufig, in seinem Unterrichtsvortrag über (natürlich) Atomphysik.

Klara verkörpert den Gegenentwurf; sie entdeckt die Farbe (wieder): "Ich werde besoffen davon. Ich werde geil davon. Ich sehe Farbe im Schlaf. Ich esse und trinke sie. Ich bin eine Frau, die vor lauter Farbe verrückt wird." Sie artikuliert das Bedürfnis, ein Foto von der Schwarz-weiß-Party mit grellen bunten Farben zu übermalen.

4.5 Die Opposition von Metropole/Stadtlandschaft (New York) und Wüstenlandschaft.

5. Zum Handlungspotential des Personals (schematisch vereinfacht als Struktur- und Determinanten-Gerüst begriffen) gehört, daß es sich allenfalls aus Einzelnen heraus entfaltet bzw. in Paarbeziehungen neu entsteht. Gruppenbildungen gibt es, aber sie treten entweder als Banden wie in der Bronx auf (Nicks Jugendzeit, Ishmaels Trupp) oder als Kollegen, die aber als Teil eines Müll-Multis fungieren, als Team in atomaren Versuchsprojekten oder gar als Crew einer B-52. Beide Varianten scheinen dem Sartreschen Diktum der "Serialisierung" zu unterliegen. Das heißt, sie bilden Reihen aus, aber sozusagen "falsche" Reihen, keine, die zu vernünftiger, kollektiver Aktion imstande wären. Solche Gruppen im positiven Sinne sind selten auszumachen, etwa in der von Klara Sachs organisierten Maltruppe in der Wüste oder in der engagierten Gemeindearbeit des kirchlichen Ordens in der Bronx. Auch politische Aktionen wie die der Bürgerrechts-Bewegung der 60er Jahre werden mit einbezogen.

6. Das hauptsächliche Verfahren, mit dem der Erzähler dieses Bündel von Motiven, Symbolen etc. auf sein Material anwendet - und es wird auf ein Bild der ganzen Kalten-Kriegs-Periode abgezielt - , ist das der Montage. Die äußerste Präzision in der Beschreibung des gesellschaftlichen Klimas dieser Epoche ist an zahllosen Beispielen zu belegen; der Zusammenhang all dieser divergierenden Geschichten und Episoden wird aber durch ihre inhaltliche Verfugung qua Montage, durch erzähltechnisch konsistente Detailarbeit erzielt. Bei genauerem, wiederholten Lesen stellt sich dadurch, wenn die Konstruktion offener zutage tritt, der bei DeLillo schon früher zu beobachtende Effekt einer scheinbaren Überdeterminierung ein. Dieser wird jedoch durch die scheinbare Unschärfe der Sprache in der Waage gehalten.

Das Handeln seiner Personen ist zu weiten Teilen Sprach-Handeln. Die Unschärferelation, die in jeder Sprachverwendung liegt, wird von DeLillo bewußt eingesetzt, um ein Flirren des Lebendigen in den determinierenden Strukturen zu erzeugen. Auch das Pseudo-Philosophische, in das die DeLilloschen Figuren in ihren Mono- oder Dialogen manchmal, gewissermaßen tentativ, abschwirren, wird durch die fluide Form der Erzählerrede wieder ausgeglichen, wenn der Erzähler etwa mit "nein, aber" und dergleichen neu ansetzt und im Gestus alltäglicher Rede den Sprachfluß weitertreibt.

6.1 Zahlreich sind die verwendeten Sprachformen. Auch wenn Nicht-Amerikanern die Konnotationen mancher verwendeter Slangs und Jargons entgeht, so lassen sich zahlreiche Dialogszenen daraufhin analysieren, inwieweit das Gerede sich über manchem Verschwiegenen erhebt (z.B. Nicks Dialoge mit Marian, Matts mit Janet). Aber dies, die Sprache in Aktion gewissermaßen, geht nicht nur darin auf, als Mittel soziologischer oder psychologischer Charakterisierung zu dienen. Sie wird auch als beschädigte gezeigt: das Stottern von Matts Kollege Eric, das auffällige Suchen nach dem passenden Wort beim Alzheimer-kranken Marvin.

6.2 Die Sprache erscheint als fremde zunächst begründet durch die Situation des italienischen Einwanderers, deren Kind Nick ist, das bereits amerikanisch spricht, aber noch zahlreiche italienische Wörter mitbekommt und über deren Gestalt nachdenkt. Nicks Kindheitserinnerungen gehen bis zum Wort "aiuto" zurück oder kreisen um das magische "Tizzoon"; Bronzini denkt über das Kinderwort "Salugi" nach; kein Zufall, daß "Sprachgefühl" eines der ganz wenigen deutschen Worte ist (neben "Weltanschauung" und "Kinderspielen"), die im Original verwendet werden.

6.3 Nicks Werdegang läßt sich unter diesem Aspekt geradezu als als Sprach-Bildungsroman lesen. Doppelt traumatisiert durch den rätselhaften Weggang des Vaters, durch den Mord, den er unabsichtlich begeht, lernt er von Pater Paulus in der von Jesuiten geleiteten Besserungsanstalt zunächst, wie die Dinge heißen; es erschließt sich ihm, welch ein Kosmos hier für ihn aufgeht, und das geradezu zwanghafte Benennen der Dinge wird für ihn nicht nur zum Mittel, sich schrittweise wieder neu in der Welt zu bewegen, "die Wörter sagen, als hinge mein Leben davon ab", sondern er peinigt seine Kinder später geradezu mit diesem Tick. Er wird sogar fähig, andere Sprachen anzunehmen, ja zu parodieren, indem er beispielsweise den Mafiosi mimt - unter bezeichnendem Rückgriff auf das Traumatisierte.

7. Dennoch geht das Handeln der Personen nicht in Sprach-Handeln auf. Mir scheint es bezeichnend, daß DeLillo zahlreiche Personen in Bewegung zeigt.

7.1 "Für Bronzini war Gehen eine Kunst", hebt Teil 6 an. Er ist habitueller Spaziergänger und macht zahlreiche seiner gelegenheits-philosophischen Beobachtungen in der Bronx wie weiland Bloom im heimischen Dublin.

7.2 Nick wiederum wird als Jogger geschildert, als moderner Peripatetiker. Das Laufen schafft Abstand vom Alltag, erlaubt, die Gedanken frei schweifen zu lassen. Der kurze Abschnitt, der Janet als Joggerin vorstellt, scheint mir im Gesamtkonstrukt des Buches geradezu die Aufgabe zu haben, die Wichtigkeit dieses Motivs zu betonen; und die Zwanghaftigkeit, in die es schnell umschlägt.

7.3 In noch rascherer, ja fluchtartiger Bewegung wird das obdachlose Mädchen Esmeralda gezeigt.

7.4 Aus dem Laufen ergibt sich mitunter der Sprung: in die befreiende Tat. Rosie, die Schwester Cotters, läuft bei einer Demonstration auf knüppelnde Cops zu - in diesem Moment erstarrt das Bild, wird quasi eingefroren. Ihr Bruder hingegen wird im erfolgreichen Sprung über die Absperrung ins Stadion gezeigt.

Laufen/Springen steht hier für eine Ausweitung der Handlungsräume; metaphorisch insofern, als zu der eben skizzierten Reihe eine Parallele in der psychologischen Disposition der Figuren besteht: Von dem Melancholiker Bronzini über den resignierten Nick, der sich nach der Freiheit seiner Jugend sehnt, bis zu dem ins Offene, möglicherweise Befreiende abzielende Handeln der letztgenannten Personen.

8. Damit eng verbunden ist eine weitere Handlungs-Dimension: die des Spielens als Probe-Handeln. Das kann vor allem bei Kindern, aber auch bei Erwachsenen, beobachtet werden.

8.1 Bronzini beobachtet beispielsweise ein kleines Mädchen in einer Straße beim Spielen: "Dann stellte sie sich in die Mitte und sprang. Keine Geschichte, keine Zukunft. Er beobachtete einen Jungen [...]. Die Fülle eines Augenblicks in der Spielstraße." In Abwandlung des berühmten Blochschen Diktums vom "Dunkel des gelebten Augenblicks" sieht Bronzini im Spielen pointiert die Helle dieses Augenblicks, die Lebensfülle, pure Gegenwart.

8.2 Auch das Gegenbild wird entworfen: im Spiel der grauenhaft verunstalteten Atomopfer, der kahlköpfigen und behinderten Kinder in Kasachstan schlägt das Spiel in sinnlose Drillübungen um: "Die Kinder spielen Folgt-dem-Anführer. Ein Junge fällt um, steht auf. Sie alle fallen um, stehen auf."

8.3 Dazwischen eine Fülle von Spielszenen verstreut über das ganze Buch. Baseball, natürlich. Später Billard und alle möglichen Kartenspiele. Und vor allem das Schachspiel Matts/Bronzinis, das noch eine weitere Variante des Schwarz-weiß-Gegensatzes darstellt. Und die Erwähnung des Bruegel-Bildes "Kinderspielen", in dem Pater Paulus eine Fülle von Spielen wiedererkennt, die wir heute noch spielen - das aber auch als Bild den Gegenpunkt zum apokalyptischen Todesbild enthüllt. Auch dieses Bild erscheint nicht als bloße Gegenutopie, sondern enthält das Grauen bereits in sich. Klara kommentiert: "Ich finde die Kinder fett, zurückgeblieben, ein bißchen finster. Wie eine Drohung, ein Irrsinn. Kinderspiele. Sie sehen aus wie Zwerge, die Gräßliches tun."

9. Man sieht also, daß kein Bild, kein Motiv ohne sein negatives Zerrbild auftaucht. Es gibt auch kein Symbol für den befreienden Ausgriff wie in Peter Weiss' Schlußbild vom Griff nach der Löwenpranke. Dazu ist DeLillo viel zu nüchtern und sein Blick auf den Geschichtsverlauf viel zu skeptisch. Es ist faszinierend zu sehen, wie er in dem furiosen Schlußkapitel, das alle Motive und Widersprüche noch einmal versammelt, den Ausgang sucht: im Rückgriff auf die katholische Himmelfahrt einerseits und im Vorgriff auf das Nirgendwo des Cyberspace andererseits.

Die Edelsteine rollen aus den Augen Sister Edgars, und sie sieht Gott, nachdem sie das transzendentale Erlebnis der wiederauferstandenen Esmeralda hatte (wenn auch nur als Lichtphänomen auf einem Werbeplakat) - eine Szene, in der sogleich der Massenwahn aufflackert. Im Netz wiederum fallen alle Widersprüche zusammen, (Sister) Edgar wird zu Edgar (Hoover) usw.. Diese Auflösung der Widersprüche ist eingebettet in die Bilder der Wasserstoffbomben-Explosionen auf einer Website, die einen allerdings makabren Schlußpunkt setzen.

Mit dem Umschlag der Handlung in das Flimmern der Pixel auf dem Bildschirm, in die grenzenlose Weite des elektronischen Netzes katapultiert der Autor den Leser aus dem Buch heraus, nachdem er noch einmal gezeigt hat, aus welchen Elementen die ganze Konstruktion bestanden hat und worin sie sich wieder auflöst: in Sprache.

10. Die Suche nach dem einen, dem richtigen Wort, in dem sich die Sinn-Suche zusammenfassen ließe, nenne man das nun Gott oder Wie-auch-immer; sie hat die Handlung weit über alle Sprachperformanz hinaus durchzogen.

Im Dialog mit Donna, der Swingerin, berichtet Nick von der Faszination, die das Buch eines Mystikers, "Die Wolke der Unwissenheit", früher auf ihn ausübte: "Diese Suche nach dem einen Wort, der einen Silbe, ließ mich nicht mehr los. Das war romantisch. Das Mysterium Gottes war romantisch."

Die folgende Dialogpassage wird übrigens in der Übersetzung meines Erachtens unzulässig verzerrt, als Donna ihm sagt: "Love would be a word. But not for you." Frank Heibert macht daraus allzukühn: "Herz wäre ein Wort. Aber nicht für dich."

Während Nick hier das aus seiner Kindheit heraufscheinende Wort Aiuto setzt, den Seufzer seines Vaters angesichts der Missetaten seiner Söhne, und das ebenfalls Fremdsprachliche Todo y nada, in dem Alles & Nichts zusammenfallen, taucht aus den Tiefen des Bildschirms zum Schluß das Wort "Frieden" auf.

"Frieden" oder "Liebe", das ist letzten Endes gleichgültig. Es versucht ein letztes Mal, einen endgültigen Signifikaten in das Gestöbere der Zeichen, Pixel und Signifikanten zu setzen. Mit dieser Setzung, deren beschwörende Kraft feierlich und ein bißchen pathetisch ist, wird der Leser zum nächsten Glied in der Kette.

Titelbild

Don DeLillo: Unterwelt. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998.
966 Seiten, 27,60 EUR.
ISBN-10: 3462027360

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