Eine kleine Erzählung über das Wunder des Lebens

Jostein Gaarders Erzählung „Genau richtig“ stellt die Frage nach dem Sinn des Lebens

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Moment, in dem eine schwere Krankheit diagnostiziert und das drohende Ende des Lebens plötzlich bewusst wird, löst meist zuerst Verzweiflung und ein Gefühl von Hilflosigkeit aus. In Jostein Gaarders neuer Erzählung „Genau richtig“ flieht Erzähler Albert von Schmerz und Wut erfüllt aus der Praxis, in der ihm die Unausweichlichkeit eines baldigen Todes eröffnet wurde. Er fährt an einen glitzernden Waldsee, an dessen Ufer seine Frau Eirin und er eine rotgestrichene Holzhütte besitzen, und beginnt dort, in einer langen Nacht Erinnerungen, Lebenseindrücke und philosophische Gedanken aufzuschreiben. Manches möchte er in dem Hüttenbuch für seine Kinder festhalten, manches möchte er sich von der Seele schreiben und erklären. Albert berichtet von falschen und improvisierten Entscheidungen, von seiner Liebe zu Eirin, die er 1972 kennenlernte, durch welche schwierigen Zeiten sie zusammen gingen und weshalb sie immer und über mehrere Jahrzehnte zusammenhielten. Er schreibt aber auch darüber, woher alles Leben auf der Welt kommt, wie es sich entwickelt hat und welche Bedeutung der Mensch hat, obschon seine kurze Existenz verglichen mit der Ewigkeit so unwichtig zu sein scheint. Im Norwegischen trägt das Buch daher den Untertitel Eine kleine Erzählung über fast alles, der in der deutschen Ausgabe in Die kurze Geschichte einer langen Nacht umgewandelt wurde.

Albert richtet die Worte an seine Frau und seine Kinder, zugleich spricht er den Leser direkt an und betont, wie wichtig es für ihn ist, alle „auf seinem Gedankengang mitzunehmen. Nur so könnt ihr mich bei dem Versuch begleiten, zu begreifen, warum ich am Ende den Entschluss fasse, den ich fassen werde.“ Welche Entscheidung am Ende jener kalten und nassen Nacht stehen könnte, in welcher der Gesang eines Vogels wie ein „wehmütiges, wenn auch versöhnliches Klagelied“ klingt und der dunkle Waldsee Albert anzieht – „ein schwerer Sog“, soll der Leser bis zu den letzten Seiten des Buches nicht vorhersehen. Wird er sich das Leben nehmen? Dunkle Ahnungen und Hoffnung wechseln sich ab.

Der Norweger Jostein Gaarder würdigt in seinen Büchern stets das Wunder des Lebens. In seinem Weltbestseller Sofies Welt (1991) zwangen die seltsamen Briefe von Alberto Knox mit Zitaten berühmter Philosophen die jugendliche Protagonistin, über ihr Leben und die Welt nachzudenken. Sie erkannte, dass ihr Leben nicht real und sie nur Bestandteil der fiktiven Welt eines Buches ist. Gaarder stellte in Sofies Welt die gleichen philosophischen Fragen wie in Genau richtig: Woher kommt die Welt? Gibt es Kräfte, die stärker sind, als Vernunft und Wissenschaft es wahrhaben wollen? Welchen Sinn hat das Leben, wenn mit jedem Menschen dessen Erinnerungen sterben? „Es hat nie ein Sein gegeben, sondern nur ein Werden, denn nichts auf der Welt hat Bestand“, sinniert Albert. Daher könnte man die Welt als ständig blutend bezeichnen.

Nichts hat Bestand, alles verändert sich, auch die engste Beziehung wird irgendwann vom Tod getrennt. Der Leser versteht, dass die Endlichkeit zum Leben gehört und genau diese es besonders wertvoll macht. Wenn es gelingt, diese Tatsache zu akzeptieren, dann wird es möglicherweise leichter fallen, das Leben zu genießen, obwohl man geliebte Menschen verliert – und nicht nur das: Es sollte leichter fallen, das eigene Sterben auszuhalten. In Sofies Welt nutzte Gaarder Platons Höhlengleichnis, um die Frage aufzuwerfen, was real ist. In Genau richtig wird deutlich, dass es gar nicht entscheidend ist, ob unsere Welt real ist. Jeder Mensch muss seine verbleibende Zeit sinnvoll nutzen, weil diese nicht zu lang oder zu kurz, sondern genau richtig ist.

Dies unterstreicht der Autor mehrfach. Als Eirin das erste Mal Alberts Körpergeruch wahrnahm, flüsterte sie „genau richtig“. Den Preis für die Hütte am See bezeichneten beide als „genau richtig“. Das Haus verschaffte Eirin und Albert eine Ahnung von der Unendlichkeit, denn hier verschmolzen „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer höheren Einheit“. Positive und negative Erfahrungen seien alle „genau richtig“. Wie in einem Kreis führt Jostein Gaarder den Leser wieder und wieder zu dem Punkt, an dem er erkennen soll, dass das Leben „genau richtig“ ist. Deswegen wird dem Autor auch häufig ein Hang zum Didaktischen vorgeworfen. Aber es gelingt ihm, schwere Themen mit großer Leichtigkeit und einfachen Worten anzugehen. Alexandra Polunin lobte bei Literaturkritik.de die kurzweiligen und zugleich tiefgehenden Geschichten Gaarders sowie die „ganz und gar unkomplizierte Herangehensweise an philosophische Fragen“. Seine Lektüre liege nicht schwer im Magen.

Genau richtig nähert sich Themen, die schwer im Magen liegen können, weil viele Menschen sich mit ihnen viel zu spät beschäftigen. In einer schnelllebigen Zeit, in der die Arbeit auf der einen Seite und die Unterhaltung auf der anderen Seite den größten Teil des Lebens ausmachen, wird der Blick auf den eigenen Tod vermieden. Auch Alberts Nachdenken beginnt erst mit der Diagnose seiner Erkrankung. Die späte Erkenntnis schmerzt: „Zu einem wie auch immer gearteten Normalzustand führt kein Weg zurück. Es tut weh, daran zu denken“, schreibt er in das Hüttenbuch. Nur Kinder und tiefreligiöse Menschen könnten das Leben mit stoischer Ruhe hinnehmen, denkt er. Denn Kinder grübeln nicht über das Ende nach, Religiöse sind von einem besseren Dasein nach diesem überzeugt. Albert gehört zu keiner dieser beiden Gruppen. Aber er bezeichnet seinen Tod trotzdem als den „größten Aufbruch meines Lebens“. Gaarders Erzählung ist genau richtig, um sich diesem Thema zu nähern, einen Moment innezuhalten und sicherlich hernach das eigene Leben mit etwas anderen Augen zu sehen.

Titelbild

Jostein Gaarder: Genau richtig. Die kurze Geschichte einer langen Nacht.
Übersetzt aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Carl Hanser Verlag, München 2019.
125 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783446263673

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