Mehr als bloße Traumrequisiten
Über Lothar Müllers „Freuds Dinge. Der Diwan, die Apollokerzen und die Seele im technischen Zeitalter“
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Meine Welt beginnt bei den Dingen“: Dieser Satz stammt von Rainer Maria Rilke, hätte aber auch von Sigmund Freud sein können. Schließlich sind es immer wieder Gegenstände und unser Umgang mit ihnen, woran sich die Deutungen der Psychoanalyse entzünden. Egal, ob sich jemand wie Goethes Faust fetischistisch nach dem Strumpfband seiner Liebsten verzehrt oder einfach nur seine Lieblingstasse beim Frühstück – scheinbar versehentlich – fallen lässt: Häufig sind es gerade alltägliche Dinge, die die Souveränität unseres Ichs in Frage stellen, glaubte der Wiener Nervenarzt.
Von den Requisiten, die uns in Träumen begegnen, ganz zu schweigen. Auch wenn Freuds Übersetzungsschema für Traumsymbole reichlich trivial anmutet: Längliche Dinge sollen demnach für das männliche Geschlecht stehen, alles Runde oder Hohle für das weibliche. Dennoch faszinieren die Träume von Freuds Patienten auch heute noch – wobei sie uns jedoch nicht nur etwas über das Unbewusste dieser Menschen verraten, sondern ebenso über die Epoche des Fin de Siècle. Man denke nur an den Traum einer braven Wiener Ehefrau, die eine Kerze in einen Leuchter zu stecken versuchte. Nur leider wollte das verflixte Ding nicht stehenbleiben, weil es „gebrochen“ war. Weshalb die Gattin auch nicht verantwortlich für das Malheur sei, wie jemand ihr im Traum versicherte.
Es war natürlich ein Leichtes für Freud, diesen Traum auf die Impotenz des Ehemannes zu beziehen, an der die Ehefrau keine Schuld haben wollte. Aber was wusste seine Patientin selbst über die verborgene Bedeutung der Kerze? Tatsächlich eine ganze Menge, wie sich im Lauf der Analyse herausstellte. Schließlich handelte es sich um sogenannte „Apollokerzen“. Und wie gut sich diese von Frauen bei Bedarf zweckentfremden ließen, davon kündeten seinerzeit zotige Trinklieder von Studenten, die besagte Gattin sogar auswendig kannte. Auch wenn sie ihrem Arzt treuherzig versicherte, erst ihr Mann habe ihr erklärt, worum es bei diesen Gassenhauern eigentlich ging.
Wer mehr über diesen längst vergessenen Verkaufsschlager im Wien der Jahrhundertwende wissen will, sollte zu Lothar Müllers Buch über „Freuds Dinge“ greifen. Die reich illustrierte Studie des Literaturkritikers ist elegant geschrieben und bietet eine ganze Schatzkammer voller Entdeckungen. In fünf kenntnisreichen Großkapiteln geht Lothar Müller quasi den umgekehrten Weg wie der Begründer der Psychoanalyse: So fragte Freud zum Beispiel nach der geheimen Bedeutung des „vorschiebbaren“ Bleistifts, den einer seiner Patienten verloren hatte – Müller dagegen verortet diesen Vorläufer heutiger Druckbleistifte wieder in der damaligen bürgerlichen Lebens- und Warenwelt.
Er macht so ein ums andere Mal sichtbar, wie damals neue Produkte oder technische Innovationen ins Unbewusste der Zeitgenossen einwanderten. Wie etwa der elektrisch betriebene „rollende Trottoir“, der im Wien der Jahrhundertwende einem staunenden Publikum vorgeführt wurde. Kurz darauf fand sich Freud im Traum höchstselbst auf diesem Ahnherrn heutiger Rolltreppen wieder, zusammen mit seinem früheren Universitätslehrer – und deutete es als Sinnbild seiner damals auf der Stelle stehenden akademischen Karriere.
Gebrauchsgegenstände dienten dem Analytiker jedoch ebenso als Quelle für Metaphern oder inspirierten ihn dazu, seine Theorien weiterzuentwickeln. Wegen eines Kinderspielzeugs, einer simplen Holzspule, die ein Kind voller Lust immer wieder wegwarf und zurückholte, stürzte Freud sogar Grundpfeiler seiner Theorie um. Andere Gegenstände halfen ihm dagegen als „Mitarbeiter“ bei der Therapie seiner Patienten. Das betrifft vor allem die von Freud obsessiv gesammelten antiken Kleinplastiken. Unzählige Götterfiguren bevölkerten in der Wiener Berggasse 19 Vitrinen und seinen Schreibtisch und hatten einen stimulierenden Effekt auf den Gesprächsfluss seiner Patienten. Einen solchen hatte freilich auch das dämmrige Interieur von Freuds Ordination, mit all den Teppichen und natürlich auch der berüchtigten Couch. Müllers Kapitel über das „berühmteste Möbelstück der Welt“ ist wohl sogar das Glanzstück seines wunderbaren Buches.
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