Die EU zwischen Leben und Ableben

Jo Ritzens hat mit „Eine zweite Chance für Europa. Wirtschaftliche, politische und rechtliche Perspektiven der Europäischen Union“ eine anspruchsvolle EU-Analyse geschrieben

Von Leif KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Leif Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Nachwehen der Euro-Krise, eine anhaltende Zuwanderung von Flüchtlingen, der Austritt des Vereinigten Königreiches aus der Europäischen Union, ein amerikanischer Präsident, der die EU und ihre Werte von außen immer mehr unter Druck setzt, zunehmende populistische Strömungen, die die EU von innen immer mehr in Bedrängnis bringen, abnehmendes Vertrauen in die Institutionen der EU. Die Aufgaben, vor denen die Europäische Union aktuell steht, sind gewaltig, und die Antwort auf die Frage, ob die EU in der Lage ist, diese Aufgaben zu lösen, entscheidet über die Zukunft des gesamten Projektes EU.

In dieser schwierigen Phase erscheint das Buch Eine zweite Chance für Europa. Wirtschaftliche, politische und rechtliche Perspektiven für die Europäische Union in deutscher Übersetzung. Geschrieben hat diese Analyse zur Zukunft der EU der Ökonom und ehemalige niederländische Minister, Weltbank-Vizepräsident und Präsident der Universität Maastricht Jo Ritzen. Unterstützt wurde er dabei von den vier Mitautoren Klaus F. Zimmermann, Martin Kahanec, Annemarie Neeleman und Pedro Teixeira.

Die 377 Seiten umfassende Analyse hat das anspruchsvolle Ziel, neue Ideen zu finden, „um Europa durch bessere Koordination und Kooperation zu einem Ort zu machen, an dem es sich noch besser leben lässt. […] Es [das Buch] wurde für all diejenigen geschrieben, die über ihre eigene und die Zukunft der nachfolgenden Generationen innerhalb eines Europas besorgt sind, das der Menschenwürde und der Rechtsgleichheit aller ebenso verpflichtet ist, wie der Sicherheit und dem Wohlergehen aller“.

Dem Worst-Case-Szenario, dem puren Durchwursteln, stellen Ritzen und seine Co-Autoren ein gut durchdachtes und vor allem faktisch und theoriegeleitetes Best-Case-Szenario, die titelgebende „Zweite Chance für Europa“ gegenüber. Dabei konzentrieren sich die Autoren auf sechs Herausforderungen, die als die dringendsten Aufgaben für die EU angesehen werden und dabei tatsächlich die Majorität der innereuropäischen Probleme erfassen: Ablehnung beziehungsweise Widerstand gegen die EU-Mitgliedschaft, Qualitätsverlust der Regierungsführung, Unvollständigkeit der EU-Freizügigkeit, unzureichende Integration von Flüchtlingen sowie die Unvollständigkeit des Euro.

Einem einleitenden Kapitel, das nicht nur einen Überblick über die gesamte Analyse liefert, sondern auch eine kurze Entstehungsgeschichte der heutigen Probleme aufzeigt, folgen sechs Kapitel, die sich mit ausführlichen Analysen der Probleme und ihrer potenziellen Lösungen beschäftigen, sowie ein weiteres Kapitel, das eine sogenannte Lernunion als Unterstützung und Vervollständigung der EU an sich vorschlägt. Ritzen und seine Mitstreiter enden mit einem Kapitel, das noch einmal kompakt die zwei potenziellen Wege der EU – das Worst-Case- und das Best-Case-Szenario – gegenüberstellt und darüber hinaus einen Vorschlag liefert, wie die EU letzteres umsetzen kann.

Das Kapitel „Schwindender Rückhalt für die EU“ beschäftigt sich mit den Ursachen für das Phänomen des Euroskeptizismus und des Gefühls, Globalisierungsverlierer zu sein. Dabei heben die Autoren vor allem den Einfluss der Zukunftsunsicherheit und des Perspektivenverlust hervor. Solche Ursachen ließen sich den Autoren zufolge am besten bekämpfen, wenn man der Bevölkerung wieder ein Gefühl von Fairness und Optimismus vermittelt. Dazu schlagen sie ein sozioökonomisches Modell vor, das im folgenden Kapitel weiter ausgeführt wird. Dieses hat das anspruchsvolle Ziel, Wachstum mit Innovationen, Nachhaltigkeit und einer Reduktion der Einkommensunterschiede und Arbeitslosigkeit innerhalb der EU zu verknüpfen. Dabei heben die Autoren besonders die Notwendigkeit der Reform des Wohlfahrtsstaates und innerhalb dessen insbesondere die Reform des Beschäftigungsschutzes hervor.

Auch das vierte Kapitel nimmt das sozioökonomische Modell zur Grundlage und wendet sich den Unzulänglichkeiten der Governance in einigen Mitgliedstaaten zu. Dabei bedarf es, so die Schlussfolgerung, weiterer Souveränitätsübertragungen auf Europäische Ebene, denn eine „Steigerung der Governance ist nicht ohne weitreichende Befugnisse der EU […] zu haben. Ohne eine bessere Governance werden die Chancen der EU auf ökonomische Konvergenz mit Sicherheit geringer sein“.

Die folgenden beiden Kapitel beschäftigen sich mit dem Aspekt der Beschäftigung und Fachkräftesuche, sowohl bezüglich der Notwendigkeit, die EU-Freizügigkeit zu vervollständigen, als auch im Hinblick auf die Schaffung eines einheitlichen Einwanderungs- und Migrationsregimes, inklusive funktionierender Verteilung. Bei diesem Punkt setzen die Autoren vor allem auf die EU-weite Einführung eines Einwanderungssystems auf Punkte-Basis.

Das siebte Kapitel legt seinen Fokus auf eine Reform der Eurozone, genauer gesagt auf eine „zukunftsfähige Eurozone mit Exit-Optionen“, bei der die Erfüllung bestimmter Regeln über die Teilnahme an der Eurozone bestimmt und eine Nichterfüllung einen automatischen Ausstieg aus der Eurozone zur Folge hat. Das letzte Kapitel schlägt eine Lernunion zur Vervollständigung der EU vor. Diese soll die europäische Identität sowie ihre Werte und Kultur stärken. Vorschläge hierzu sind beispielsweise das verpflichtende Lernen einer gemeinsamen europäischen Sprache in der Schule, im Zweifelsfall Englisch, oder eine verstärkte europäische Kooperation bei der universitären und beruflichen Bildung.

Bei der Erklärung der verschiedenen Unzulänglichkeiten in den sechs Problembereichen leidet leider ab und an die einfache Verständlichkeit der Sachverhältnisse, so dass die Analyse, das erklärte Ziel, leicht zugänglich zu sein, zuweilen verfehlt. Wobei man zur Ehrenrettung der Autoren auch sagen muss, dass beispielsweise hinsichtlich des Konstrukts des Euro selbst Experten die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht immer auf Anhieb überblicken.

Die konkreten Vorschläge zur Überwindung der Existenzkrise der Europäischen Union und zur Verhinderung ihres Zerfalls sind teilweise nicht neu und werden auch von anderen Expertinnen und Experten sowohl in Wissenschaft als auch Politik diskutiert. So wird beispielsweise die Idee der Schaffung einer Kern-Union mit mehreren „Ringen“ um sie herum, bestehend aus verschiedenen Graden an Europäischer Integration – eine der weitreichendsten Vorschläge der Analyse –, zusammen mit anderen Ideen für Flexibilität in der Integration neuer Politikgebiete auf EU-Ebene unter dem Sammelbegriff der Differenzierten Integration bereits von der Wissenschaft diskutiert. Auch die Forderung nach einem Punktesystem für Migranten nach kanadischem Vorbild findet sich bereits in manchen Wahlprogrammen, in Deutschland beispielsweise bei der FDP, wieder.

Die Tatsache, dass einige dieser Ideen auch in anderen Kreisen diskutiert werden und nicht neu sind, heißt jedoch nicht, dass der Band langweilig zu lesen wäre oder uninteressant ist. Die Autoren schaffen es, in ihrem letzten Kapitel eine Art Forderungskatalog aufzustellen – wenn sie eine Partei vertreten würden, könnte man es ein kleines Wahlprogramm nennen –, der nicht bei simplen, in Phrasen geformten Forderungen bleibt, denn sie untermauern ihre Forderungen in den vorherigen Kapiteln wissenschaftlich mit Daten, Forschungsergebnissen und Statistiken.

Einige der Schlussfolgerungen für ein lebendiges Europa sind definitiv schwierig umsetzbar und würden auf Widerstand stoßen – was die Autoren auch selber anmerken –, aber sie liefern einen Denkanstoß, den auch so mancher Politiker gut gebrauchen könnte, der das Ziel hat, das momentane Klein-Klein in der EU zu überwinden und sie weg vom Worst-Case-Szenario des Auseinanderfallens, hin zu einem Neuanfang, einer zweiten Chance zu bewegen. Denn, wie Jo Ritzen in seinem Vorwort für die deutsche Übersetzung schreibt: „Nur die EU kann, wenn sie den richtigen Weg einschlägt, für alle – alte wie junge, arme wie reiche – Europäerinnen und Europäer zukunftsträchtigere politische, soziale und mentale Bedingungen sicherstellen.“

Titelbild

Jo Ritzen: Eine zweite Chance für Europa. Wirtschaftliche, politische und rechtliche Perspektiven der Europäischen Union.
Übertragen aus dem Englischen von Jens Ole Becker.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
376 Seiten, 29,80 EUR.
ISBN-13: 9783826067297

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