Literatur als Organon der Geschichte

100 Jahre „Theorie des Romans“

Von Alexandra RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von der internationalen Georg-Lukács-Gesellschaft herausgegebene Sonderband Hundert Jahre „transzendentale Obdachlosigkeit“ vereinigt Beiträge einer 2016 veranstalteten Tagung zur Aktualität der Theorie des Romans, die sich zu Recht im Untertitel als Versuch ankündigt, die Formen der großen Epik in ihrer geschichtsphilosophischen Bedeutung zu würdigen. Die zugrundeliegende These, dass die moderne Welt unendlich groß geworden ist und ihre heimatliche Qualität verloren hat, war von einschlagender Evidenz. Noch bedeutender war jedoch die hier entwickelte Methode, literarische Werke nicht länger in zeitlicher Abfolge zu betrachten, sondern sie als Ausdruck von Geschichtlichkeit zu verstehen. So erfasst das mittlere der drei Lukácsschen Frühwerke (nach Die Seele und die Formen von 1911 und vor Geschichte und Klassenbewusstsein von 1923) den Roman im Wechselspiel mit der Form der Epik nicht als dargestellte Wirklichkeit, sondern – wie Walter Benjamin es formulierte – als Organon der Geschichte. War das Epos Ausdruck einer ganzheitlichen Welterfahrung, einer vollendeten, in sich geschlossenen Kultur, so sei der Roman geprägt von der Erfahrung der Moderne als Epoche des Fragmentarischen, nicht zur Einheit Kommenden. Im Wechsel vom Epos zum Roman wird so in Lukács’ Argumentation der geschichtsphilosophische Umschwung von der Antike zur Moderne lesbar.

Die Zusammenstellung der Artikel mutet zunächst etwas arbiträr an und lässt das ungute Gefühl entstehen, das alle Unterfangen begleitet, die zu Jubiläumsjahren bemüht sind, eine Aktualität erstmal zu statuieren und dann, gegebenenfalls auch nachträglich, zu konstituieren. Leider fehlt der Eröffnungsvortrag von Eva Geulen, der bereits 2017 an anderer Stelle erschienen ist. Auch wurden zwei Beiträge ohne Bezug zur Tagung hinzugefügt: Zum einen ein bibliographisch nicht ausgewiesener Aufsatz Paul de Mans (er ist 1966 in den Modern Language Notes erschienen und wurde hier zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt), zum andern die überarbeitete und übersetzte Fassung eines auf Englisch gehaltenen Vortrags von Rüdiger Campe zu Verbindungen der Theorie des Romans mit Georg Simmel und Émile Boutroux, der 2017 bei der German Studies Association in Atlanta (USA) gehalten wurde.

Der Ankündigung und dem Anspruch der Einleitung, die „krisendiagnostische, medien- und formtheoretische Relevanz“ der Lukács’schen Romantheorie 100 Jahre nach ihrem Erscheinen erneut zu erweisen, werden die meisten Beiträge leider nicht gerecht, da sie sich auf dem sicheren Boden historischer oder philologischer Untersuchungen bewegen. Wie so häufig bei Tagungen erachten Spezialisten ihren Autor als zeitlos und seine Aktualität aufgrund einer runden Jahreszahl als gegeben. So beschäftigen sich acht der zehn Tagungsbeiträge mit ideengeschichtlichen Aspekten (Lukács’ Lektüre der Romantik, von Hans im Glück, die Bedeutung Fjodor M. Dostojewskis, motivgeschichtliche Studien zu Todestrieb und Utopie, sein Verhältnis zu Marxismus und Lebensphilosophie etc.), die per se natürlich keineswegs uninteressant sind. Doch huldigen sie der Theorie des Romans als „modellbildendem“ Grundlagenwerk „linken Denkens“, ohne diesen Konsens der Lukács-Forschung zu hinterfragen. (Was ist „linkes Denken“ heute? Welche Relevanz haben Denk-Modelle für aktuelle Diskussionen?) Solche Behauptungen und Feststellungen sagen wenig über die tatsächliche Aktualität der Theorie des Romans. Dabei würden sich viele konkrete Anknüpfungspunkte bieten, beispielsweise die neue „Geltungskraft von Literatur“ (wie es im Vorwort zu Recht heißt) in Politik und Marketing (story telling) aber auch in Soziologie und Psychologie (Bedeutung narrativer Strukturen in wissenschaftlichen Erklärungsmodellen). Oder aber das Interesse an Lukács, das die Neuauflage seiner Schriften bekundet, die seit 2009 im Aisthesis-Verlag im Gange ist (2009 Theorie des Romans und 2011 Die Seele und die Formen mit einem Vorwort von Judith Butler).

Zwei Beiträge verdienen besondere Erwähnung, weil sie auf überzeugende Weise zeigen, wie und wo heute ein Weiterdenken der Theorie des Romans möglich ist und auch tatsächlich stattfindet. Linda Simonis, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum, liest die Romantheorie vor dem Hintergrund der sich zeitgleich entwickelnden Kino- und Filmtheorie. Diese auf den ersten Blick paradox anmutende Lektüre „übers Kreuz“ wirft ein neues Licht auf die heute überholt scheinende Faszination für die „großen“ Formen Tragödie und Epos und erlaubt es, diese zu relativieren. Lukács’ 1913 in der Frankfurter Zeitung erschienenen Gedanken zu einer Ästhetik des Kino sind äußerst erhellend, da Lukács darin eine prägnante Differenzierung von Drama und Film vornimmt. So zeigen die kinematographischen Bilder „ein Leben ohne Gegenwärtigkeit, ein Leben ohne Schicksal, ohne Gründe, ohne Motive“, eine fehlende Sinn- und Tiefendimension, die in Kontrast zur Tragödie steht. Während das Drama rein metaphysisch (alles empirisch Lebendige von sich fernhaltend) sei, verweise das Kino als ausschließlich empirisch-lebhaft auf eine gänzlich andere Ontologie. Die Handlung der Tragödie werde von einer schicksalshaften Verstrickung bestimmt, während sich die kinematographische Bildsequenz einer kontingenten Zusammenstellung verdanke. Linda Simonis zeigt überzeugend, wie der Film Lukács’ Analyse der Moderne eigentlich noch besser hätte belegen können als der Roman. Sie erklärt aber auch, dass 1913 das Medium noch zu neu war, um als Alternative zum Epos in Betracht gezogen zu werden. Auch standen für Lukács nicht zuletzt Dostojewskis Romane im Brennpunkt, deren Bedeutung – wie es auch der Beitrag Rüdiger Dannemanns belegt – nicht zu überschätzen ist.

Dieses implizite „geschichtsphilosophische Verlustszenario“ liegt auch der Studie von Patrick Eiden-Offe über Lukács’ Affinität mit Johann Gottlieb Fichtes typologischem Denken zu Grunde. Im Aufzeigen einer typologisch strukturierten Geschichtsphilosophie nach dem Modell von Ankündigung und Erfüllung, figura und natura, macht der Autor das vermittelnde Moment von Lukács’ Kulturkritik einsichtig. Die geschichtliche Grundstruktur sei bestimmt durch eine „‚Rhythmik‘ von ‚Ahnung‘ und ‚Erfüllung‘, von ‚Sehnsucht‘ und ‚Vollendung‘, von ‚Erwartung‘ und ‚Erlösung‘“. Hier wird die Typologie als eine historische Denkform des Messianismus erkennbar, wobei der Jetzt-Zeit als Moment des Umschlags von Erwartung in Erfüllung eine Heilserwartung eingeschrieben ist. „Typologische Geschichtskonstruktionen erzeugen so ein starkes Jetztzeit-Bewusstsein: Der typologische Theoretiker steht immer in der Mitte der Zeit.“ Eiden-Offes Lektüre zeigt die Theorie des Romans nicht bloß als retrospektive Deutung von Geschichte oder als Selbstverständigung der Moderne, sondern als den Versuch, „die Struktur des geschichtlichen Ablaufs selbst wiederzugeben“. Damit zeigt sie die immanente Aktualität dieses Werks, ja genau genommen sogar, warum es als „modellbildendes Grundlagenwerk linken Denkens“ herhalten konnte und auch weiterhin kann. Wenn Lukács den Blick von Tolstoi, dem es um eine Vollendung des in der Vergangenheit Angelegten geht, hin zu Dostojevski wendet, so weil bei diesem die Entscheidung für die Zukunft im Hier und Jetzt stattfindet.

Gemäß dem Grundsatz des Theaterdirektors aus Johann Wolfgang Goethes Faust – „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ – möge sich jeder aus diesem Sammelband die schmackhaftesten Stücke raussuchen, seien diese nun aktuell oder nicht.

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Rüdiger Dannemann / Maud Meyzaud / Philipp Weber (Hg.): Hundert Jahre „transzendentale Obdachlosigkeit“. Georg Lukács’ „Theorie des Romans“ neu gelesen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2018.
259 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-13: 9783849812324

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