Drei seltsame Tiger. Oder Elefanten

Wenn man sich was einbildet, kann allerlei geschehen. Wenn drei Tiere denken, sie wären Tiger, schon gleich gar

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir sind eigentlich Tiger“, sagt Mo, das Erdmännchen. „Alle drei. Innen drin.“ Natürlich „nicht in echt, aber trotzdem irgendwie echt.“ Sagt Max, die Gazelle. Maus Wendelin schüttelt den Kopf: „Wir sind keine Tiger, ein Tiger hat nämlich Streifen und wir nicht.“ Gut beobachtet, aber doch ein wenig am Kern vorbei. Schon wälzen sich Max und Mo im Schlamm, drehen sich spiralig um sich selbst und um einander. Und schon haben sie Streifen. „Hier, guck!“

Aber Wendelin ist ja nicht dumm, mit Tigern kennt er sich aus: „Und trotzdem sind wir keine Tiger, ein Tiger brüllt nämlich, und das können wir nicht.“ Sagt er, steht stolz auf einem hohen Stein über dem Matsch und wippt gespannt herausfordernd mit seinem langen Schwanz: Können sie darauf antworten? Währenddessen hockt im Gebüsch ein richtiger Tiger und beobachtet die drei grinsend: „Was machen die denn da?“

Aber da plustern sich Max und Mo auch schon auf und brüllen, was das Gazellen- und Erdmännchenzeug hält: „Buhaa! Wiehie! Füüüüh!“ Aber Wendelin ist nicht zufriedenzustellen, er wiederholt sein Mantra „Trotzdem“ und weiß: „Ein Tiger kann nämlich ganz schnell laufen und wir nicht.“

Und wie sie das können, denn jetzt springt der richtige Tiger auf sie zu, und huschwusch sind sie auf dem Baum: „Können wir doch“, rufen sie sogar noch. Und dann jubeln sie, denn sie können auf einen Baum klettern und der Tiger nicht: „Wisst ihr was? Wir sind keine normalen Tiger! Wir sind Supertiger!“

Der holländische Autor Edward van de Vendel hat ein putziges, freches Bilderbuch geschrieben über drei Tiere, von denen zwei immer wieder davon überzeugt sind, dass sie nicht Gazelle und Erdmännchen, sondern Tiger sind. Kein einziger Vernunftgrund kann sie davon überzeugen, dass das nicht stimmt. Im Gegenteil: Immer wieder beweisen sie dem Skeptiker, dass Fantasie über tumben Realismus siegt. Ja, nicht nur siegt, sondern ihn sogar übertrumpft. Denn wer ist schon ein Supertiger? Nur sie drei. Also.

Damit ist die Geschichte natürlich nicht zu Ende, denn jetzt sitzen sie auf dem Baum und wissen nicht, wie sie wieder herunterkommen: Unten streift der Tiger umher und peitscht mit seinem Schwanz – wahrscheinlich ist er über die Anmaßung der drei Tierchen sauer. Oder er hat Hunger. Und jetzt hat Wendelin die rettende Idee: „Wir sind nämlich Elefanten! Innen drin! Eigentlich! Nicht in echt, aber trotzdem irgendwie echt!“ Und jetzt dreht sich die Geschichte um, denn jetzt sagen Max und Mo das Trotzdem-Mantra. Aber er beweist es ihnen. Und trötet, was aus seinem Mäuseschnäuzchen nur kommen will: „Tieteratüütaataa Tietüüüüüüüh!“ So laut, dass sich die anderen beiden, die tigerlich gestreiften, die Ohren zuhalten müssen. Und siehe da…

Edward van de Vendels Wir sind Tiger ist eine hübsch hintersinnige Geschichte, die nicht nur vom Reichtum der Fantasie erzählt, von den Möglichkeiten, die sie hat, die Welt zu verzaubern. Sondern auch von ihren Tücken, die einen in gefährliche Situationen bringen kann, wenn man sich ihr zu sehr hingibt. Und auf einer anderen Ebene auch ein bisschen von der Notwendigkeit, sich zu verändern, das einmal Erreichte wieder loszulassen, wenn die Umstände es erfordern: Denn als kleine Pseudotiger hätten sie noch lange auf dem Baum sitzen bleiben können. Aber da Wendelin ihnen zeigt, dass sie sich noch einmal ändern können, werden sie doch noch gerettet: von den Elefanten, die Wendelin gerufen hat. Die Geschichte erzählt darüber hinaus auch vom maßlosen Eingebildet-Sein, das man vor sich hertragen kann: erst Supertiger, dann Superelefanten (denn darauf läuft es hinaus). Und dabei sind sie ja einfach nur eine dreckige Gazelle, ein dreckiges Erdmännchen und eine saubere Maus. Oder?

Schön vielschichtig und mehrdeutig ist diese kleine Geschichte, die Ingrid und Dieter Schubert mit kräftigen Farben und viel Witz illustriert haben. Vor allem die Mimik der drei Tiere ist voller Ironie, das verkniffene Ohrenzuhalten, das frustrierte Auf-dem-Baum-Sitzen, das von sich selbst begeisterte Supertigergesicht – sehr treffend werden die Tiere charakterisiert. Ebenso wie der mit aufgerissenem Maul springende Tiger, von dem man auf anderen Bildern nur die Schwanzspitze sieht oder die Klauen, die sich vergeblich in die Baumrinde krallen und Kratzspuren hinterlassen. Oder die zufrieden vor sich hin kauenden Elefanten, die genau wissen: Ein Tiger kann uns gar nichts.

Titelbild

Edward van de Vendel: Wir sind Tiger.
Illustriert von Dieter Schubert und Ingrid Schubert.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Eva Schweikart.
Fischer Sauerländer, Frankfurt a. M. 2019.
32 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783737355766

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