Geister – Schriftsteller – Attentäter

Daniel Kehlmann präsentiert in „Vier Stücke“ erstmals seine Bühnenwerke in Buchform

Von Elisa RisiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Elisa Risi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Daniel Kehlmann ist den meisten als Autor erfolgreicher Romane bekannt, die seit einiger Zeit auch auf der Theaterbühne inszeniert werden – so zuletzt der im Dreißigjährigen Krieg spielende Roman Tyll. Weniger bekannt ist allerdings, dass Kehlmann auch direkt für das Theater schreibt: Mit Vier Stücke liegt nun ein Band mit dramatischen Werken des deutsch-österreichischen Autors vor, die zwischen 2011 und 2018 in Schauspielhäusern in Graz und Wien uraufgeführt wurden.

Das erste Stück des Bandes knüpft thematisch an Kehlmanns Bestseller Die Vermessung der Welt an, der die Biografien zweier bedeutender Wissenschaftler, Alexander von Humboldts und Carl Friedrich Gauß’, in fiktiver Form nacherzählt. Geister in Princeton behandelt in kurzen Szenen das Leben des Mathematikers und Logikers Kurt Gödel, ist aber nicht so sehr an historischer Genauigkeit interessiert, sondern legt den Fokus auf die Hauptfigur und geht der Frage nach dem Scheitern des genialen Wissenschaftlers nach. Spannung wird im Stück dabei vor allem durch die fatale Kombination von unfehlbarer Logik und Verfolgungswahn, von rationalem Denken und Geisterglauben im Charakter Gödels erzeugt, die Kehlmann humoristisch ins Fiktionale überträgt. Dafür greift der Autor auf ein bereits in anderen Werken bewährtes Verfahren der Vermischung von Fakt und Fiktion zurück: Die gezeigten Lebensstationen Gödels beruhen zwar auf historischen Tatsachen, erzählt wird die Biografie jedoch in wie Zeitreisen wirkenden Sprüngen zwischen vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen, bei denen mehrere Geister sowie ein Alter Ego Gödels auftreten.

Mit dieser inszenierten Gleichzeitigkeit der Geschehnisse spielt Kehlmann auf die Erkenntnisse des realen Wissenschaftlers Gödels im Bereich der Logik an, der mit seinen Unvollständigkeitssätzen Zeitreisen für theoretisch möglich erklärt hatte. Eine kurze Recherche zur Person Gödels macht einige der zahlreichen Anspielungen im Text verständlich (Gödel hat unter anderem die Existenz Gottes bewiesen), das Stück funktioniert allerdings auch ohne tiefgreifende Mathematikkenntnisse. Dies liegt vor allem an der ironischen Darstellung bedeutender historischer Persönlichkeiten und der gekonnt eingesetzten lakonischen Sprache, die man bereits aus Kehlmanns Romanen kennt und die immer wieder zu Momenten von Komik führt – wie hier im Gespräch Gödels mit Albert Einstein, der seinem an Paranoia leidenden Wissenschaftskollegen beim US-Einbürgerungstest helfen will:

EINSTEIN: Gut, jetzt nehmen wir an, ich bin der Richter. Sehen Sie oft Gespenster?
GÖDEL: Sehr oft.
EINSTEIN: Sie verstehen nicht. Nicht ich frage jetzt, der Richter fragt, der entscheiden wird, ob Sie Amerikaner werden dürfen. Sie müssen normal und gesund erscheinen. Verstanden?
GÖDEL: Ich bin nicht blöd.
EINSTEIN: Natürlich nicht. Also. Sehen sie oft Gespenster?
GÖDEL: Sehr oft.
EINSTEIN: Ich bringe sie um.
GÖDEL: Ich glaube, jetzt habe ich verstanden.
EINSTEIN: Gut. Ich bin der Richter. Sie werden geprüft. Sehen Sie Gespenster?
GÖDEL nach einer kurzen Pause: Oft.

Ähnlich komische Momente ergeben sich im zweiten Stück des Bandes, einer gelungenen Satire auf den aktuellen Literatur- und Kunstbetrieb. In Der Mentor treffen zwei Schriftsteller im Rahmen eines Mentorenprogramms aufeinander, die unterschiedliche Typen verkörpern: Der eine ist ein in die Jahre gekommener, aber bekannter und viel gerühmter Dramatiker, der andere ein junger, ambitionierter Autor, der gerade mit seinem ersten Stück Erfolg an der Bühne feiert und von Kritikern als „die Stimme seiner Generation“ bezeichnet wurde. Im Laufe der Handlung werden diese in der Öffentlichkeit kursierenden Bilder als Schein entlarvt: Der ältere Schriftsteller erweist sich als arrogant, eitel und in permanenter Geldnot, da er seit seinem Erstlingswerk kein bedeutendes Stück mehr geschrieben hat und sich nun mit Drehbüchern über Wasser halten muss. Der junge Dramatiker ist gleichermaßen eingebildet, selbstbezogen und finanziell abhängig von seiner Frau, dazu wird der Entwurf für sein neues Stück von seinem angeblichen „Mentor“ verrissen. Auch das Mentorenprogramm selbst stellt sich als Farce heraus, da beide Autoren überhaupt nur aufgrund der hohen Geldsumme, die ihnen versprochen wurde, teilnehmen.

Daraus ergibt sich eine gekonnte Satire mit viel Selbstironie, allerdings geht das Stück am Ende über eine seicht-humorvolle Handlung hinaus und wirft interessante Fragen auf, die die Literatur(-kritik) seit jeher umtreiben: Was eigentlich zeichnet gute Literatur aus und wer legt dies fest? Ist die Bewertung „guter“ und „schlechter“ Literatur zwangsläufig subjektiv oder ist ein objektives Urteil möglich? Der alternde Schriftsteller in Kehlmanns Stück lässt den jungen Kollegen ebenso wie das Publikum am Ende mit einer unbefriedigenden Antwort zurück, auf die sich jeder und jede selbst einen Reim machen muss: „Etwas in Ihnen spürt, dass es in Fragen der Kunst ein absolutes Urteil gibt. Aber Sie werden nie erfahren, wie es lautet. Wir leben in Unsicherheit und tun unser Bestes. Und dann sterben wir, und es ist alles egal“.

Heilig Abend, das dritte Stück, spielt ebenfalls in der Gegenwart und stellt eines der politischsten Stücke Kehlmanns dar. Die Ausgangssituation erinnert an Franz Kafkas Process: Eine Philosophieprofessorin wird von einem Polizisten zum Verhör einbestellt, der ihr ohne erkennbaren Grund die Planung eines Anschlages vorwirft. Daraus entwickelt Kehlmann ein spannungsreiches Kammerspiel zwischen den beiden ungleichen KontrahentInnen: Während die Professorin eine theoretisch fundierte Argumentation über strukturelle Gewalt und die Ausbeutung der Schwachen im Kapitalismus darlegt, enthüllt der Polizist mehr und mehr die vor dem Verhör durchgeführten Überwachungsmaßnahmen, die bis in die Intimsphäre der Professorin eindringen. Zu seiner Rechtfertigung führt er die Notwendigkeit des Schutzes vor potentiellen Selbstmordattentaten an, die er als die bedrohlichste Form der Gewalt betrachtet.

Damit greift Kehlmann aktuelle Debatten aus Politik und Gesellschaft über die Verschärfung von Sicherheitsvorschriften im Rahmen von Terroranschlägen auf und fordert das Publikum durch die gegensätzlichen Ansichten der Figuren immer wieder zum Nachdenken über die Verflechtungen von globaler Ausbeutung, (staatlicher) Gewalt und Überwachung auf: „Was, wenn es nicht das beste System ist? Was, wenn es eigentlich ein grausames System ist, das die Menschen ausbeutet und sie in Angst und Unwissenheit hält und sich im Augenblick sogar ganz von der Demokratie verabschiedet, was dann?“ Das Zwiegespräch spitzt sich am Ende zu einem „Showdown“ mit überraschender Wendung zu – ein Thriller im Miniformat.

Das vierte und letzte Stück, Die Reise der Verlorenen, ist das beeindruckendste der Sammlung. Es beruht auf einer wahren Begebenheit, der Schiffsreise der MS St. Louis, die im Jahr 1939 mit 937 jüdischen Passagieren an Bord von Hamburg aus aufbrach und nach vergeblichen Anlegeversuchen in Kuba und den USA zurück nach Europa gesendet wurde. Von Beginn des Stückes an wird dieser reale Hintergrund von den Figuren immer wieder betont, die sich fiktionsbrechend an das Publikum wenden und auf die Aufzeichnungen, die die Ereignisse historisch verbürgen, verweisen. Durch diese konstante Ermahnung des Publikums wird die erzählte Geschichte in ihrer Eindrücklichkeit noch intensiviert, während man sich selbst noch stärker in das Geschehen eingebunden fühlt.

Das Stück berichtet von der Reise der jüdischen Passagiere aus wechselnden Perspektiven, wodurch die unterschiedlichen Motivationen der Figuren deutlich werden. Die Passagiere sind nach Erlebnissen von Verfolgung, Misshandlung und Gefangenschaft an Bord zwar vorerst in Sicherheit, aber nicht gerettet: Weiterhin sind sie dem politischen Kalkül, den wirtschaftlichen Interessen und den Geheimplänen der verschiedenen Regierungen ausgeliefert. Vor Kuba und auch in den USA wird ihnen die Einreise verweigert, da ihnen Geld und Visa fehlen, auch die zahlreichen Bemühungen von Hilfsorganisationen, die korrupten Beamten und auf Wahlen schielenden Politiker mit Bestechungsgeldern zu überzeugen, schlagen fehl. Damit überzeugt das Stück auf zwei Ebenen: Es ruft nicht nur die Schrecken der NS-Zeit ohne Beschönigung in Erinnerung, sondern verweist auch auf die aktuelle Situation geflüchteter Menschen im Mittelmeer. Am Ende der Reise der Verlorenen kommen die jüdischen Passagiere nochmals einzeln zu Wort und erzählen ihre tragisch verlaufenden Geschichten zu Ende (während der Bösewicht des Stückes, ein grausamer Nazi, mitten im Monolog unterbrochen wird) – damit gibt das Stück den Opfern der Geschichte eine Stimme.

Die vier Stücke Kehlmanns erscheinen bei der Lektüre eher lose nebeneinandergestellt, da zwischen ihnen kein direkter inhaltlicher Zusammenhang erkennbar wird – was wohl auch daran liegen mag, dass ihre Entstehungs- beziehungsweise Aufführungszeiten teilweise mehrere Jahre auseinanderliegen. Gerade das macht allerdings den Reiz des Buches aus: Von experimentellen, satirischen Komödien über ein zeitkritisches Kammerspiel bis hin zu einer zwischen Historie und Aktualität schwankenden Tragödie bieten die Stücke zahlreiche Facetten und lassen dabei stets den bekannten Kehlmannschen Prosa-Stil erkennen. Wer bereits Gefallen an den Romanen und Erzählungen Kehlmanns gefunden hat und nicht auf die (mitunter seltene) Gelegenheit warten möchte, auch eines seiner Bühnenwerke im Theater zu sehen, dem sei die Lektüre dieser Vier Stücke empfohlen.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Vier Stücke.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019.
284 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783498034757

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