Eigenwilliges Meisterwerk

Mit einer avancierten Romankonzeption und unwiderstehlichem Sog erzählt Jon Kalman Stefánsson die Geschichte von Ásta und beleuchtet die unzuverlässige Erinnerung

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jón Kalman Stefánsson ist einer der bekanntesten Schriftsteller Islands und kam als Sohn eines Maurers nur auf Umwegen und über die harte Schule des Lebens zur Literatur: Mit fünfzehn ging er von der Schule ab, arbeitete im Schlachthaus, in der Fischfabrik und auf hoher See, um dann Literatur zu studieren, zu lehren und selber Gedichte und Romane zu schreiben.

So verzweigt und verwegen wie sein Weg zur Literatur ist auch sein neuer Roman, Ástas Geschichte, eine Geschichte über Liebe, Einsamkeit und Erinnerung. Stefánsson beginnt seinen Roman chronologisch korrekt mir der Geburt von Asta, in deren Namen das isländische Wort für Liebe steckt und der zugleich eine Reminiszenz an einen Roman des isländischen Nobelpreisträgers Halldór Laxness ist. Doch kaum hat die Erzählung begonnen, hält der Erzähler inne, weil es heute nicht mehr möglich sei, ein Leben chronologisch zu erzählen: „Sobald sich die erste Erinnerung in unserem Gedächtnis eingewurzelt hat, hören wir auf, chronologisch zu empfinden und zu denken, und von da an leben wir ebenso sehr in dem, was vergangen ist, wie in dem, was gerade vergeht.“ Auch in der Folge resümiert der Erzähler über sein Erzählen, zweifelt, setzt neu an und erzählt auch von sich. Langsam kristallisiert sich heraus, dass dieser Erzähler ein Schriftsteller und der Bruder von Ástas Vater ist. Und auch dieser tritt als Erzähler alsbald in die Geschichte ein: Nach einem Arbeitsunfall liegt er sterbend auf dem Bürgersteig und erinnert sich in den Armen einer (mal alten, mal jungen) Frau an sein Leben und an das von Ásta. Als dritte Erzählstimme hören wir schließlich Àsta selber, die im fortgeschrittenen Alter Briefe schreibt.

Die Orientierung fällt in dieser avancierten Romankonzeption mit seinen stetigen Zeiten- und Perspektivenwechseln zunächst nicht ganz leicht. Doch dann entfaltet die Geschichte ihren unwiderstehlichen Sog und zieht den Leser tief in das faszinierende Leben Ástas hinein, das sich wie ein Puzzle Stück für Stück zusammen fügt. Àsta wächst in den 1950er Jahren bei einer liebevollen, aber völlig aus der Zeit gefallenen und verwahrlosten Ziehmutter auf und sie wird zum Gespött ihrer Mitschüler. Sie rebelliert gegen alles, bricht einem Mitschüler die Nase und wird als Erziehungsmaßnahme für einen Sommer in die Einsamkeit der Westfjorde geschickt. Hier lernt sie den abgründigen und Gedichte lesenden Jósef kennen, der früh sterben und dennoch ihre große Liebe bleiben wird. Später bekommt sie ein Kind, geht alleine zum Studium nach Wien, wo sie nach dem Tod ihrer Schwester einen Selbstmordversuch unternimmt.

Ástas Leben, das immer wieder auch vom Leben ihrer Ziehmutter und ihrer  Eltern überblendet wird, zeigt sich als ein Leben voller Leidenschaft und voller Verzweiflung, voller Liebe und Einsamkeit, voller Aufbrüche, Fehltritte und Scheitern. Es ist ein unbeugsames Leben abseits geregelter Bahnen und herkömmlicher Zukunftshoffnungen. Ástas Geschichte ist ein eigenwilliges Meisterwerk, in dem Stefánsson auf der Folie der wilden und windgepeitschten isländischen Landschaft einen funkelnden Erzählstrom evoziert, der zugleich zärtlich und poetisch wie auch vulgär und explizit ist. Der Roman ist dabei auch eine erhellende Meditation über die unzuverlässige Erinnerung und die Kraft des Schreibens: „Während ich schreibe, bin ich größer als ich selbst. Ja, dann werde ich zu einem hochsensiblen Nerv, der zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen hin und her zittert.“

Titelbild

Jon Kalman Stefansson: Ástas Geschichte. Roman.
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Piper Verlag, München 2019.
458 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783492059374

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