Leben als Streben nach Weisheit

Philosophieren mit Gernot Böhme – (fast) kinderleicht!

Von Wolfgang HerbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Herbert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gleich vorab: in diesem Büchlein ist beides vereint – Theorie und Praxis. Häufig bewegt sich die universitäre Philosophie ja weitab von der Lebensführung und lebensberatende Praktiker sind der akademischen Philosophie gegenüber gerne kritisch bis feindlich eingestellt. Gernot Böhme ist in beiden Bereichen zuhause und bewandert. Seine Schrift Philosophieren. Für meine Enkelkinder ist keine systematische oder historisch-diachrone Einführung in die Philosophie, sondern eher eine essayistische Etüdensammlung zur Einübung eines Denkens und Lebens nach philosophischer Art. Es zeigt uns facettenreich, was Philosophie in unseren Zeiten leisten kann.

Die Adressaten des Buches sind, wie der Untertitel anzeigt, Böhmes Enkelkinder, aber die sollten schon mal kurz vor dem Abitur stehen, wenn sie dieses Buch lesen wollen. Es ist sprachlich leicht verständlich, aber in der Terminologie und inhaltlich anspruchsvoll. Die Enkel – und wohl auch deren ganze Generation – werden freundlich mit „Hallo ihr Lieben“ angesprochen und dieser persönliche und kolloquiale Ton hält sich durch. So lautet denn der Titel des ersten Kapitels: „Opa, was machst du eigentlich?“

Philosophie als Beruf(ung) erschöpfe sich nicht in Erwerbsarbeit, sondern sei eine Lebensform, wie der Autor damit klar macht, dass er schon lange in Pension, dennoch in seinem Selbstverständnis immer noch Philosoph sei. Er geht wie häufig üblich auf die Wortbedeutung im Griechischen zurück und erläutert das „philein“ = „lieben“ im erotischen Sinne und die Philosophie demnach als „Streben nach Weisheit“. Seine Enkel haben hoffentlich das griechische Alphabet gelernt, sonst bleiben einige Termini für sie nicht entschlüsselbar, da anfänglich zwar die lateinische Umschrift mitgegeben wird, in vielen folgenden Fällen bei griechischen Termini nur die griechische Lesung gedruckt steht. Weisheit ist wiederum nicht mit Reife oder Alter gleichzusetzen, vielmehr im antiken Sinne als Tugend, die zugleich eine gewisse Überlegenheit impliziert. Die alten Philosophen verstanden ihr Denken aber auch als Einladung an jede(n) und über den Weg der Pädagogik und viel später der allgemeinen Schulbildung ist sie weitgehend bei allen angekommen. Der Mensch als vernunftbegabtes Tier bedient sich eben dieser Vernunft oder des Geistes, um den hinfällig-ephemeren, anflutenden Fährnissen des Lebens eine Instanz zu deren Bewältigung entgegenzuhalten. Die Leistung, die dabei erbracht wurde, bestand aus einer Distanznahme, vorerst in der Instrumentalisierung des Körpers. Heute sei es trivial, dass der Körper als ein Instrument betrachtet wird, das fit, schön und funktionstüchtig erhalten wird, notfalls durch technisch-medizinische Mittel.

Die nächste sokratische Zumutung, nämlich aus Wissen zu handeln, war zu seiner Zeit ungeheuerlich, ist gegenwärtig aber gleichfalls (mehr oder weniger) Allgemeingut geworden. Gewissen zu haben, damit verantwortlich zu handeln, wird uns heute per Gesetz als Mündigkeit zugetraut. Sokrates noch hatte auf seine innere Stimme, den daimon gelauscht. Die Beherrschung der Affekte, die philosophisch eingefordert wurde, ist heute durch deren Abspaltung weitgehend realisiert. Der homerische Mensch erlebte starke Gefühle noch als von außen hereinbrechende Mächte, die es zu domestizieren galt. Der Wille zur Wahrheit gehörte ebenso zur philosophischen Lebensführung und verselbstständigte sich in der Delegierung des „wahren Wissens“ an Spezialisten und Experten, die dieses aber nur in hypothetischer Manier verwalten. Oben genannte Ansprüche sind laut Böhme soweit „trivialisiert“ worden, dass sie nicht mehr ausreichen eine philosophische Lebensführung zu bestimmen. Diese bestehe vielmehr im Bemühen, gut Mensch zu sein, wobei das „gut“ nicht adjektivisch zu verstehen sei. Vielleicht könnten wir es als „ganz Mensch“ zu sein, umformulieren.

Im Erzählton und in erster Person berichtet der Autor dann von seinem Werdegang. Interesse für die Philosophie wurde für ihn im Religionsunterricht geweckt, in dem ein liberaler Pastor die letzten Dinge in philosophischem Lichte zur Diskussion stellte. Die Religion arbeitete er aber während seinem Studium der Physik ab. Die Lektüre Platons gab ihm in der Person des Sokrates ein Vorbild für Philosophie als Lebensweise. Es fiel ihm auf und imponierte ihm, dass nicht ein bestimmtes Wissen, sondern die Reflektiertheit die Haltung war, die Sokrates ausmachte, dessen wohl berühmtestes Bonmot er frei nach dem Orakel von Delphi so wiedergibt: „Ich bin mir desssen bewusst, dass ich weder viel noch wenig weiß.“

Böhme beginnt in seiner Studentenzeit nachgerade existentiell mit philosophischer Attitüde zu experimentieren. Er legt uns das offen wie Seiten aus einem intimen Tagebuch – und ein solches hat er bis zur von ihm selbst so genannten „Lebensverdoppelung“ hin auch geführt. Er zelebriert Reflektiertheit bis zum Exzess. Abgehobenheit und Distanziertheit versucht er dann mit einer anderen Übung Abhilfe zu schaffen: schlicht da zu sein. Eine weitere Übung war das sorgfältige Anschauen, bis ihm auffiel, dass bei einem Fixieren und inneren Beschreiben das Ephemere, Atmosphärische verlorenging. Ganz bei den Dingen zu sein, so stellte sich heraus, wurde bei einem unscharfen, trüben, passiven Blick (Böhme nennt ihn gar einen „blöden“ Blick), möglich. Diese Einsicht goss er in die Formel: „Es kommt nicht darauf an, das Dasein zum Bewusstsein zu bringen, sondern vielmehr darauf, das Bewusstsein zum da sein.“ An diesen Beispielen sehen wir schon, wie viel eher es Böhme um eine philosophische Lebensweise denn um irgendein Spezialwissen geht.

Bei der Skizzierung der gegenwärtigen Lebensumstände, die gesellschaftskritischen Charakter annimmt, rekurriert der Autor wieder auf seine persönlich erfahrene Lebenswelt. Die kulturelle Wende durch die Studentenrevolution hatte er als 30-Jähriger erlebt, davor war die deutsche Gesellschaft von Wiederaufbau, Ost-West-Konfrontation, politischer Vorsicht (Delegation an Spezialisten), Rudimenten einer Standesgesellschaft (Arbeiter vs. Bildungsbürger), agrarischer Prägung und gemeinschaftlicher Orientierung bestimmt. Obgleich die philosophische Lebensform universalisierbar ist, versteht sich Böhme als Späteuropäer und Angehöriger der westlichen Zivilisation.

Die heute herrschende (invasive) technische Zivilisation zeichnet sich dadurch aus, dass alle Lebensvollzüge von ihr betroffen sind: Kommunikation, Verkehr, Arbeit, Wahrnehmung, Essen, Sexualität etc. Alles wird auf ein Ziel ausgerichtet, das möglichst rational und effizient erreicht werden soll. Essen kann als gesellschaftliches, kulinarisches Ereignis gefeiert werden. Am anderen Ende des Spektrums ist es reine Nahrstoffzufuhr (etwa bei medizinischer Indikation) oder „funktional“ wie bei Astronauten- oder Hochleistungssportlernahrung. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft. Auch hier hat die Leistung als Messlatte alle Lebensbereiche erfasst. Ursprünglich auf bestimmte Sportarten und die Arbeit beschränkt, wird heute alles via Rankings und nach Output-Kriterien bewertet. Kontrollieren, Protokollieren und Beobachten (Monitoring: von Böhme mehrfach Monotoring [!] geschrieben) sind überall im Vormarsch und führen nicht selten zum Gegenteil dessen, was angeblich angestrebt wird, nämlich Qualitätsverbesserung. Im medizinischen Bereich (Pflege) oder der Erziehung (Universität) werden damit ursprünglich von zwischenmenschlich intensiver Zuwendung getragene Tätigkeiten bürokratisiert und auf „Produktivität“ nach ökonomischen Kriterien hingetrimmt.

Konsumgesellschaft ist das Stichwort für eine weitere Lebensbedingung, die alle Sphären kolonisiert. Ursprünglich als Notwendigkeitskonsum zur Deckung der Grundbedürfnisse durch die kapitalistische Wirtschaftsweise angetrieben, ist er soweit gediehen, dass ein Sättigungsgrad erreicht wurde, der eine neue Form des Konsums verlangte, um das kapitalistische Rad in Bewegung zu halten. Mehr Lohn und Verbesserung der Arbeitsbedingungen (Freizeit) war durchaus in diesem Sinne und ermöglichte Luxuskonsum, der gleichfalls Allgemeingut wurde. Damit wurden Formen der Inszenierung zentral (Pierre Bourdieu spricht von Distinktion, von Böhme ein paar Seiten vorher mit Dinstingtion [!] wiedergegeben). Konsum dient zur Repräsentation, Selbstdarstellung, Verschönerung und nicht dem schnöden Gebrauch oder Verzehr. Begehrnisse werden geweckt, wie etwa das Gesehen-Sein-Wollen, das heute mit dem Internet neue Dimensionen, ja grenzenlose Dimensionen erreicht hat. Der Steigerung ist kein Ende gesetzt (das gilt im übrigen auch im Falle der Leistung), was zum Unbehagen im Wohlstand führt.

Im weiteren reflektiert der Autor über das Hören. Wir werden in allen möglichen (urbanen) Umgebungen und Räumen von Geräuschen, Lärm, Geschwätz, Musik beflutet. Dem kann man durch selektives Hin- und Weghören oder mit der Schaffung eines eigenen Hörraumes durch Bestöpselung und Goutieren gewählter Musik entwischen. Damit entgeht einem hingegen das Gefühl des Da-Seins. Auch hier möge das Einüben eines passiven Hörens, ein Sich-Öffnen für die tonale Atmosphäre die eigene Präsenz spürbar machen. Etwas abrupt kapriziert er sich nun aber auf die Reproduktionstechnik – wohl im Anschluss an das vorherige Kapitel. Fertilisation, Schwangerschaft (Leihmutterschaft) und Geburt werden zunehmend technisch manipuliert. In vitro Befruchtungen und Kaiserschnitt sind im Vormarsch. Durch einen nicht medizinisch motivierten Kaiserschnitt beraube sich die Mutter einer Grunderfahrung, nämlich der, selbst Natur zu sein. Das mag wohl als Kritik an der Medikalisierung und dem technischen Kontrollbedürfnis von Grenzerfahrungen gemeint sein – und die könnte auf dieser Linie auch auf den Prozess des Sterbens ausgeweitet werden. Der betrifft ja alle Menschen, während Gebären biologisch beziehungsweise geschlechtsbedingt nicht von allen geschafft wird. Philosophie wurde mit Platon auch als “Einübung” oder “Vorbereitung auf den Tod” oder frei nach Seneca als “Sterben lernen” verstanden. Es erstaunt, dass Böhme angesichts seines Alters, seiner Lebenserfahrung (Tod seiner Frau) und der Sorge um seine Enkelkinder keine Gedanken darüber mit ihnen austauscht. 

Ein Kapitel heißt „Selbstsorge“, die ein wenig an die „Sorge um die Seele“ des Sokrates erinnert, die ihm wichtiger war als Macht, Ruhm und Reichtum. Der Begriff Selbstsorge wurde eigentlich von Michel Foucault aus dem antiken Diskurs der Stoa wieder hervorgeholt. Konsequent werden die Auswüchse der Konsumgesellschaft skizziert und wie alle möglichen Tätigkeiten nicht mehr selbst gemacht, sondern als Serviceleistungen konsumiert werden. Beispiel Pflege(notstand): Pflege wird nicht mehr durch eigene einfühlsame menschliche Zuwendung gemacht, sondern professionalisiert und delegiert. Böhme greift einen interessanten Begriff von Karl Marx auf: die ideelle Obsolenz. Waren müssen nicht mehr materiell altern, um out zu sein. Das gilt nicht nur bei der Kleidung, sondern ganz deutlich bei Smartphones, Computern und anderen technologischen Gadgets. Ständig wird was Neues auf den Markt gebracht und die Perfidie der damit einhergehenden Strategie liegt darin, dass alle alten Modelle nicht mehr kompatibel sind oder auf den letzten Stand gebracht werden können. Der Abschnitt endet mit: „In summa: Das Unbehagen im Wohlstand könnte Selbstsorge und neue gesellschaftliche Formen gesellschaftlicher Integration des Einzelnen jenseits von Arbeit und Konsum als Weise, gut Mensch zu sein, nahelegen.“

Beim „Gut Mensch sein“ geht es nicht um das traditionelle moralisch gute Handeln oder um Tugenden. Das bleibt im Bereich der eingespielten Üblichkeiten. Situationen, in denen es das Übliche noch nicht gibt, sind die Herausforderungen. Hier gilt es Entscheidungen zu treffen, die gleichzeitig mitbestimmen, wie ich mein Menschsein verstehe. Er macht die für die Selbsterfahrung wesentliche Unterscheidung zwischen Körper und Leib als die Natur, die wir selbst sind. Der Körper kann als Gegenstand, Vehikel, als pharmakologisch oder kosmetisch manipulierbares Instrument (quasi von außen) gesehen werden. Durch das Erleben der Schwangerschaft und die Entbindung bei seiner Frau erfuhr Böhme, was es hieß, selber Natur zu sein, nämlich Leib. Durch Exerzitien wie den Atem erleben (= geschehen lassen) oder autogenes Training kann dies gezielt erlernt werden. Leiblichkeit erfährt man dann auch als Zeitlichkeit und Hinfälligkeit.

Die leibliche Liebe will auch nicht auf den Körper reduziert sein. Nicht Haben, sondern Sein im gemeinsamen Leiblich-sich-Spüren und Sich-Hingeben lässt Glück entstehen. In Bezug auf die Beziehung zwischen Mann und Frau und Elternschaft werden Böhmes Ausführungen etwas prekär. Er lobt die Errungenschaft der westlichen Moderne in der Entdeckung der Würde des Individuums und der Freiheit (= Autonomie). Autarkie im Sinne einer völligen Unabhängigkeit von anderen im eigenen Menschsein sei hingegen eine Illusion. Gerade Mutter- und Vaterschaft eröffneten ihm, dass es Eigenschaften im Menschen gibt, die man nur relativ zu einem anderen haben kann. Ohne Kind, meint er, entgehe einem eine wesentliche Bestimmung des Menschseins. Er bemerkt, „dass das Singletum, das sich heute in den westlichen Ländern ausbreitet, eine defiziente Weise menschlicher Existenz ist, und dass Autonomie und Autarkie, also die grundsätzliche Unabhängigkeit des Einzelnen von anderen Menschen, zu einem defizienten Menschsein führt, indem wesentliche Möglichkeiten, die das Menschsein ausmachen, nicht entwickelt und gelebt werden.“

Bedenklich ist, dass Böhme gar meint, sich nicht auf Elternschaft und Kinderhaben einzulassen, sei ein defizientes Leben. Was ist mit all denen, die aus biologisch-medizinischen Gründen keine Kinder haben können? Ist ihr Lebensvollzug „defizient“? Elternschaft allein garantiert nicht, dass diese gut gelebt wird. Und mit Elternschaft allein ist auch das menschliche Potential in seiner Gänze nicht ausgelebt. Es ist eine legitime Wahl, keine Kinder haben zu wollen, für die es gute – heute gar antinatalistische und ökologische – Gründe und Begründungen  gibt. Für Frauen kann das eine Freiheit bedeuten, die gegen die gesellschaftlichen Erwartungen und partriarchale Strukturen erkämpft worden ist. Wir wollen gewiss nicht mehr auf die rein binäre Option einer heterosexuellen Beziehung als der einzig legitimen zurückschreiten. Auch sind in Single-Haushalten lebende Menschen nicht notwendigerweise vereinsamte Monaden, vielmehr leben sie oft in wohl fluktuierenden und häufig wechselnden, so doch engen und intimen Beziehungen. Individuum-Kult und Single-Haushalt stehen nicht in einer kausal-linearen Beziehung, zumal ein solcher von vielen ungewollt alleine lebenden älteren Personen bewohnt wird.

Überdies gibt es zölibatäre oder monastische Lebensformen, die ganz im Dienste der Gemeinschaft oder Menschheit stehen. Das sind zwar in dieser Hinsicht die Giganten, aber ein Dalai Lama oder eine Mutter Theresa leb(t)en wohl kein „defizientes“ Leben, nur weil sie ehe- und kinderlos geblieben sind. Viele in ihrer Nachfolge versuchen ihre Botschaft – in kleinerer Version zwar – zu leben, womit sich eine geistige Kindschaft ergibt, die einer leiblichen kaum nachsteht. Möglicherweise kann Ähnliches für Künstler diverser Genres geltend gemacht werden, die auf Heirat oder Kinder verzichtet haben, da ihr Leben ihrer Kunst geweiht war.

Böhme hat ein Vierteljahrhundert lang die Philosophie als akademische Profession ausgeübt. Er schildert prägnant seinen Werdegang, seine Forschungsinteressen, Erfolge und das Ungenügen im universitären Betrieb. Böhme studierte ursprünglich Mathematik und Physik und lehrte anschließend als habilitierter Philosoph an der technischen Hochschule Darmstadt. Das war konstitutiv für seine Fachgebiete wie Alternativen der Wissenschaft, ihre gesellschaftliche Relevanz und Freiheit (von Kapital- und Militärinteressen) oder das Verhältnis zwischen Zivilisation und Technik. Stets war seine Forschung verzahnt mit Engagement und Praxisorientierung, was in der Gründung eines Institutes für Praxis der Philosophie nach seiner Pensionierung kulminierte. Damit ist Böhme lebensgeschichtlich die Personalunion von einem akademischen Lehrer und Forscher mit einem Lebensberater und Kulturgutvermittler.

Er erwähnt die Unterscheidung Immanuel Kants in Philosophie im Schulsinne und Philosophie als Weltweisheit. Bei letzterer schlage man sich mit Problemen herum, die jedermann interessieren. Man könnte einen Nebensatz Böhmes geradezu als Definition der akademischen Philosophie in Anschlag bringen, nämlich, dass sich „Philosophen in ihrer wissenschaftlichen Arbeit primär mit Problemen der anderen Philosophen“ beschäftigen. Böhme hingegen ging auf Straße, beteiligte sich an Friedensdemonstrationen und entwickelte mit Kollegen die „Darmstädter Verweigerungsformel“, durch deren Unterzeichnung, sie sich darauf verpflichteten, mit ihren Forschungen nicht der Waffenentwicklung zu dienen. Auch eine ökologische Naturästhetik im Modus der Atmosphäre, ethische und historisch anthropologische Fragen bis hin zu Kolloquien gegen Ausländerfeindlichkeit gehörten zu seinem Portfolio. 

Für Böhme lag die Aufgabe der Philosophie stets in der Öffnung neuer (Denk-)Möglichkeiten oder Existenzweisen, also einer positiven Kritik. Böhmes Kritik an der Physik reduzierte sie auf das, was sie ist: Technikwissenschaft und nicht Weltbildlieferant. Mit seinem Bruder hat er eine ausführliche Kritik an Kants ambivalentem Vernunftverständnis vorgenommen. Für diesen war der Mensch ein animal rationabile (im Text steht: rationalbile [!]), also ein Tier, das vernünftig werden kann. Dazu bedürfe es der Disziplinierung (Erziehung) und Zivilisierung, über die kulturelle Regeln und Gesittetheit eingeübt werden. Handeln aus Achtung vor dem moralischen Gesetz und nicht nach Konvention wäre die für Kant wünschenswerte Stufe (Moralisierung) des Menschen, die er aber als noch nicht erreicht sah. Dies hatte Auswirkungen im deutschen Erziehungswesen, dahingehend, dass der Körper instrumentalisiert wurde und Gehorsam und Disziplin zu Tugenden stilisiert wurden, die letztendlich zur Ausbildung eines Militarismus und des autoritären Charakters geführt haben.

Das letzte Kapitel des Buches („Philosophie als Übung“) ist naturgemäß ein praktisches. Böhme meint, es gebe in der philosophischen Literatur nur sehr wenig, was sich als Übung verstehen ließe. Kurz erwähnt er Aristoteles, der den Erwerb von Tugenden mit dem Training im Sport vergleicht. Das wäre wohl eine Übung im Sinne der Kompetenzerweiterung, denen Böhme solche existentieller Natur gegenüberstellt. Vermutlich haben die Pythagoräer und Neuplatoniker und in ihrem Gefolge die Mystiker des Abendlandes durchaus Exerzitien gepflegt, diese aber hermetisch und nicht allgemein zugänglich überliefert. Auch bei den Stoikern ließen sich gewiss Anweisungen extrahieren, die als Übungen zur Erlangung der von ihnen angestrebten Seelenruhe gelten dürfen.

Übung meint Philosophie als Vollzug und das kann etwa im Gehen geschehen, wenn es bewusst und ziellos und in einem sich darin Aufhalten und Aufgehen und Öffnen der Sinne (aus)geübt wird. Die gegenteilige Haltung wäre die reine Distanzüberwindung mit Stöpseln in den Ohren oder mit Pulsmesser und mit dem Ziel Fitness-Erwerb. Meditation ist eine philosophische Übung par excellence und kann, wenn sie täglich auch nur kurz praktiziert wird, auf andere Lebensvollzüge abfärben. Meditation heißt einfach da sein, wobei es nichts zu tun und schon gar nichts zu erreichen gilt.  Sich selber Zeitgeber sein und die Lebensrhythmen in Gelassenheit geschehen lassen, erlöst uns von dem Druck der Zeit, wenn diese nur als Quantum begriffen wird. All das gehört nach Böhme zum guten Leben. Das dürfte sein Hauptanliegen sein und wir wollen mit ihm der Enkelgeneration wünschen, dass es ihr gelinge, ein solches zu führen. Verwunderlich bleibt, dass er die wohl größte Herausforderung, der die Welt seiner Enkel begegnen muß, nirgends erwähnt: die Katastrophe, die euphemistisch als Klimawandel bezeichnet wird. Ein fataler blinder Fleck. Und doch: diese sehr persönliche philosophische Propädeutik ist allen ans Herz zu legen, die an einem philosophischen Leben – im (auto)biografischen wie allgemeinen Sinne – interessiert sind.

Titelbild

Gernot Böhme: Philosophieren. Für meine Enkelkinder.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
146 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783826065996

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