„Warum lassen wir die Revolution nicht sausen?“

Eine sehr persönliche Hommage an Jörg Fauser zum 75. Geburtstag

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich bin dem Namen Jörg Fauser zum ersten Mal begegnet, als die leider schon seit über 20 Jahren eingestellte Zeitschrift Tempo 1989 ein Sonderheft herausgab, in dem die besten Platten, Filme und Bücher der nun vergangenen 80er Jahre gelistet waren. Zumindest das Literarische war ein Ranking, das sich fernab dessen bewegte, was man gemeinhin als Mainstream bezeichnete. Natürlich ging es Tempo um den seinerzeit viel beschworenen Zeitgeist: Was war prägend für unsere Gegenwart? Es war eine Zeit jenseits der heute omnipräsenten Historisierung von Kulturträgern, selbst jenen, die vielleicht gerade erst erschienen sind. Nein, in den späten 80er Jahren machte man sich wenig Gedanken darüber, was bleibt, als vielmehr was ‚Gerade Eben Jetzt‘ (um Eckhart Schumacher zu zitieren) da ist. Popkultur in Reinform könnte man sagen, und doch bewegte sich diese Liste jenseits von dem, was man gemeinhin als Pop bezeichnen konnte.

Gut, auf Platz eins fand sich Rainald Goetz‘ Irre wieder, der als Roman stilisiert wurde, der die 80er geprägt hat wie kein zweiter. Auf Platz zwei hingegen stand Elfriede Jelineks Die Klavierspielerin; ein Werk weit jenseits des Pop also, das sich aber seinerzeit wie eine Wunde im Fleisch anfühlte, um die Goetz’sche und auch Jelinek’sche Metaphorik zu bemühen. Dann aber kam ein Buch eines Autors, der mir (wie die anderen beiden auch) gänzlich unbekannt war: Jörg Fauser und sein Krimi Der Schneemann. Ich nahm mir als literaturinteressierter Oberstufenschüler vor, diese Liste soweit möglich abzuarbeiten, einfach, weil ich nach einer Literatur suchte, die sich jenseits dessen bewegte, was Schule, Bildungskanon und Elternhaus so zu bieten hatten. Blöderweise fing ich mit Platz eins an, das hat mich (trotz anhaltender Faszination) mehrere Monate gekostet. Platz zwei war dann eine andere Geschichte. Nach monatelanger Qual hörte ich, witzigerweise kurz vor Schluss, endlich damit auf. Dass ich in der Liste nicht viel weiterkam, lag allerdings dann an Platz drei und der Faszination, die dieser Autor in mir auslöste.

Da Fausers Werke in einer Zeit vor dem Internet vergriffen schienen (bzw. nicht in den noch üppig ausgestatteten Buchhandlungen zu haben waren), musste ich mit einer Neuauflage von Das Schlangenmaul vorliebnehmen. Ein mäßig spannender Hardboiled-Krimi, ganz in Ordnung, aber nicht berauschend. Auf dem Wühltisch fand ich eine alte Ausgabe von Kant, was mich sehr enttäuschte. Als ich schon zu Platz vier der Tempo-Liste übergehen und den Schneemann entsprechend unter den Tisch fallen lassen wollte, besuchte ich einen der damals noch sehr angesagten Zweitausendeins-Läden, und hier gab es exklusiv eine wunderschön gestaltete Gesamtausgabe von Jörg Fausers Werk samt informativen Ergänzungsbändchen. Ich vermute mal, dass ich um die Zeit herum gerade Geburtstag hatte, anders kann ich mir die Investition von ca. 50 DM (reduziert) nicht mehr erklären. Irgendwie hatten mich die wenigen Informationen, die ich über Fausers Vita hatte, gepackt: Ein Typ, der nach seinem 43. Geburtstag gestorben ist, weil er in den frühen Morgenstunden offensichtlich betrunken zu Fuß auf der Autobahn spazieren ging? Ein großartiger Pop-Mythos, dem nachgegangen werden musste.

Also las ich, und las, und las. Der Schneemann war ein deutlich besserer Krimi als Das Schlangenmaul. Die wahre Entdeckung aber war der autobiographische Roman Rohstoff (aber auch die Gedichte und die Erzählungen, und hier wiederum vor allem Alles wird gut), den ich jahrzehntelang noch unter meinen Lieblingstexten führte, ohne ihn jemals wieder gelesen zu haben, weil ich mir diesen einen Moment der literarischen Erleuchtung nicht nehmen wollte. Denn genau das war die Lektüre von Jörg Fauser für mich persönlich: eine Erleuchtung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, was in der Literatur möglich war. Was für einen Leser möglich war. Wie man sich so intensiv mit einem Autor beschäftigen konnte, in sein Leben und Schreiben eindringen, seine Gedanken teilen und nachempfinden, auch wenn man logischerweise ein völlig anderes Leben führte als dieser zunächst drogensüchtige, dann alkoholabhängige Autor, der seinen Schmerz wie seinen Zynismus gegenüber seiner Generation, die er einfach nicht verstehen konnte, in seine Texte packte. Dabei war es doch jene Generation, von der bis heute alle schwärmen: die 68er. Freie Liebe, Revolution, gesellschaftlicher Umbruch.

Am besten kommt dieses ambivalente Verhältnis Fausers zu seinen Zeitgenossen im Gedicht Trotzki, Goethe und das Glück zum Vorschein: Hier erzählt das lyrische Ich von Louise, einer jungen Revolutionärin, die er kennen und lieben lernt, doch nervt ihn recht bald, dass seine Freundin sich mehr um die Revolution als um das gemeinsame Liebesleben kümmert. „Warum lassen wir die Revolution nicht sausen? / das sinnlose Palavern / die endlosen Auseinandersetzungen um die Maschinenfabrik in Shanghai? Suchen uns irgendeinen stillen Winkel, wo ich in Ruhe mein Bier trinken / und zwischendurch mal ein Gedicht schreiben kann / et le reste: L‘amour“. Folgerichtig kommt es zum Streit, als er „einmal im Suff mit einer anderen ankam“, man trennt sich, und Jahre später trifft er einen Bekannten, der ihm berichtet, dass Louise nicht wie erwartet im „Zentralkommitee“ sitzt, sondern „irgendsonen Goethe-Forscher“ geheiratet hat.

Es ist diese Mischung aus Spott und Melancholie, die gerade den Lyriker Fauser so groß macht, denn wie er hat keiner in den 1970er Jahren geschrieben. Der Einfluss von Charles Bukowski ist nicht von der Hand zu weisen, ebenso wenig der von John Fante, später, in seinen drei Kriminalromanen, von Raymond Chandler und Dashiell Hammett und tatsächlich wurde Fauser auch oft dafür kritisiert, den Dreck der amerikanische Großstädte, die Beschreibung ihrer Unterwelt, bestehend aus Säufern, Nutten, Zuhältern, Drogensüchtigen und natürlich verzweifelten Dichtern einfach nach Frankfurt am Main zu transportieren. Da mag etwas dran sein, und doch hat niemand mit einer größeren Leidenschaft über die Schattenwelt deutscher Großstädte geschrieben, hat sich keiner von der Spießbürgerlichkeit der deutschen Nachkriegsgesellschaft radikaler abgewandt als Fauser, auch Rolf Dieter Brinkmann nicht. Komisch, sah Fauser doch vor allem in seinen letzten Jahren aus wie ein gediegener Bankangestellter.

Durch seine literarische Karriere zieht sich wie ein roter Faden seine Liebe zu Amerika und dessen Literatur, der Versuch, eine deutsche Stimme zu finden für das, was er von dort las und hörte. Anders als bei Brinkmann jedoch ist es kein Abscheu und kein Selbsthass, der aus seinen Texten spricht, sondern eine tiefgreifende Liebe zu einem Leben, das er sich nach seinen Maßstäben einrichten wollte – und dies auch getan hat. Als junger Krankenpfleger wurde er in den späten 60er Jahren drogenabhängig, er zog in die Türkei, ins damals berüchtigte Junkie-Viertel Tophane und vegetierte, glaubt man seinen autobiografischen Texten, vor sich hin. Der große Einfluss der Texte William S. Burroughs‘ zieht sich durch sein kaum beachtetes, experimentelles Frühwerk. Fauser schätzte die Cut-Up und Fold-In-Technik des Amerikaners, die daraus entstehenden freien Assoziationen, die zu Texten führten, die den Drogenrausch simulieren sollten. Texte, die dreckig und vulgär waren, die nicht wie herkömmliche Literatur gelesen werden sollten, sondern den Leser mitnahmen in den Opiumrausch. Zugegeben, diese frühen Arbeiten Fausers sind nicht sehr gut, obwohl es ihm hoch anzurechnen ist, dass er etwas gewagt hat, nämlich die Sprache sich ebenso Untertan zu machen wie Burroughs.

Als er zurück war, „kaum war ich von der Nadel runter, tappte ich in die nächste Falle: Die Revolution“, trieb er sich auch in Studentenkreisen herum, er schrieb Gedichte, Erzählungen und versuchte davon zu leben, Essays, Kritiken, Beiträge und sonstiges zu verfassen, die heute in dem überwältigend dicken Band Der Strand der Städte versammelt sind, der anschaulich macht, wie viele dieser Gebrauchstexte Fauser verfassen musste. Er schrieb skurrilerweise sogar eine Marlon Brando-Biographie, Der versilberte Rebell, ein Buch, mit dem er krachend scheiterte, weil er sich natürlich weigerte, eine chronologische Abhandlung über Leben und Werk des damals weltberühmten Schauspielers anzubieten und stattdessen mehr oder weniger assoziativ über Brando schrieb.

Aber es waren die Gedichte, die Erzählungen und die großartige Novelle Alles wird gut um den Säufer und Tagedieb Johnny Tristano, die in den 70er Jahren zwar kaum jemand las, die aber den Ruf des Autors Fauser zementierten. Ja, es waren schmutzige, niederschmetternde, manchmal ekelerregende Erzählungen über ein Leben am Rande der Gesellschaft, geschrieben jedoch von jemandem, der dieses Leben romantisierte wie kein zweiter. Das Wunderbare an Fausers Texten ist, dass man gleichzeitig abgestoßen und angezogen wird, man möchte ein Teil dieser Welt sein. Und wenn man jung ist, wenn man mit diesen Texten zum ersten Mal in Berührung kommt, werden sie einen ein Leben lang prägen.

In den späten 1970er Jahren lernt Fauser den Musiker Achim Reichel kennen. Dieser konnte in den 60ern mit der deutschen Beat-Combo The Rattles große Erfolge feiern, wurde dann mit A.R. & Machines zum Guru der elektronischen Musik, wandte sich Mitte der 70er der Vertonung klassischer deutscher Lyrik sowie dem Nachspielen bekannter Shanties zu und erfand sich schließlich Ende des Jahrzehnts als poetischer Rocksänger mit Gossenappeal neu. Er bildete mit Fauser mehrere Jahre ein kongeniales Tandem. Das Album Blues in Blond ist ein vergessener Klassiker der deutschen Rockmusik, denn Fausers Songtexte sind kein Nebenprodukt, sie stehen seinen Gedichten in nichts nach, und tatsächlich ist der Song Der Spieler (sogar ein kleinerer Hit) vielleicht die Quintessenz seines literarischen Schaffens: Ein Spieler setzt beim Roulette auf die 17, sie fällt, er gewinnt 35.000 DM, ist eigentlich alle Sorgen los, doch setzt er das ganze Geld noch einmal auf die 17 (die natürlich nicht mehr fällt). Am Ende geht er nach Hause zu seinem Mädchen, das ihn natürlich trotzdem allzu gerne ins Bett einlädt.

Und er begann, Krimis zu schreiben, und plötzlich hatte er Erfolg. Der Schneemann wurde gar mit Marius Müller-Westernhagen in der Hauptrolle verfilmt. Es schien, als sei Fauser, mittlerweile auch verheiratet, endlich aus dem Sumpf entstiegen, in einem halbwegs bürgerlichen Leben angekommen. Dass er – unbestätigten Gerüchten zufolge – seinen 43. Geburtstag im Puff feierte, bevor er betrunken auf der Autobahn vor München von einem LKW erfasst wurde, zeigt jedoch, dass er seinem alten Leben doch nicht entfliehen konnte. Auch wenn die Geschichte mit dem Puffbesuch nicht stimmt – Fauser hatte mit Freunden gefeiert, aber erst mehrere Stunden nach dem Abschied wurde er überfahren –, passt sie zum Mythos um diesen einzigartigen deutschen Schriftsteller.

Ich selbst habe viel von Fauser gelernt, vor allem, dass Literatur, deutsche Literatur, nicht nur das war, was man in der Schule darüber gelernt hat. Als wir im Deutschunterricht einen Autor oder eine Autorin vorstellen sollten, wählte ich Fauser und seine Novelle Alles wird gut, obwohl meine Lehrerin mehrmals versuchte, mir das auszureden. Dies hat mich dazu bewogen, tiefer zu gehen, zu schauen, ob es noch mehr Autoren gab, die sich nicht um die Konventionen des Literaturbetriebs scherten, die aber auch ein ebenso romantisches wie destruktives Weltbild transportierten, das man in bürgerlichen (oder auch intellektuellen) Kreisen einfach nicht nachvollziehen konnte. Eines meiner ersten Gespräche in meinem Studium drehte sich genau darum. Eine Kommilitonin fragte mich nach meinem Lieblingsautor und ich nannte Fauser, den sie nicht kannte. „Worüber schreibt der denn so?“ „Naja, über sich. Meistens sitzt er in der Kneipe und wartet auf die Frau fürs Leben (eine beliebte Fauser-Phrase, übrigens).“ Ihre Antwort war ziemlich eindeutig: „Aber wie soll er die denn finden, wenn er nur in der Kneipe hockt?“ Da hatte sie sicherlich irgendwo auch recht.

Als ich in den 90er Jahren Helmut Krausser entdeckte, noch so einen Schriftsteller, der dort hinging, wo sich nicht viele hinwagten, der aber ansonsten mit Fauser meines Erachtens nicht zu vergleichen war, hatte ich einen persönlichen Nachfolger entdeckt. Umso begeisterter war ich Jahre später, als Krausser Fausers Alles wird gut als grandiosen Text lobte. Und einer der ganz großen Fehler meiner wissenschaftlichen Karriere war es, das geplante Fauser-Kapitel aus meiner Dissertation über Pop und Literatur zu entfernen – aus Platzgründen und weil es kaum Forschungsliteratur gab.

Zum 75. Geburtstag legt Diogenes einige von Fausers Büchern wieder einmal neu auf, jeweils versehen mit neuen Nachworten. Die Ausgabe folgt der wunderschönen Rogner & Bernhard-Ausgabe, die vor knapp dreißig Jahren in acht Einzelbänden erschien (später gab es eine auch recht ansehnliche zusammengebundene Version in drei Bänden), der nicht minder schönen neunbändigen Ausgabe des Alexander-Verlags, die durch das erste Jahrzehnt der 2000er Jahre hindurch nach und nach erschien (und die als letzten Band das unvollendete Fragment von Fausers letztem Roman Die Tournee enthält), sowie der Lizenzausgabe von Diogenes als Taschenbücher. Was ich damit sagen will: Es gibt mittlerweile vier (!) edierte Gesamtausgaben vom Werk Jörg Fausers (von Brinkmann gibt es zum Beispiel gar keine), und trotzdem hat er bei weitem noch nicht den Ruf, der ihm zusteht. Als einer der ganz großen Individualisten und Innovatoren der westdeutschen Literatur.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Jörg Fauser: Rohstoff. Roman.
Mit einem Nachwort von Michael Köhlmeier und Matthias Penzel.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070347

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Titelbild

Jörg Fauser: Rohstoff Elements.
Mit einem Nachwort von Jürgen Ploog.
Diogenes Verlag, Zürich 2019.
319 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070354

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