Ein symbolträchtiges Schwesternpaar

Margaret Atwood hat ihrem „Report der Magd“ die Aussagen dreier Zeuginnen folgen lassen

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erfolgreichen Filmen folgt bekanntlich öfter einmal ein Sequel, das nicht immer an das Original heranreicht. Bei Romanen ist dies nicht anders. Man denke nur an Margaret Mitchells Vom Winde verweht und den von anderer Hand verfassten Folgeband Scarlett. Mehr als 30 Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen hat nun auch Margaret Atwoods erfolgreichster Roman Der Report der Magd eine Fortsetzung erhalten. Anders als im Falle von Mitchells Roman wurde sie aber von der Autorin des Originals selbst verfasst. Das macht schon einmal Hoffnung, dass er das Niveau des, wie man nun sagen muss, ersten Bandes halten kann.

Trat das Ursprungswerk in Form von Aufzeichnungen einer der als Sexsklavinnen und Gebärmaschinen missbrauchten Mägde auf, die lange nach dem Untergang Gileads von WissenschaftlerInnen aufgefunden und ausgewertet werden, so sind es diesmal drei Frauen, die aus den letzten Jahren des Gottesstaates berichten, die wiederum lange Zeit nach dem Untergang Gileads auf einer wissenschaftlichen Konferenz beleuchtet und interpretiert werden.

Die Handlungszeit liegt einige Jahrzehnte oder eine Generation nach den im Report berichteten Geschehnissen. Anders als der Titel der Fortsetzung erwarten lässt, handelt es sich allerdings nur bei zweien der neuen Dokumente um die Aussagen von Zeuginnen. Eine der beiden stammt von Agnes, einer vermeintlichen Tochter eines Kommandanten und seiner Frau, die in Gilead von den sogenannten Tanten als höhere Tochter auf ihr unausweichliches Ehefrauen-Dasein an der Seite eines hochrangigen Vertreters des Staates vorbereitet wird. Die andere, Daisy, wächst im angrenzenden Kanada auf. Beide sind sie im besten Teenager-Alter.

Die dritte Textebene wird nicht von Zeugenaussagen gebildet, sondern von heimlich zu Papier gebrachten Aufzeichnungen der hochrangigen, ja „legendären Tante Lydia“, die bereits aus dem ersten Buch bekannt ist. Sie steht nun in hohem Alter und ist wohl die mächtigste Frau im Staate. Ihr Einflussgebiet ist allerdings ganz auf die „weibliche Sphäre“ beschränkt, in der die Tanten als „geistliche Beraterinnen und Mentorinnen – sozusagen Führungspersonen“ der anderen Frauen tätig sind, wie einer der Kommandanten einmal euphemistisch meint. Wie Tante Lydia selbst sagt, „kontrolliert“ sie „die weibliche Seite des Unterfangens mit eiserner Faust im Lederhandschuh im Wollfäustling“.

Durch die drei neuen Aufzeichnungen bekommt man nähere Einblicke in die Geschichte und das System Gileads. Denn im Report der Magd blieb aufgrund der Desfred auferlegten Beschränkungen einiges vage oder ungewiss. So erwähnt Tante Lydia etwa, dass sie und die anderen Tanten im Unterschied zu allen anderen Frauen lesen und schreiben dürfen, weil sie nicht heiraten. Auch wie die Ehe zwischen Kommandanten und ihren Frauen arrangiert werden, kommt zur Sprache, oder dass Gilead sich immer noch im Krieg befindet, der, wie nun zu erfahren ist, mit Kalifornien ausgetragen wird, während Texas in einen Waffenstillstand einwilligt hat. Es sind dies die beiden letzten Staaten, die von den USA übrig geblieben sind. Gilead liegt zwar wirtschaftlich darnieder, scheint militärisch jedoch stark zu sein. Denn keines der demokratischen Länder Europas wagt es, sich mit ihm „anzulegen“ und die gegen den Gottesstaat gerichtete Widerstandsorganisation MayDay wird „international als Terrororganisation eingestuft“.

Keiner der führenden Männer Gileads scheint noch an die Ideologie der religiösen Tyrannei zu glauben. Ebenso wenig die Tanten, unter denen Streit, Missgunst und Denunziantentum herrscht. Auch wurde inzwischen „eine Vielzahl früherer Würdenträger an der Mauer gehängt“, wie das in einem Gewaltregime eben der Fall zu sein pflegt. Neu ist zudem, dass Gilead Missionarinnen in andere Länder schickt, deren eigentliches Ziel darin besteht, junge gebärfähige Frauen ins Land zu locken.

Tiefere Einblicke in das System Gilead bieten insbesondere die Aufzeichnungen Tante Lydias, einer früheren Familienrichterin, die nicht nur die aktuellen Geschehnisse niederschreibt und kommentiert, sondern auch ihr bisheriges Leben vor und in Gilead Revue passieren lässt, wobei sie ausführlich auf die für sie und alle Frauen zutiefst traumatischen Ereignisse während des Umsturzes eingeht. Wie seinerzeit die Menschen nach Pinochets Militärputsch in Chile werden die Frauen Gileads in ein Stadion gepfercht. Es ist dies einer der zahlreichen historischen Anspielungen des Romans, der selbstverständlich auch eine Reihe intertextueller Bezugnahmen bis hin zu einem Märchen der Brüder Grimm zu bieten hat.

Herrscht in Gilead das reine Grauen, so handelt es sich bei Kanada keineswegs um einen Hort der Frauenfreiheit und Geschlechtergerechtigkeit, sondern um einen Staat und eine Gesellschaft mit all den Unzulänglichkeiten und Verbrechen, wie sie in westlichen Ländern gang und gäbe sind, aber auch mit deren Stärken. So gibt es etwa Demonstrationen für und gegen die Aufnahme von aus Gilead geflüchteten Frauen, die nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit, sondern nicht selten gegen finanzielle Entlohnung über die Grenze und somit in die Freiheit gebracht werden. Nicht nur da ist der Roman hochaktuell.

Atwood verleiht jeder der drei Berichterstatterinnen einen eigenen unverkennbaren Stil. Während sich die Aussagen der beiden Zeuginnen allerdings nicht immer als solche lesen lassen, tritt der Text der Tante glaubwürdig als eine unter Gefahren geschriebene und wohlversteckte Verteidigungsschrift ihres Lebens in Gilead auf, so wie sie es „notgedrungen“ habe führen müssen, wobei sie es stets „nur gut gemeint“ habe. Tante Lydia hofft, dass ihre Aufzeichnungen irgendwann einmal gefunden werden und spricht den zukünftigen „Leser“ mehrmals direkt an. Eine ausgeprägte Neigung zu – meist düsteren und gelegentlich zynischen – Aphorismen vermag sie dabei nicht verhehlen. Folter, schreibt sie einmal, sei „wie Tanzen“, ein andermal erklärt sie, es sei „nicht alles Gold, was fault“ und „der Erfinder des Spiegels“ habe „den wenigsten von uns einen Gefallen damit getan“.

Agnes, die in einer von der Tante geleiteten Bildungsstätte für höhere Töchter lebt, um auf ihre künftigen Pflichten als Kommandanten-Gattin vorbereitet zu werden, begründet in ihrer Aussage wiederum öfter einmal, warum sie etwas Bestimmtes erzählt. Sie verhehlt nicht, dass es ihr schwerfällt, manches zu berichten, oder dass sie etwas lieber ganz „übergehen“ würde, „weil es eigentlich vergessen gehört“. Wieder anderes erzählt sie, „da man Interesse daran bekundet hat, wie solche Dinge in Gilead gehandhabt wurden“. Berichtet sie von ihrer frühen Schulzeit noch recht kindlich, ändert sich das im Laufe ihrer Aussage zunehmend und zeigt so, wie sie trotz aller Indoktrination langsam zu einem bewussten Menschen heranreift. Ein emanzipatorischer Prozess, der offenbar am Ende des Buches noch nicht ganz abgeschlossen ist. So recht an die religiöse Ideologie Gileads glaubte sie aber auch schon früher nicht und moniert insgeheim, dass sie auf jede Frage, warum etwas so sei, wie es ist, die „Standardausrede“ erhalte: Das sei eben Gottes Wille. Weniger noch als die Aussage von Agnes liest sich der Text von Daisy wie die „Abschrift“ einer „Zeugenaussage“.

Neben den drei Berichterstatterinnen gibt es in Gilead noch eine Reihe weiterer ProtagonistInnen. Zu nennen wäre zunächst der erste Mann im Staat, der blaubärtige Kommandant Judd, von dem auf dem geschichtswissenschaftlichen Kongress über den Report der Magd bereits die Rede war. Hinzu kommen zwei Schulkameradinnen von Agnes und drei Kolleginnen von Tante Lydia. Die fünf Frauen stehen zwar für bestimmte Typen, doch sind sie zugleich individualisiert. Insbesondere Becka, eine Freundin von Agnes, tritt den Lesenden lebhaft vor Augen, sodass sie mit ihr und ihrem Schicksal mitfiebern. Die Nebenfiguren in Kanada werden hingegen weniger genau gezeichnet. Nicht alle von ihnen überleben, weder in Gilead noch in Kanada.

Zwar ist der Roman literarisch unspektakulär, doch gewinnt seine Handlung zunehmend an Schwung und wird gegen Ende hin ausgesprochen spannend, ja dramatisch. Ein ungleiches und darum umso symbolträchtigeres Schwesternpaar spielt dabei eine entscheidende Rolle. Unterstützung findet es bei einer ganzen Reihe anderer Frauen und einem oder zwei Männern.

Da Atwood einen menschenverachtenden Gottesstaat, dessen Tyrannei sich insbesondere gegen Frauen richtet, sein Ende finden lässt, könnte man den Roman fast schon dem nach der Neuen Frauenbewegung entschlafenen Genre der feministischen Utopie zurechnen. Mehr als das Zurückdrängen des Allerschlimmsten scheint in Zeiten arabisch-islamischer Gottesstaaten und weltlicher Herrscher, die ihren tumben Sexismus ungeniert zur Schau stellen, selbst in den kühnsten Träumen nicht mehr vorstellbar zu sein. Dennoch ist der Roman eine Ermutigung in finsteren Zeiten. Nicht zuletzt darum ist er zu begrüßen, auch wenn Der Report der Magd für sich genommen keiner Fortsetzung bedurfte hätte.

Noch ein letztes Wort zum Klappentext. Man sollte nicht versäumen, ihn zu lesen. Denn anders als üblich beschränkt er sich nicht auf einige Worte höchsten Lobes für das zu bewerbende Werk, sondern ist ausgesprochen originell und zudem amüsant.

Titelbild

Margaret Atwood: Die Zeuginnen. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Monika Baark.
Berlin Verlag, Berlin 2019.
373 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014047

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