Flüchtlingsbewegungen vom 16. Jahrhundert bis heute

Von Frankreich bis Pakistan mit einem gemeinsamen Ziel: Franken

Von Lea GavranovicRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lea Gavranovic und Franziska SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir schaffen das!“ lautete das Credo Angela Merkels, als es 2015 zur „Flüchtlingskrise“ in Deutschland und der gesamten EU kam. Jahre später bestimmt das Thema Flucht und Aufnahme immer noch das politische Tagesgeschehen. Den Versuch, die Geschichte der Vertreibung und Suche nach neuer Heimat in Franken über Jahrhunderte hinweg differenzierter zu betrachten, wagt der Kulturhistoriker Hermann Glaser. Hinsichtlich der landesgeschichtlichen Herangehensweise wählt er zur Definition Frankens einen geographischen Zugang zum Untersuchungsraum (Werner Freitag, 2018). Das chronologisch aufgebaute Buch liefert Vertreibungsbeispiele ab dem Dreißigjährigen Krieg bis zur aktuellen Zeitgeschichte. Aufmachung und Schreibstil lassen als Zielgruppe einen breiten Leserkreis in Nürnberg und Umgebung vermuten.

Der Herausgeber selbst beginnt mit einem Aufsatz zum Pegnesischen Schäfergedicht, in welchem Johannes Klaj seine Erfahrungen zum Dreißigjährigen Krieg verarbeitet. Aufgrund der fehlenden Struktur fällt es jedoch nicht leicht, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Es folgt der Chefredakteur der Nürnberger Nachrichten, Michael Husarek, mit dem Wagnis, die Integration der Hugenotten Ende des 17. Jahrhunderts auf die aktuelle Flüchtlingspolitik zu übertragen. Auf Basis der Forschungsergebnisse des Zeithistorikers Phillip Thers sei eine gezielte Ansiedlung der Geflüchteten in bevölkerungsschwachen Gegenden sinnvoll, so seine These. Anschließend rückt Christoph Lindenmeyer die vertriebenen Protestanten im rekatholisierten Salzburg in den Fokus. Nach einer Einführung folgen wenige neue Informationen, die sich der Leser im Dickicht der Wiederholungen ‚zusammensammeln‘ darf. Die folgenden drei Beiträge beschreiben die individuelle Flucht von Wolfgang Mück, Andres Holler und Bernd Organ nach dem Zweiten Weltkrieg. Herauszuheben ist die Biographie Hollers, in welcher er seinen eigenen Integrations- und Identifikationsprozess skizziert, der stellvertretend für andere Schicksale steht. Mück erzählt detailreich von seinen Fluchterinnerungen, während Organ nur stichpunktartig die Fluchtgeschichte seines Vaters rekonstruiert und stattdessen einen längeren Abschnitt seinem Lehrer Glaser widmet. Eben jener schließt sich mit einem persönlichen Erfahrungsbericht an: Er dokumentiert die Eingewöhnung seiner Adoptivtochter aus Vietnam und spiegelt seine Gedanken, Unsicherheiten und Ängste wider. Seine Schreibweise bleibt davon nicht unberührt: Häufig wirken kurze Parataxen wie ein Beobachtungsprotokoll, die unregelmäßigen Sprünge in der Zeit und der unsystematische Gebrauch verschiedener Namen sorgen zusätzlich für Verwirrung.

Im folgenden Abschnitt findet sich der Leser im geteilten Deutschland wieder. Der Gesundheitsinformatiker Peter Waegemann beschreibt seine Erlebnisse bei einem Dinner 1981 in Boston. Die dort an ihn gerichtete Frage, ob die Menschen in Nürnberg nun „bessere“ Menschen als 1933 seien, beantworte er mit der schwierigen Metapher, die Nazizeit sei wie ein Gewitter gewesen – ein eher hilflos wirkender Versuch, das damalige Verhalten der Menschen zu legitimieren. Deutlich persönlicher wird es, als er von seiner Kindheit und der Flucht von Erfurt nach Nürnberg erzählt. Am Ende der Darstellung kommt Waegemann zu dem diskutablen Schluss, dass „indoktrinierte Vorurteile und politische Vorstellungen [...] verantwortlich für unsere Taten [sind], nicht die Menschen selbst.“ Den Gastarbeitern widmet sich Steven M. Zahlaus mit einem Einblick in das Leben und ihre rechtliche Situation während und nach der Zeit des Gastarbeiterbooms der 1950 bis 1980er Jahre. Der Beitrag ist stark mit Fakten und Zahlen geschmückt, was ihm Klarheit und Wissenschaftlichkeit verleiht.

In dem anschließenden Aufsatz „Iran“, geht es um die persische Künstlerin Somayeh Farzaneh. Zuerst wird ein Interview mit ihr über das Thema Heimatgefühl und Identifikation mit neuen Orten wiedergegeben, worauf eine Auflistung der Kunstprojekte Farzanehs in der Kunstvilla in Nürnberg folgt. Letztere wirkt etwas deplatziert – ebenso wie der letzte Abschnitt, der das im Raum Nürnberg angedachte Projekt „BING.DIEHL“ thematisiert, dessen Ziel in der Bewusstmachung der Verdrängung unangenehmer Wahrheiten besteht. Den Abschluss bildet der Bericht Thomas Röbkes über seine Arbeit als ehrenamtlicher Nachhilfelehrer für „unbegleitete Jugendliche“. Auch die beiden von ihm Betreuten kommen dabei mit ihren persönlichen Geschichten, Problemen und Zukunftswünschen zu Wort. Abschließend folgt –­­ völlig konträr – Nina Glaser mit einigen „Definitionen“ zu den Begriffen Migrant, Kontingentflüchtling und Asylbewerber – im Hinblick auf das Buchthema wären diese in einer Einleitung sicherlich sinnvoller platziert gewesen.

Der Versuch einer epochenübergreifenden Aufarbeitung der Geschichte von Vertreibung ist dem Herausgeber, gerade hinsichtlich der aktuellen politischen Entwicklungen, hoch anzurechnen. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive kann er diesem Bestreben jedoch nicht gerecht werden – zahlreiche argumentatorische und methodische Unstimmigkeiten sowie fehlende inhaltliche Bezüge ziehen sich durch den gesamten Band. Schon die Einleitung, die hauptsächlich in der Rekonstruktion der Geschichte und Geographie Frankens besteht, ist problematisch, da der Herausgeber seine Informationen nicht mit Belegen absichert und neuzeitliche Konstrukte, wie z.B. den Toleranzbegriff, unhinterfragt auf alle Epochen überträgt. Die Methodik der „Oral History“ kreiert zwar ein eindrucksvolles Bild der Erlebnisse, kann aber aufgrund ihrer Bestimmtheit zu keiner differenzierten Urteilsfindung verhelfen. Ein fehlendes, zusammenfassendes und reflektierendes Schlusswort lässt den Leser am Ende mit seinen Eindrücken alleine. In der Gesamtschau mag das Buch als stille Aufforderung zur Reflexion von Vertreibung und Heimatfindung verstanden werden – aus historischer Perspektive bleibt die Feststellung, dass die Flüchtlingsproblematik kein neuzeitliches Phänomen ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hermann Glaser: In Franken wieder Heimat finden. Über das Schicksal von Glaubensflüchtlingen, Heimatvertriebenen, Gastarbeitern, Kriegsflüchtigen und Asylsuchenden.
Schrenk-Verlag, Gunzenhausen 2017.
174 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783924270964

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