Auch das Untergrundmilieu bestimmt die Lage

Martin Mulsows Nachfolgeband seiner philosophie- und ideengeschichtlichen Analyse der (radikalen) Frühaufklärung ist da

Von Jörn MünknerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörn Münkner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Spannung haben Ideenhistoriker, Aufklärungsforscher und Ketzerschrifttumsenthusiasten auf die Fortsetzung der bereits 2002 erschienenen Münchener Habilitationsschrift Moderne aus dem Untergrund. Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680–1720 von Martin Mulsow gewartet. Der Autor hatte sie seinerzeit angekündigt, weil er „etliche weitere Kapitel in Arbeit hatte.“ Es vergingen dann mehrere Jahre, in denen zwar nicht dieser Band erschien, dafür andere Bücher und Aufsätze, in denen Mulsow ausgewählte Aspekte dieser Studien verarbeitete. Dennoch blieb genügend Material übrig, das für die Fortsetzung ausreichte. 2018 hat der Wallstein Verlag einen Doppelband im Schuber herausgebracht, dessen erster Teil die erweiterte Neuausgabe der Habilitationsschrift und der zweite Teil den erwarteten Nachfolgeband umfasst. Als Gesamttitel wurde der ursprüngliche Untertitel gewählt, während Band 1 mit Moderne aus dem Untergrund und Band 2 mit Clandestine Vernunft überschrieben ist.

Die Zielsetzung des neuen Werks entspricht dem Anliegen der Untersuchung von 2002, nämlich „in detektivischer Weise […] durch das Hin- und Herstreifen durch die Disziplinen, Textsorten und Regionen […] ein dichtes, bisher auf diese Weise nie sichtbar gewordenes Bild der europäisch verflochtenen deutschen Frühaufklärung“ zu zeichnen. Dazu werden aus den Quellen „die Entstehung und Verbreitung eines großen Teils der radikalen Schriften zwischen 1680 und 1720 rekonstruiert“, weil sie ein wichtiger Bestandteil der Frühaufklärung sind. Ihre Existenz stellt eine Vorstellung von der Frühaufklärung als Reformbewegung in Frage, „die auf der Basis eines säkularen Naturrechts, einer antimetaphysischen Erkenntnistheorie und einer psychologisch gestützten Gesellschaftsethik sich von traditionellen Bindungen befreit hat, ohne in antichristliche und extremistische Positionen zu verfallen.“ Die radikalen Schriften problematisieren darüber hinaus die ebenfalls breit akzeptierte Vorstellung von der „dominanten ‚moderaten‘ Aufklärung“. Zur Beantwortung werden auch „englische, französische, italienische oder sonstige Quelldebatten“ herangezogen, wo nötig und aufschlussreich, wird „auf die antike oder die islamische Welt“ zurückgegriffen, um die Problematik zu durchdringen.

Gelingt ein derart umfassendes Mosaik, in dem die personellen wie thematischen Verflechtungen der radikalen Frühaufklärung, ihre diskursiven Prozesse und zugleich die Bedingungen ihrer Möglichkeit deutlich werden? Ja, denn Mulsows ‚Ausgrabungen‘ (nicht nur Schürfungen!), seine Entdeckungen rarer Texte von vergessenen oder nie bekannt gewordenen Verfassern, seine auf ein immenses einschlägiges Wissen rekurrierenden, konventionell-regelhaften aber auch den Möglichkeitssinn ausreizenden Interpretationen, die kombinationsfreudigen wie unverzagten Entschlüsselungen von Abkürzungen, Autorennamen und anderen kryptischen Zeichenfolgen sind beeindruckend. Hinzu kommt der in weiten Teilen zu einem Geschichten-Teppich geflochtene Text, der nach dem Muster „wer, wann, wer noch, mit wem, warum und wie, warum so und nicht anders“ erzählt und einen Sog entwickelt. Sicherlich gibt es Stellen, an denen die Ausführungen fast schwindlig machen, etwa wenn Mulsow über Akteure, Denkbewegungen, Diskussionsabläufe, Emotionen und Mikroereignisse so intim zu berichten weiß, als hätte er sie persönlich kennengelernt oder durchlebt. Dabei mangelt es oft schlicht an eindeutigen Zeugnissen. Aber die Strategie, sich den vielfach im Verborgenen agierenden weil in die Heimlichkeit gezwungenen Denkern und Debatten hypothetisch durch Wahrscheinlichkeiten und plausible Vermutungen anzunähern, hat ihre Berechtigung und geht auf.

Den Auftakt in Band 1 bildet die 45-seitige Einleitung, in der das methodische und terminologische Rüstzeug des Habilitationsgeschäfts untergebracht ist. „Wenn man der Vielfältigkeit und komplexen Verfassung der deutschen Frühaufklärung Rechnung tragen will“, so der Autor, solle man das „eher in Einzelstudien denn in einer Gesamtdarstellung“ tun. So ließen sich vorschnelle Verallgemeinerungen und die verlockenden, aber einseitigen „grands récits“ vermeiden. Anstatt mit einer Großtheorie wäre mit einer „Reihe von Theorien mittlerer Reichweite“ die „verwirrende Vielzahl von Einzelbefunden“ besser in den Griff zu bekommen; solche ‚kleinen Theorien‘ könnten den Unterschieden des Milieus, der Quellen und der Themen besser Rechnung tragen. Für sein individuelles „Programm der Analyse von Äußerungsformen, nichtintendierten Wirkungen und synergetischen Effekten“ findet Mulsow den Deskriptor der „philosophischen Mikrohistorie“. Der meint im Klartext: Identifizierung und Personalisierung radikaler Schriften, sie in ihrem Entstehungsprozess rekonstruieren, dann das Netzwerk erforschen, in dem sich der jeweilige Autor bewegte; dabei beachten, dass die Analyse nicht auf der Ebene einer reinen Ereignisgeschichte verharrt. Man kann dieses Vorgehen auch als ‚ideengeschichtliche Archäologie‘ oder vielleicht − nicht so schön binominal – als ‚dichte Beschreibung historischer Ideologiekonflikte‘ bezeichnen.

Es folgen sieben Großkapitel, sieben weitere liefert Band 2, die sich als Fallstudien qualifizieren. Das Augenmerk richtet sich auf die deistische Funktionalisierung jüdischer antichristlicher Clandestina, die Einflüsse des Sozinianismus, das Konzept der konservativen Aufklärung bis zum theologischen Skeptizismus, zudem auf die Kultur eines eklektischen Denkens, auf das Verhältnis von Biblizismus, Materialismus und einem neuen Konzept von Naturwissenschaft, ferner auf das Vermitteln zwischen radikaler und konservativer Aufklärung sowie die Rezeption Jakob Böhmes, den Arianismus sowie die Rolle der Kabbala. Nicht die Großdenker Baruch de Spinoza, Gottfried Wilhelm Leibniz, John Locke, Thomas Hobbes, Pierre Bayle und Christian Thomasius stehen im Mittelpunkt, auch wenn ihre Namen wiederholt fallen. Das Interesse gilt Freigeistern, die mehr und weniger exponiert und selbstbewusst in der Grauzone zwischen Heterodoxie und (akademischer, theologischer) Konformität dachten und argumentierten; ferner auf Personen, die ohne eigenes Wollen, unbewusst und unwissentlich in diese Zone gerieten, aber ebenfalls radikalisierende Effekte auslösten, kurzum auf Namen, die alle weniger oder überhaupt nicht bekannt sind.

Zu ihnen zählen die Thomasius-Schüler Friedrich Wilhelm Bierling (1676–1728), Peter Friedrich Arpe (1682–1740), Johann Friedrich Kayser (1685–1751) und vor allem Theodor Ludwig Lau (1670−1740), der den entschiedensten Schritt zur Freidenkerei machte und dafür einen hohen Preis bezahlte; des Weiteren der sich radikalisierende Theologe Johann Georg Wachter (1673–1757), der als Materialist und Naturwissenschaftler die Welt konzipierende und mit den radikalen Ideen der Frühaufklärung in Berührung gekommene Mediziner Urban Gottfried Bucher (1679–1722) und der an der Verbreitung des Sozinianismus beteiligte Prediger und Theologe Samuel Crell (1660–1747). Es begegnen aber eben auch Figuren wie der Hamburger Pastor Johann Friedrich Mayer (1650–1712), der trotz seiner Orthodoxie nolens volens die Entstehung von Radikalität beförderte oder der Helmstedter Historiker und Orientalist Hermann von der Hardt (1660–1746), der zwar heterodoxe Bibelexegesen unternahm, aber wohl ebenso wenig wie der zuvor genannte Mayer als Impulsgeber für eine radikalisierte theologische Auffassung wirken wollte, dessen Ideen aber durch unwissentlich unter seinem Namen oder von Studenten und Adepten veröffentliche Schriften Verbreitung fanden und als Ferment für eine Radikalisierung dienten.

Das Werk rückt die bislang unterschätzte Rolle von Ironie, Spott und mehrdeutiger Rede ins rechte Licht, indem es deutlich macht, wie diese drei Modi kluger Distanzierung und Verschleierung dafür sorgen, dass ein ambivalenter gelehrter Diskurs in Sprachspielen ausgetragen wird, mithin auch ein Äußern radikaler Position gleichsam im abgesicherten Modus stattfinden konnte. Ein wunderbares Beispiel stellt das Gerangel um die berühmt-berüchtigte Phantomschrift von Moses, Jesus und Mohammed als den (angeblichen) drei großen Betrügern (De tribus impostoribus, 1688) dar. Der Wunsch des schon erwähnten atheistenschnüffelnden Johann Friedrich Mayer, in den Besitz des legendären Buches zu gelangen, führte verwicklungsreich dazu, dass der zwischen Orthodoxie und Hallenser Frühaufklärung stehende Juraabsolvent Johann Joachim Müller (1661–1733), Enkel des ebenfalls in Hamburg wirkenden Pastors Johannes Müller (1598–1672), im Koreferat zu einer von Mayer geleiteten Disputation vorgeblich aus erster Hand aus dem Objekt der Begierde zitierte.

Der De tribus-Titel wird Teil eines karnevalesken Spottaktes, der allerdings alles andere als unernste Blödelei meint. Mit Mayer als Repräsentant einer Hamburger Orthodoxie, die mit Argusaugen jede Regung religiöser Freigeisterei, Besinnung und Neuerung überwacht, birgt sowohl die bloße Verballhornung als auch seriöse Affirmation des Buches eine Gefahr. Der junge Müller musste eine Gratwanderung vollführen, um sich hinreichend zu schützen, als er zum Zweck der von ihm erbetenen Disputationsprovokation die Rolle eines Sprachrohrs für die häretischen, extrem provokativen Positionen in besagtem Buch übernahm oder sich später beim heimlichen Verfassen der heiß begehrten Ketzerschrift so intensiv in die Denk- und Redeweise von jüdischen Autoren versetzte, dass die Schrift lange als authentisch galt. Diese Anstrengung identifiziert Mulsow als Akt der Aneignung eines bedeutsamen Radikalimpulses, der sich im Zusammenspiel mit ähnlich gestimmten Impulsen multiplizieren und verfestigen konnte. Bei der Bestimmung der Genese und der Möglichkeiten verfemter, k/clandestiner Gedanken – übrigens lateinisch ‚clandestinus‘, als Fremdwort im Deutschen ‚klandestin‘ für geheim, heimlich, verborgen; ‚clandestin‘ aber auch als Hinweis auf die französische Forschungsinitiative zur „littérature clandestine“ – ist ferner zu beachten, dass die Intellektuellen, die ihr Denken nicht von radikalen Positionen fernhalten konnten oder wollten, es verstanden, sich in Sublimierungen und Anspielungen zu äußern und so die eigene unbotmäßige Position zu verschweigen. Mulsow betont nachdrücklich, dass sich fast nie eine direkte Kausallinie von einer radikalen Idee zur Radikalisierung eines Autors ziehen lässt. Nur selten, wenn überhaupt wird die Lektüre von ‚problematischen‘ Größen wie Spinoza, Hobbes, Bayle oder John Toland unmittelbar eine entsprechende Gesinnung entzündet haben. Es ist stattdessen von einem vielschichtigen Prozess extremistischer Positions- und Meinungsbildung mit unterschiedlichen Faktoren auszugehen. So konnten die Übernahme der Opponentenrolle bei einer akademischen Disputation und die Notwendigkeit, des Anlasses wegen mit provokanten Thesen aufzuwarten und zu kontern, die nötige „Situationshilfe“ für eine entsprechende Denkveränderung und Aneignung sein. Impulse an vernünftigen, aber klandestinen und radikalen Ideen „waren fast immer prekär, entbehrten der Stabilität, wie sie Institutionalisierungen bieten; waren fragil, leicht zu unterdrücken und widerrufbar.“ Sie haben auf komplizierten Wegen aber auf die größeren Debatten der Aufklärung gewirkt. Das, was sich als der radikale Rand der deutschen Frühaufklärung identifizieren lässt, konstituiert sich nicht als Gruppe mit einem festen Zugehörigkeitsgefühl, sondern als „schwaches Netz von nur partiellen personellen Verflechtungen“, das „eher aus Wahrnehmungen“ besteht.

Das Hauptargument des Werks kann zusammengefasst lauten: „Untergrund und Oberfläche bedingen einander; Radikale sind nicht ohne den Mainstream zu begreifen, der Mainstream nicht ohne seine radikalen Ausläufer.“ Der Doppelband korrigiert die zum Gemeinplatz gewordene Vorstellung von der Aufklärung als heroischer Epoche. Nicht, dass er ihr die singuläre Bedeutung abspricht, aber fortan hängt ihr mit dickem Bindestrich eine Vor- und Mitlaufgeschichte an, die es nicht erlaubt, sie länger als kohärentes Großereignis zu begreifen. Kritische Einwände gibt es nicht wirklich, nur zwei kleine produktive Irritationen. Die gerade einmal 5 Seiten umfassende Zusammenfassung für immerhin 900 Seiten detailgesättigten und thesenstarken Fließtext erscheint auf den ersten Blick unverhältnismäßig kurz, erweist sich aber als Radikalität in actio: Denn warum die in Ausführlichkeit entfalteten Einzelstudien wiederholen oder mit viel Anstrengung anders formulieren? Mulsow destilliert dafür das Präsentierte in 10 Thesen, versigelt es nicht, sondern bietet es offensiv als Stoff für die Diskussion an. Und dann wäre noch ein Wort zur Gestaltung zu sagen. Angesichts des Werk- und Quellenumfangs und der schlüssigen Hauptthese vom klandestinen Einfluss der radikalen Frühaufklärer verwundert die reduzierte Aufmachung etwas. Warum wurde für beide Bände dasselbe Bildmotiv gewählt? Thomas Wycks Darstellung eines Gelehrten im getäfelten und vollgestellten Studierzimmer (zwischen 1650 und 1677 entstanden) fängt fraglos den Blick. Dem anderen Band hätte ein anderes Bild noch besser getan. Es gibt zahlreiche einschlägige Darstellungen, die gemeinfrei sind, falls es um das Umgehen der urheberrechtlichen Schutzfrist ging. Es mag trivial erscheinen, aber die Verwendung von zwei unterschiedlichen Bildern hätte für mehr Abwechslung gesorgt, wodurch die fast gestaltungsidentischen Bände besser auf einen Blick unterscheidbar gewesen wären. Hinzu kommt aber, dass die Wycksche Szene, so malerisch sie ist, wenig mit ‚knallharten‘ Fällen wie dem des Theodor Ludwig Lau korrespondiert, der als Ausgestoßener endete. Der Wertschätzung für den Doppelband als solchen tut das keinen Abbruch.

Kein Bild

Martin Mulsow: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
1088 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783835319912

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