Ein Sammelband ist noch lange keine intellektuelle Biographie
Gangolf Hübingers Aufsätze der letzten dreißig Jahre über Max Weber
Von Dirk Kaesler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIndem er das Diktum Schopenhauers nutzte, demzufolge die Kausalität kein Fiaker sei, den man beliebig halten lassen könne, postulierte Max Weber, dass die absolute Ethik der christlichen Bergpredigt ebenfalls kein Fiaker sei. Sie sei eine ernstere Sache, „als die glauben, die diese Gebote heute gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen kann, um nach Befinden ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn, wenn etwas anderes als Trivialitäten herauskommen soll.“
Genau so sollte mit der Bezeichnung „Intellektuelle Biographie“ umgegangen werden. Sie ist kein Transportmittel für noch so sorgsam ausgewählte Aufsätze der Jahre 1988 bis 2018, die der im März 2016 emeritierte Historiker Gangolf Hübinger der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit dem hier zu besprechenden Sammelband Max Weber. Stationen und Impulse einer intellektuellen Biografie soeben in Webers Hausverlag vorlegt.
Viele von uns – den Rezensenten inbegriffen (Kaesler 1997) – kennen das Bestreben, gegen Ende der aktiven Schaffenszeit diverse, eigene, verstreut publizierte Texte zwischen zwei Buchdeckeln für die (vermeintliche) Ewigkeit in den Bibliotheken zu sammeln. Das ist zweifellos verdienstvoll, schafft ein solches Buch doch die erfreuliche Gelegenheit, den Folder mit den Aufsätzen des Kollegen zu leeren und an deren Stelle ein Buch ins Regal zu stellen. Allein, eine solche Kollektion ist keine intellektuelle Biographie. Ein Sammelband ist ein Sammelband ist ein Sammelband.
Es ist hier nicht der Ort, über das Genre der Biographie im Allgemeinen und das der „intellektuellen Biographie“ im Besonderen zu verhandeln. Als Autor einer Biographie Max Webers (Kaesler 2014) – die Hübinger im hier vorgelegten Band vergessen zu haben scheint, obwohl er sie noch im April 2014 für die NZZ ausführlich rezensierte, indem er sie als „roman vrai“ charakterisierte, was zweifellos kritisch gemeint war, den Autor jedoch freute – gestatte ich mir wenige Bemerkungen dazu.
Wenn man alle bisher erschienenen Bücher mustert, die mit dem Anspruch einer Biographie Max Webers erschienen sind, so erkenne ich mehr Scheitern als Gelingen. Zu den „Gelingern“ – wenn auch in jeweils höchst unterschiedlicher Weise – zähle ich die Biographien von Marianne Weber (1926), Guenther Roth (2001), Joachim Radkau (2005; auch diese Arbeit nennt Hübinger erstaunlicherweise nicht), Jürgen Kaube (2014) und meine eigene. Zu den – ebenfalls in höchst unterschiedlicher Weise – „Gescheiterten“ zähle ich die Arbeiten von Reinhard Bendix (1960), Eduard Baumgarten (1964), Hans Norbert Fügen (1985), John Patrick Diggins (1996), Michael Sukale (2002) und Fritz Ringer (2004).
Hübingers Buch, das mit diesem pompösen Titel auf den Plan des bereits reichhaltig mit Spreu und Weizen bestellten Feldes der Max Weber-Forschung tritt, ist keine Biographie. Schon gar nicht eine „intellektuelle Biographie“. Ein guter Biograph sollte, nach einhelliger Einschätzung, das Leben und die geistige, wissenschaftliche, künstlerische, politische Entwicklung der beschriebenen Person nie nur anhand seiner chronologischen Ereignisse addieren, er – oder sie – sollte sie als eigene Erzählung organisieren. „Mal raffend, mal vorwegnehmend, mal zurückblendend“, wie Marc Reichwein es in seiner sehr kritischen Rezension der Habermas-Biographie von Stefan Müller-Doohm erläuterte (2014). Es besteht die berechtigte Erwartung der Käufer- und (hoffentlich) Leserschaft, dass eine (intellektuelle) Biographie eine Haltung zu seinem „Objekt“ – besser: Subjekt – einnimmt. Man denke nur an den überbordenden Bestand der Bismarck- und Hitler-Biographien.
Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den inzwischen jahrzehntelangen Debatten über „intellectual history“, „cultural history“, „Kulturgeschichte“, „Geistesgeschichte“ und „Ideengeschichte“ hätte den Historiker Hübinger zu größerer Bescheidenheit bei den „Stationen und Impulsen“ seiner „intellektuellen Biographie“ führen sollen. Immer dann, wenn heutige Biographen die von ihnen beschriebene Person aus ihrer Zeit heraus verstehen wollen und ihr Gerechtigkeit widerfahren lassen wollen, ist diese Vorsicht besonders angebracht. Dass dabei ein weniger „akademischer“, sondern eher erzählerischer Schreibstil gerade auch für eine nicht-wissenschaftliche Leserschaft von Nutzen sein kann, sei noch ergänzend hinzugefügt. Um wenigstens ein einziges Beispiel zu nennen, bei dem die hier nur angedeuteten Idealvorstellungen einer „intellektuellen Biographie“ aus Sicht des Rezensenten mustergültig erfüllt sind, sei auf die Arbeit von Wiebke-Marie Stock über den Begründer des Dadaismus, Hugo Ball, hingewiesen (Wiebke-Marie Stock 2012).
Wenn also Titel und Untertitel des Buches von Gangolf Hübinger der Rosstäuscherei ziemlich nahekommen, stellt sich die Frage, was der Band anstelle einer intellektuellen Biographie tatsächlich bietet. Dass die insgesamt 21 Aufsätze, von denen vier bislang noch nicht gedruckt vorlagen alle mit Max Weber zu tun haben, ist zu erwarten, wenn auch die Nähe zu Weber zuweilen eine eher periphere ist. Die Beiträge „Das Jahr 1913 in Geschichte und Gegenwart“ (2013), „Der deutsche Antisemitismus im frühen 20. Jahrhundert“ (2017), „‚Mitteleuropa‘ und Polen. Deutsche Ordnungsvorstellungen 1915-1917“ (2015), „‚Sozialmoralisches Milieu‘ als Grundbegriff der deutschen Geschichte“ (2008) zeugen mehr von der Breite der wissenschaftlichen Interessen Hübingers als von seiner Konzentration auf Leben, Werk und Wirkung Max Webers.
Sammelbände zu besprechen, stellt immer eine besondere Herausforderung dar: Geht man auf alle Texte ein, kommt nicht mehr als eine häppchenartige Aufzählung von Themen heraus; konzentriert man sich auf ausgewählte Texte, muss man sich den Vorwurf gefallen lassen, zu selektiv vorgegangen und dem Reichtum der Themen nicht gerecht geworden zu sein. Selbst der Herausgeber seiner eigenen Sammlung scheint mit diesem Problem zu kämpfen gehabt zu haben, wie seine „Einführung“ beweist. Um die versammelten Texte unter eine Art von thematischer Klammer zu zwingen, wählt er den „Zwillingsbegriff der ‚Intellektualisierung‘“, wobei nicht ganz deutlich wird, was der „Zwilling“ von „Intellektualisierung“ ist: die „Verwissenschaftlichung“? Und die Mutter der Zwillinge ist dann die „Rationalisierung“? Jedenfalls fragt der Herausgeber seiner eigenen Schriften: „Welche Impulse der intellektualisierten und verwissenschaftlichen ‚Wirklichkeit‘, die ihn umgab, hat Weber in sich aufgenommen? Wie hat er selbst an der Intellektualisierung und Verwissenschaftlichung der Welt gearbeitet? Dieser Doppelfrage geht das Buch in 21 Kapiteln exemplarisch nach.“
Dass Hübinger gerade diese thematische Klammer für seine Sammlung wählt, war zu erwarten. Als Meisterschüler des verstorbenen Nestors der historischen Auseinandersetzung mit Weber, Wolfgang J. Mommsen (1930-2004), bewegt er sich seit Jahrzehnten, beginnend mit seiner Dissertation über Georg Gottfried Gervinus (Hübinger 1984) und seiner Habilitationsschrift über den Kulturprotestantismus (Hübinger 1994) im Themenkosmos Intellektuelle, Gelehrte, Kulturprotestantismus, insbesondere im Deutschen Kaiserreich (Hübinger /Mommsen, Hrsg. 1993; Hübinger 2006). Mit diesem thematischen Programm wird man auch Hübingers Rolle im Herausgebergremium der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) einordnen können, die er als Nachfolger Mommsens seit 2004 wahrnimmt. Insofern ist es auch nur konsequent, dass er gleich zwei seiner Texte aus der MWG an den Anfang seiner Sammlung stellt.
Da diese beiden Texte, „Jugend, Studium, Militär“ (Kap. 1) und „Der Privatgelehrte“ (Kap. 2) am nächsten an dem dran sind, was man bei einer „intellektuellen Biographie“ erwarten darf, sei knapp darauf eingegangen. Um damit den Wert der gesamten Sammlung einigermaßen einzuordnen.
Eingeleitet wird das erste Kapitel mit der Charakterisierung der frühen Briefe Max Webers an seine Familie: Sie dokumentieren, so Hübinger, „eindrucksvoll die soziale und kulturelle Prägung in den Mustern einer großbürgerlichen Lebensführung und eines humanistischen Bildungsweges“. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit dem Satz: „Max Weber wuchs in einem wohlhabenden bildungsbürgerlichen Umfeld auf, liberal und protestantisch weltoffen, dessen kulturellen und politischen Erfahrungsreichtum er sich aktiv und selbstbewusst aneignete.“ Die zwanzig Seiten zwischen diesen Sätzen sind gefüllt mit einer Melange aus buchhalterisch aufgezählten Stationen und großzügig verteilten Etiketten („freisinniger Vater“, „sozialprotestantisch gesinnte Mutter“). Für den Rezensenten immer wieder irritierend sind der durchgehende Gebrauch des vertraulichen „Max“ und die eigenartigen Metaphern anscheinend osmotischer Einwirkungen auf diesen: „Über den Familienzweig von Helene Weber, geb. Fallenstein, nahm Max von Jugend an die Werthaltungen des südwestdeutschen Liberalismus und Kulturprotestantismus in sich auf.“ Solche ideengeschichtlichen Konstruktionen, bei denen nicht von konkreten Menschen sondern von „Strömungen“ die Rede ist, verwundert den Soziologen, der mit Formulierungen wie dieser wenig anzufangen weiß: „Durch das 20. Jahrhundert zogen sich große marxistische, darwinistische, auch nietzscheanische Denkbewegungen.“
Auch das zweite Kapitel bleibt diesem Stil treu: „Nach der Dissertation ‚Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter‘ (1889) und der Habilitation für Handelsrecht und Römisches Staats- und Privatrecht (1892) trat Weber im November 1893 eine besoldete außerordentliche Professur an der Juristischen Fakultät in Berlin an.“ Nach anschließender nüchterner Protokollierung der Stationen Heirat, Rufe nach Freiburg im Breisgau und Heidelberg und der psychosomatischen Erkrankung Max Webers ab 1898 handelt der Text von der Phase des Heidelberger Privatgelehrten, der viel auf Reisen ist. Auch in diesen Passagen ist alles richtig, aber es bietet weder etwas Neues noch vom Autor Interpretiertes. Alles wird notiert und rekapituliert, nichts wird gedeutet und in persönliche Befindlichkeiten der aufgezählten Personen übersetzt.
Und in dieses nüchterne Registrieren geraten dann vollkommen unvermittelt – unter der Überschrift. „Erfahren und Erforschen. Die Reise durch die Vereinigten Staaten von Amerika“ – Sätze wie dieser: „Am 30. September 1904 schlossen sich die Tore und sperrten die Menschen in das eiserne Gehäuse der Hörigkeit. Denn der Kapitalismus hatte sich auch der grenzenlos scheinenden Freiheit der nordamerikanischen Weiten bemächtigt.“ Nur wer die Reisebriefe Max und Marianne Webers von ihrer Reise durch die USA kennt, wird mit diesem Satz etwas anfangen können.
Bei solchen Stellen zeigt sich ein weiteres Charakteristikum der Aufsatzsammlung: Für jedes weiterführende Interesse wird auf die MWG und die jeweiligen Bände verwiesen. Eine Leserschaft, die nicht gleich hinter sich im Regal darauf zugreifen kann – und wer kann das schon? – wird nicht erfahren, was es mit dem „eisernen Gehäuse“ in Nordamerika auf sich hat. – Übrigens sehr bedauerlich, dass Hübinger hier indirekt auf die Falschübersetzung von Talcott Parsons zurückgreift: Bei Weber ist es nicht Eisen, sondern Stahl, aus dem das Gehäuse der Hörigkeit – durch Kapitalismus, Bürokratie, Rationalisierung – gebildet wird. Und das macht einen Unterschied, um den nicht nur Max Weber Bescheid wusste: Eisen rostet, Stahl niemals!
Insgesamt erweist sich dieser Umstand als durchgehende Problematik: Schon im ersten Kapitel weist Hübinger beispielsweise auf den Glückwunschbrief Max Webers zur Konfirmation seines jüngeren Bruders Alfred hin, verweist dabei zur Information über dessen Inhalt jedoch nur auf „MWG II/I, Seite 406“. Und an der angeführten Stelle über die sich schließenden nordamerikanischen Tore ist es für ein wirkliches Verständnis unumgänglich, im von Hübinger genannten Buch von Lawrence A. Scaff (2011) über die Amerika-Reise nachzuschlagen. Oder – um die Vorgehensweise Hübingers aufzunehmen – bei Kaesler (2014) auf den Seiten 591 bis 595.
Noch viel extremer wird diese Vorgehensweise in den langen Passagen über die Phase des Privatgelehrten Max Weber in den Jahren 1903 bis 1918. Durchgehend wird auf Briefe verwiesen, die dieser emsige Korrespondent an Familienangehörige, Freunde und Kollegen schrieb, in den einschlägigen MWG-Bänden mit Seitenangaben. Um wirklich nachvollziehen zu können, worauf Hübinger aufmerksam machen möchte, bedarf es der jeweiligen Bände. Sollte dieser Sammelband des Mitherausgebers der MWG vielleicht eine Anregung zum Erwerb der extrem teuren Bände sein? Erst nach einem längeren – und sehr lesenswerten – Einschub über „Privatgelehrtentum als Lebensform“ findet Hübinger wieder zu Max Weber zurück, indem er schreibt: „In welchen Konstellationen aus sozialer Lage, kulturellen Milieus und persönlichem Lebensstil auch immer, die Privatgelehrten haben ihre Spur durch die europäische Kulturgeschichte der Moderne gezogen. Max Weber gehörte auf seine rigide intellektualistische Art dazu.“
Das Strickmuster wird deutlich: Man nehme 21 Texte aus sehr diversen Kontexten (Einleitungen für die MWG, Tagungsvorträge, Festschriften, Handbücher), packe vorne und hinten ein paar Brückensätze ein, die den Anschein erwecken, es ginge um einen durchkomponierten Text, der sich durchgehend mit Max Weber befasst. Vieles davon ist lesenswert, klug und belehrend, nichts ist „falsch“. Einzig die angeberische Behauptung, es handele sich um eine „intellektuelle Biographie“.
Erwähnte Literatur (jeweils die Erstausgaben)
Eduard Baumgarten: Max Weber. Werk und Person. Dokumente, ausgewählt und kommentiert. Tübingen 1964.
Reinhard Bendix: Max Weber. An Intellectual Portrait. Garden City, NY 1960.
John Patrick Diggins: Max Weber. Politics and the Spirit of Tragedy. New York 1996.
Hans Norbert Fügen: Max Weber mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1985.
Gangolf Hübinger: Georg Gottfried Gervinus. Historisches Urteil und Politische Kritik. Göttingen 1984.
Ders., Wolfgang J. Mommsen, Hrsg.: Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich. Frankfurt am Main 1993.
Ders.: Kulturprotestantismus und Politik. Zum Verhältnis von Liberalismus und Protestantismus im wilhelminischen Deutschland. Tübingen 1994.
Ders.: Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte. Göttingen 2006.
Dirk Kaesler: Soziologie als Berufung. Bausteine einer selbstbewussten Soziologie. Opladen 1997.
Ders.: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. München 2014.
Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Berlin 2014.
Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Eine Biographie. Berlin 2014.
Joachim Radkau: Max Weber. Die Leidenschaft des Denkens. München 2005.
Marc Reichwein: Wie schreibt man eine intellektuelle Biografie? – DIE WELT vom 16.07.2014.
Fritz Ringer: Max Weber. An Intellectual Biography. Chicago 2004.
Guenther Roth: Max Webers deutsch-englische Familiengeschichte, mit Briefen und Dokumenten. Tübingen 2001.
Lawrence A. Scaff: Max Weber in America. Princeton/Woodstock 2011.
Wiebke-Marie Stock: Denkumsturz Hugo Ball. Eine intellektuelle Biografie. Göttingen 2012.
Michael Sukale: Max Weber. Leidenschaft und Disziplin. Leben, Werk, Zeitgenossen. Tübingen 2002.
Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926.
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