Vertreibung – interkulturell

Václav Smyčka eröffnet neue Perspektiven auf die deutsche und tschechische Literatur

Von Klaus HübnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hübner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Inmitten der kaum noch zu bändigenden Flut akademischer Qualifikationsschriften gibt es Studien, die sofort positiv auffallen – sei es wegen ihres spannenden Themas, sei es wegen ihres plausiblen Aufbaus oder ihrer klaren Sprache. In seiner bei Manfred Weinberg entstandenen und für die Drucklegung überarbeiteten Dissertation Das Gedächtnis der Vertreibung untersucht Václav Smyčka, wie die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei in der deutschsprachigen und tschechischen Literatur und Kunst der Gegenwart aufgearbeitet, inszeniert und gedeutet wird. Das ist zweifellos ein spannendes Thema, und weil der Verfasser zudem leserfreundlich schreiben kann, lernt man nicht nur neue Perspektiven darauf kennen, sondern erfährt nebenbei auch, was Kulturwissenschaft ist und wie sie, angewandt auf konkrete Texte und Kunstwerke, zu greifbaren Ergebnissen führen kann. Diese Arbeit liest man also mit größtem Gewinn, weshalb man auch rasch den gelegentlichen Ärger darüber vergisst, dass sich Autor und Verlag einen durchaus noch erforderlichen Korrekturgang erspart haben.

Die Studie beginnt mit einer konzisen Einleitung, in der das Paradigma der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung vorgestellt und seine Bedeutsamkeit für die Untersuchung der Vertreibungsdiskurse erläutert wird. Da „unübersehbar“ sei, dass es in den letzten 20 Jahren unter den deutschen Vertriebenen und vielleicht noch mehr in der tschechischen Gesellschaft einen „deutlichen Meinungswandel“ zum Thema gegeben hat – vor allem weil die authentischen, wenn auch oft politisch instrumentalisierten Geschichten der Augenzeugen-Generation allmählich von einer durch verschiedenste Medien vermittelten Erinnerung abgelöst worden sind –, kann das Ziel von Smyčkas Analyse nicht sein, die historischen Ereignisse selbst darzustellen und zu kommentieren. Vielmehr muss es darum gehen, „die kulturelle Kodierung der Ereignisse, ihre Auslagerung in die Semiosphäre und die re-konstruierenden Strategien der Texte sowie ihre Verflechtungen zu beschreiben“. Literatur wird ausdrücklich nicht als direkter Ausdruck von Erfahrungen ihrer Urheber oder als bloß ideologisches Programm betrachtet, sondern als genuin ästhetische „Erinnerungs- bzw. Posterinnerungsarbeit mit all ihren Ambivalenzen und Unzuverlässigkeiten“. Im Zentrum steht die Untersuchung der konkreten „Erinnerungsstrategien“ der Texte.

Im ersten Teil der Arbeit werden die erinnerungspolitischen und diskursiven Kontexte der tschechischen und deutschen Erinnerungskulturen skizziert; ihre Dynamik und Virulenz werden mithilfe des die Ablösung des Gedächtnisses durch das Postgedächtnis beschreibenden Modells „floating gap“ von Jan Assmann vorgestellt. Vor dem Erscheinen der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass (2002) habe es in den deutschen und tschechischen Vertreibungsdiskursen oft sehr deutliche, politisch-ideologisch motivierte „Grenzen des Sagbaren und Unsagbaren“ gegeben – vier „Masternarrative der Vertreibung“ seien festzustellen, nämlich „das tschechische agonale Narrativ, das alte revisionistische Narrativ der Vertriebenenverbände, das antikommunistische Narrativ und das ‚transnationale‘ und ‚transhistorische‘ Narrativ“. Um die Jahrtausendwende habe ein Prozess der Historisierung, Musealisierung und Neureflexion des Vertreibungsthemas eingesetzt, der die früheren Ausdrucksmittel der Erinnerungskultur außer Kraft gesetzt habe. Diese Feststellung führe dann direkt in die Domäne einer Literatur, die auf nicht-ideologischer Individualisierung, ästhetischer Innovation sowie Selbst- und Sprachreflexion basiert. Bücher wie Prag Časlavska 15 von Erika Härtl-Coccolini (2008), Ein langer Blick zurück von Ingeborg Linke (2008) oder Fremd genug von Erica Pedretti (2010) hätten kaum früher geschrieben werden können.

Den Kern von Das Gedächtnis der Vertreibung bildet das mit „Erinnerungsstrukturen“ überschriebene zweite Kapitel. Smyčka übersieht nicht, dass neben Werken, die sich modernen Poetiken verschrieben haben, auch zahlreiche literarische Texte entstanden sind, die die Ereignisse mithilfe eher traditioneller Darstellungsmittel dokumentieren wollten und oft ein großes Lesepublikum erreichten. Solchen „Tatsachenromanen“ widmet er seinen analytischen Scharfsinn: Formen und Inhalte, auch die Rezeption von Keine Liebe kein Erbarmen von Wilhelm Böhm (2006), den Beneš-Romanen von Sidonie Dědina (2000/2005) oder Habermannův mlýn von Josef Urban (2000) werden gründlich untersucht, und das Ergebnis lautet: „Die Romane partizipieren an den Vergangenheitsdiskursen, setzen sie zwar produktiv um, bleiben jedoch mit wenigen Ausnahmen in ihrem Umkreis gefangen“. Die meisten „Tatsachenromane“ sowie zahlreiche Lebensberichte von Vertriebenen vernachlässigten „die Autonomie des Literarischen zugunsten der historischen Referenz“, während modernere Autoren größeren Wert auf die ästhetische Funktion legten, „die die intra- und intertextuelle Organisation der Werke ins Zentrum setzt“.

Unter diesen Auspizien untersucht Smyčka die „christliche Deutungsfolie“, die für Josef Mühlbergers Texte aus den 1950er-Jahren bis hin zu BergersDorf von Herma Kennel (2003), aber auch für große Teile der tschechischen Literatur zum Thema eminent wichtig sei – etwa für Werke von Jaroslav Durych, Vladimír Körner, Václav Vokolek, František Hobizal oder Vera Fojtová, auch noch für Peníze od Hitlera von Radka Denemarková. Ferner analysiert er die „mythopoetischen Gemengelagen“ in den Gedichten von Radek Fridrich und den Novellen von Martin Fibiger sowie den durch die Rede von „Europas dunkler Zeit“ grundierten Roman Vertreibung aus dem Paradies der Kindheit von Emil Karl Stöhr (2004), in dem die „Unschuld der Hauptfigur bei allen Umständen“ aus den Regeln der gewählten Gattung Schelmen- oder Pikaroroman folge.

Indem die Erinnerungen an die Vertreibung den Konventionen einer Gattung untergeordnet werden, werden sie immer mehr aus den konkreten historischen Kontexten und Situationen herausgelöst und als ein geformtes und den traditionellen narrativen Mustern angepasstes Wissen weitergegeben.

Das zeigt sich bestens an der Darstellung der Vertreibung in deutschen und tschechischen Krimis, etwa in Endlager von Claus Kappl oder Voralpenphönix von Robert Domes, in den Serien Rapl und Vzteklina oder im Alois Nebel-Comic und dessen Verfilmung. Anspruchsvollere Erinnerungsstrategien zielten auf eine „immer schon fragmentarische, in sich brüchige und ambivalente Darstellung der Nachkriegsereignisse“. Dies erläutert der Verfasser anhand der Bücher von Gerold Tietz – Böhmische Fuge (1997), Böhmisches Richtfest (2007) und Die böhmischen Grätschen (2009) – sowie am avantgardistischen Roman Die Unvollendeten von Reinhard Jirgl (2003). Für diese Texte sei konstitutiv, dass ihre Erinnerungsstrategie nicht primär auf der Ebene des Subjekts beruht, sondern vielmehr auf ihrer fragmentarischen Erzählweise sowie ihrer orthografischen und typografischen Gestaltung – was die Leser dazu nötige, Abstand von den geschichtlichen Ereignissen zu nehmen.

Die literarische Erinnerungsarbeit von Tietz und Jirgl entspreche „der Arbeit eines Psychoanalytikers an den kollektiven Traumata“, also an Konstellationen, die die zugängliche Erinnerung mit einem unzugänglich bleibenden Horizont verbinden. Die Zwiespältigkeit des Trauma-Konzepts in der Literatur exemplifiziert Smyčka an der Lyrik von Jenny Schon und Joachim Süss (Postelberg-Kindeskinder, 2011), an Erinnerungsromanen von Pavel Kohout (Die lange Welle hinterm Kiel, 2000), Emma Braslavsky (Aus dem Sinn, 2007), Jan Tichý (Třicet hodin mezi psem a vlkem, 2007), Corinna Antelmann (Hinter die Zeit, 2015) und anderen sowie, sehr eindrucksvoll, an den schockierenden Foto-Projekten von Lukáš Houdek. Die Erinnerungsstrategien in neueren Generationenromanen, die sich überwiegend mit den Memoria-Konstellationen von drei Generationen und allgemein mit den totalitären Regimen des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen, entgehen Smyčka nicht; neben bereits genannten Werken werden in diesem Abschnitt auch Angelika Overaths Nahe Tage (2005), Kateřina Tučkovás Vyhnání Gerty Schnirch (2009) und Jakuba Katalpas Němci / Die Deutschen (2012/2015) unter die kritische Lupe genommen. Das Potential von Familienbeziehungen, Körpern und auch Landschaften, Erinnerungen an die Vertreibung zu vermitteln, wird detailliert herausgearbeitet.

Die Landschaften der ehemaligen ‚Sudeten‘ funktionieren erst dann als ein großer Generator von Erinnerungen, wenn die zahlreichen Spuren der dem Vergessen anheimgegebenen Bedeutungen mit dem in die tiefen Schichten der Semiosphäre ausgelagerten Speichergedächtnis verbunden werden. Dabei spielen auch Medien wie Bilder und Literatur eine entscheidende Rolle.

Besonders die (hier auch zwischen deutschsprachiger und tschechischer Literatur) ganz unterschiedlichen Semantisierungen der Grenzregionen sind extrem aufschlussreich: Smyčka stellt fest, dass es keineswegs nur Darstellungen des Verfalls jeglicher Normen, Werte, Traditionen und Sozialstrukturen gibt – oft mithilfe von Motiven wie schauerliche Friedhöfe, verfallene Kirchen, verschüttete Dörfer oder Landschaften im Nebel –, sondern dass manche Werke auch so etwas wie göttliche Transzendenz als Möglichkeit einer (Er-)Lösung anbieten. Wichtig ist ein durchgängiger Aspekt all dieser Analysen: Die literarischen Semantisierungen können nicht mit einer bestimmten nationalen oder ideologisch eindeutigen Erinnerungskultur oder -politik in Verbindung gebracht werden – Smyčka schlägt stattdessen eine poetologische Kategorisierung der verschiedenen Auffassungen der unmittelbaren Nachkriegsverhältnisse vor, „die quer zu den festen politischen und ideologischen Rahmen der Vergangenheitsdiskurse verläuft“. Besonders darin besteht, auch weil er das sehr überzeugend tut, der große Gewinn, der sich aus seiner Studie ziehen lässt.

Weil offenkundig ist, dass die Erinnerungsarbeit „spätestens seit dem Hervortreten des Themas im tschechischen Exil und seit der Aufhebung des Eisernen Vorhangs“ interkulturell vonstatten geht, gibt es noch ein drittes Kapitel, das dem wechselseitigen Übersetzen gilt. Ungefähr die Hälfte aller literarischen Texte zum Thema, die nach 2000 auf Deutsch und auf Tschechisch erschien, wurde in die jeweils andere Sprache übertragen. Dass Übersetzungen immer auch Bearbeitungen, oft Umorientierungen des Ausgangstextes sind und keine wortwörtlichen Imitate sein können, wird an einer Fülle von Beispielen konkret vorgeführt – vom offensichtlich politisch motivierten Abweichen von der Autorintention wie bei der tschechischen Übersetzung (2015) von Erika Härtl-Coccolinis Prag Časlavska 15 (2008) bis zu subtilen Anpassungen an den vermuteten Lesergeschmack wie bei der Übertragung von Barbara von Wulffens Erinnerungsbuch Urnen voller Honig (1989) ins Tschechische (2001). Ein äußerst lehrreiches Beispiel stellt die ausführlich analysierte Szene der „misshandelten Frau“ in Guido Knopps Dokumentarfilm Die große Flucht (2001) dar, eine Filmsequenz, die eine extrem widersprüchliche „Wucherung von Deutungen“ anregte. Auch die unterschiedlichen Nuancen bei der Verschränkung des Themas Vertreibung mit den Themen Holocaust und Stalinismus werden angesprochen.

Das Fazit seiner lesenswerten Studie formuliert der Verfasser so: „Auf der einen Seite wurde die Vertreibung seit der Jahrtausendwende in der deutschen und tschechischen Erinnerungskultur offener dargestellt und wurde deutlich mehr rezipiert als je zuvor, auf der anderen Seite wird der zunehmende Abstand zu den Ereignissen jedoch immer spürbarer. […] Die Erinnerung verschränkt sich mit dem Vergessen und diese Zwiespältigkeit prägt die zeitgenössischen Erinnerungskulturen, in deren Mitte die Kriegs- und Nachkriegsereignisse stehen“. Die Frage, ob der unübersehbare „Erinnerungsboom“ dazu führen wird, ehemalige und neue Bewohner Böhmens und Mährens in ein dauerhaftes und produktives Gespräch zu bringen, muss offen bleiben. Václav Smyčka hat seinen Beitrag dazu geleistet.

Titelbild

Václav Smyčka: Das Gedächtnis der Vertreibung. Interkulturelle Perspektiven auf deutsche und tschechische Gegenwartsliteratur und Erinnerungskulturen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2019.
256 Seiten, 34,99 EUR.
ISBN-13: 9783837643862

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