Tabula Rasa

Andreas Pflüger räumt kräftig auf in seiner Geheim-„Abteilung“ – „Geblendet“ setzt die Reihe der Thriller um die blinde Spezialagentin Jenny Aaron fort

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Horst Seehofer müsste eigentlich ganz schön verärgert sein, und seine Vorgänger wären es wahrscheinlich auch, wenn sie denn Krimis lesen würden, was sie sicherlich nicht tun. Warum? Ganz einfach, in den Thrillern von Andreas Pflüger, die sich um eine blinde Superagentin drehen, Jenny Aaron, und um eine klandestine Staatsschutztruppe, die sich in guter alter Tradition „Die Abteilung“ nennt, sind immer die Innenminister die korruptesten Politiker. Sie sind es, die mit der Mafia oder anderen kriminellen Organisationen unter einer Decke stecken, um an mehr Macht, mehr Einfluss, mehr Geld zu kommen. Sie sind es auch, die dabei von der Action-Truppe, die mit besonders hehren Idealen ausgestattet ist (wir lassen keinen zurück, niemand bleibt ungesühnt, die Freiheit wird mit dem Leben verteidigt etc.), mit aller Wucht bekämpft werden, und schließlich auf die eine oder andere Weise zu Fall und das heißt hier eben auch zu Tode kommen. In Pflügers neuestem Fall ist schon der zweite Innenminister dran, und angesichts dessen, dass andere Politiker/innen kaum bessere Noten bekommen, egal ob sie weiblich oder männlich sind, ist zu erwarten, dass sich der nächste Kandidat gleich im nächsten Thriller Pflügers finden wird.

Nun gut, offensichtlich befinden wir uns in Pflügers Welt in einer Ära nach Merkel, aber Hand aufs Herz, was müsste alles passieren, dass aus unserer doch so bieder wirkenden Politiker-Klasse eine derart korrupte, egozentrische Truppe wird? Im wirklichen Leben ist das Misstrauen gegenüber der Politik zwar groß, aber was heißt das schon? Niemand traut Seehofer, Merkel, Markus Söder, Malu Dreyer, Olaf Scholz, Christian Lindner, Annalena Baerbock oder Robert Habeck derartiges zu wie in Pflügers Thriller-Serie, dafür müsste noch viel geschehen. Selbst einem bärbeißigen Alexander Gauland wird man – trotz Ibiza-Video der österreichischen Verwandtschaft – so etwas nicht zutrauen. Dafür war dann selbst dieser Skandal zu peinlich für die Betroffenen. Und von anderen wollen wir nicht reden. Aber bedenken wir, dass es die deutsche Politik immerhin noch einigermaßen gut hat im Vergleich zur amerikanischen, in der vor allem die fiktionalen Präsidenten für jede Schandtat gut sind, von der Korruption über Mord bis zum Verrat war da schon alles drin. Und trotzdem werden immer noch welche in der Realität gewählt. Erst recht dann in vergleichsweise biederen deutschen Verhältnissen, in denen nicht einmal die extremen Krimis Politikern das Allerschlimmste zutrauen. Seien wir doch froh drum.

Was Pflügers neuen Roman angeht, mag man ihm die bekannten Pluspunkte gutschreiben wie Abzüge in Rechnung stellen. Seine Heldin Jenna Aaron ist wie immer eine höchst zerrissene und zugleich unerhört kompetente Agentin, die es nicht minder gut mit ihren sehenden Gegnern aufnehmen kann als etwa ihr Pendant Daredevil (der nicht nur blind ist, sondern auch noch sehr peinliche Hörnchen tragen muss). Das ist nicht weniger brutal und damit nicht weniger unwahrscheinlich als im amerikanischen Format, aber ungemein imponierend. Zumal in diesem Fall ein doppeltes Malum auszugleichen ist, das der Blindheit und das der Frau (deren körperliche Ausstattung im Kreuzfeuer männlicher Gewalt immer wieder als unterlegen gilt, selbst avancierte Konzepte lassen starke Frauen schließlich unterliegen, nicht aber in diesem Fall). Jenny Aaron weiß sich ihrer Haut zu wehren, was umso mehr nötig ist, als sie es dieses Mal mit einer ebenbürtigen Gegnerin zu tun hat, die auf sie und die „Abteilung“ angesetzt worden ist. Und der es gelingt, diese Truppe tatsächlich mit einem Anschlag nahezu vollständig auszulöschen – was den nächsten Rachefeldzug auslöst.

Kein Wunder, dass der Abteilung und ihren Repräsentanten immer wieder entgegengehalten wird, dass sie in einer offenen und demokratischen Gesellschaft nichts zu suchen haben. Was nahezu immer mit der Replik versehen wird, dass die Abteilung es sei, die es den kritischen Politikern überhaupt erst ermögliche, sich derart, sich überhaupt zu äußern. Seriös ist das nicht, aber ein schlagendes Argument, denn Pflüger wählt ja für sich und seine Leser/innen sehr bewusst die Perspektive der „Abteilungs“-Leute. Geschulte Kämpfer, Technologen und Killer, die stets das Gute wollen.

Das wirklich Interessante an diesem Text ist jedoch nicht die Action, die einem international erprobten Schema folgt, sondern das wahrnehmungsphysiologische Experiment, das Pflüger mit Jenny Aaron unternimmt. Aaron ist nämlich nicht final erblindet, sondern es besteht die Chance, dass sie wieder sehen lernt (wie ihre Kontrahentin im übrigen, was ein bisschen zu viel des Guten ist, man muss nicht immer alles kurzschließen, damit es Sinn ergibt – aber der Krimi hat nun mal keine Kontingenztoleranz).

Was aber geschieht, wenn das Gehirn wieder sehen lernen muss, führt Pflüger eindringlich vor. Da werden weder Gegenstände und Gesichter korrekt erkannt und platziert, da ist nichts so, wie es – in der Erinnerung Aarons und nach unserem Wahrnehmungsmuster – sein sollte. Der Umstand, dass Aaron ihre Blindheit so ungemein kompetent zu kompensieren weiß, führt dazu, dass sie umso mehr Schwierigkeiten damit hat, wieder zu sehen – und dabei auch noch ihre Orientierungsfähigkeiten als Blinde umgehend verliert. Sehen zu lernen ist ein komplexer Prozess, und es ist besser, man lernt es von klein auf.

Das aber stürzt Aaron nicht nur in Wahrnehmungsabgründe, sondern stellt sie in dem Moment, in dem sie eigentlich besonders gut funktionieren sollte – ihre Gegnerin ist auf sie und einen ihrer Kollegen aus und hat das Gros ihrer übrigen Kollegen umgebracht – ins Abseits. Aus diesem Dilemma muss sie sich erst einmal befreien, um dann (wie anders kaum zu erwarten) wieder über die Maßen die Erwartungen zu erfüllen. Das mag man Pflüger ankreiden, aber es bedient zugleich die Erwartungen, die man an seine Reihe richtet, vollkommen.

Titelbild

Andreas Pflüger: Geblendet. Thriller.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
508 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428955

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