Ein Kammerspiel mit nur angedeuteten Tönen

Wolf Wondratschek wirft mit und in seinem neuen Roman „Selbstbild mit russischem Klavier“ viele Fragen auf

Von Lukas BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn es nach Helmut Maier ginge, hätte 2017 nicht Jan Wagner den Georg Büchner Preis bekommen, sondern Wolf Wondratschek. Prompt initiierte Maier den Alternativen Büchnerpreis mit gleicher Dotierung und zeichnet Wondratschek als seinen ersten Preisträger aus. Jenem vermögenden Privatmann verkaufte Wondratschek auch seinen vorletzten Roman, Selbstbildnis mit Ratte, anstatt ihn an einen Verlag zu geben. Wie dieser Roman so ist, kann niemand außer Maier beantworten, denn allein er hat ihn gelesen. Nun hat Wondratschek sein neuestes Buch mit ähnlichem Titel im Ullstein-Verlag herausgebracht: Selbstbild mit russischem Klavier. Zeit zu überprüfen, ob Wondratschek tatsächlich büchnerpreiswürdig ist.

Juri Suvorin spielt kein Klavier mehr. Er ist alt geworden, wirr und krank. Der russische ehemalige Pianist begegnet der Ich-Erzählfigur im Kaffeehaus und erzählt aus seinem Leben. Auf den ersten Blick scheint der Inhalt des Romans schnell wiedergegeben, denn die Episoden, von denen der Klavierspieler erzählt, bleiben konfus und wollen sich nicht so recht zu einem vollständigen Lebensbild zusammenfügen. Suvorins Leben erscheint den LeserInnen fragmentarisch und ungenau. Doch eben diese Ungenauigkeiten verdeutlichen, dass es Wondratschek gar nicht wirklich um eine Handlung geht, sondern vielmehr um tiefgreifende Fragen, die weit über den Roman hinausreichen. Den LeserInnen begegnen diese Fragen schon in den Kapitelüberschriften. Mal sind sie banal wie „Schon mal karamellisierte Zwiebeln probiert?“, mal fragen sie tiefgründiger: „Kann man Gott zum Lachen bringen?“. Selbst das Motto ist eine Frage: „Weiß der Zufall, was er will?“. So kann man die vielen Fragen und Reflexionen über das Altern, den Tod und die Musik gut zum Anlass nehmen, eigene philosophische Gedanken anzuschließen.

Suvorins verwirrtes Auftreten zeigt sich in vielerlei Hinsicht, beispielsweise durch die Erzählperspektive, die immer wieder verwischt wird. Mühelos wechselt sie so rasch zwischen innerer und äußerer Handlung, dass die LeserInnen oftmals gar nicht wissen können, wer eigentlich spricht: die äußere Erzählfigur oder die innere, Suvorin. Erschwert wird die Unterscheidung zusätzlich dadurch, dass Wondratschek vollkommen auf Anführungszeichen verzichtet und Tempuswechsel scheinbar willkürlich einsetzt. Den LeserInnen ergeht es so wie im Buch denjenigen, die Suvorin begegnen: „Man weiß, wenn er etwas von sich gibt, nicht immer, wovon er redet. Zwischen den Sätzen können sich siebzig Jahre Lebenszeit nicht einfach in Luft auflösen.“ Wondratscheks Strategien zur Verwirrung machen es zwar mühsamer, dem Roman und seiner Handlung zu folgen, funktionieren für das Buch aber und verlangen nach einer aufmerksamen und reflektierten Lektüre.

In seiner Preisrede bei der Annahme des Alternativen Büchnerpreises spricht Wondratschek von dem Wunsch, unverständlich zu sein. Diesen greift er mit seinem Roman auf. Durch die Figur des greisen, konfusen Suvorin kann Wondratschek problemlos seine Forderung erfüllen. Beim Lesen beschleicht einen das Gefühl, eher mit einem Toten, einer bloßen Erinnerung zu reden. Die Handlung ist dabei egal. Man soll über sich nachdenken und darüber, was die Fragen mit einem selbst zu tun haben. Es scheint nicht um das Selbstbild Suvorins, der Erzählerfigur oder Wondratscheks zu gehen, sondern um das der LeserInnen, das beim Lesen und Fragenstellen entsteht.

Immer wieder gibt es Verweise darauf, dass es sich um einen Roman und damit Fiktion handelt. Eindrücklich wird das besonders in Kapitel 13. Dort wird zu Beginn behauptet, dass dieses aufgrund von Suvorins typisch russischem Aberglauben entfiele. Explizit tritt die Erzählfigur hervor, um zu erwähnen, dass es sich um einen Roman handelt. Allerdings wird gleichzeitig der Aberglaube einer fiktiven Figur ernst genommen, und dabei auch nur scheinbar. Mit der Behauptung, dass das Kapitel fehle, entsteht ein Paradoxon, da dieser Text in der Folge doch ein Kapitel darstellt. Der rätselhafte Erzähler zeigt sich ebenso an einer kurzen Stelle, bei der er Suvorin einen Cappuccino bestellt, und Suvorin fragt: „Sie können Gedanken lesen?“ Die Erzählfigur antwortet: „Was ich abstreite. Ich würde die Gabe, es können zu können, zurückweisen. Nur nicht das auch noch durchmachen müssen. Noch mehr Information, noch mehr Kontrolle.“ Sie streitet ab, allwissend zu sein, während zugleich Uneindeutigkeit und Unklarheit betont werden.

Sprachlich bietet das Buch sehr schöne Momente. So steht am Ende einer Seite: „Er fand so gut wie nichts mehr.“ Man blättert um und es ist, als hätte Suvorin den Kommentar aus der Ebene der Erzählfigur gehört und antwortet: „Ich finde nicht einmal Worte, um Ihnen das ganze Elend, in dem ich zu ersticken drohe, beschreiben zu können.“ In dem sprachlichen Spiel geht es dabei weniger um eine realistische Sprache. Viel eher wird Sprache durch einen künstlerischen Standpunkt reflektiert. Dabei hilft wieder die Figur Suvorins, die sich als Nicht-Muttersprachler über Wörter und Formulierungen wundern, freuen und mit ihnen auf besondere Art spielen kann. So ist auch schon der Titel als Wortspiel zu verstehen. War es bei Wondratscheks Vorgängerroman, den nur Maier zu lesen bekam, noch ein Selbstbildnis, handelt es sich hier um ein Selbstbild. Dem ein oder anderen mag diese Verkürzung und Veränderung der Bedeutung gar nicht aufgefallen sein. Der Begriff wird mehrdeutig und auf diese Weise rätselhaft.

Doch wo bleibt das russische Klavier, wo bleibt die Musik? „In der Musik wäre jetzt ein Tusch fällig. Ich wartete“, heißt es an einer Stelle. Aber da kommt kein Tusch. So wie Suvorin kein Klavier mehr spielt, hört man beim Lesen keine Musik. Der Roman ist still, lässt nur noch vereinzelte Töne und keine Melodie erkennen. Das ist aber gut so, denn die Ruhe überträgt sich auf die LeserInnen. Die Erzählung schenkt einem Zeit zum Denken, um zur Ruhe zu kommen und sich selbst zu befragen.

Dennoch vermisst man etwas, was man nicht so recht benennen kann. Vielleicht fehlt nur eine kleine Melodie oder die ein oder andere Antwort auf die Fragen, die offen gelassen werden, um ein stimmiges Bild zu entwerfen. Die LeserInnen müssen die fehlenden Töne ergänzen und eigenständig beantworten, wessen Selbstbild sich bei der Beantwortung der Fragen offenbart. Wondratschek präsentiert einen soliden Künstlerroman, der, obwohl nur wenige Töne angespielt werden, nicht viele Figuren auftreten und die Handlung reduziert ist, durchaus überzeugen kann. Nicht unbedingt für den Büchnerpreis, aber immerhin für einen Leser, der am Ende mit vielen offenen Fragen stehen gelassen werden will.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Wolf Wondratschek: Selbstbild mit russischem Klavier. Roman.
Ullstein Verlag, Berlin 2018.
271 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783550050701

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