Wiederholte Wanderschaft
Dreizehn Autorinnen und Autoren auf Spurensuche in der Mark Brandenburg, wie Theodor Fontane sie literarisch erschuf
Von Stefan Neuhaus
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch wenn kulturpessimistische Klagen fehl am Platz sind, so dürfte es kein Zufall sein, dass der Band nicht in einem großen Publikumsverlag, sondern in dem kleinen, aber feinen Quintus Verlag erschienen ist, mit Schutzumschlag und Lesebändchen und allem, was sich bibliophile Menschen so wünschen. Ein Buch von Büchermenschen für Büchermenschen – die Herausgeberinnen sind Literaturwissenschaftlerinnen in Großbritannien und Irland mit Wurzeln in Deutschland; die Autorinnen und Autoren kommen allesamt aus dem deutschen Sprachraum. Fontanes (je nach Zählung) vier- bis fünfbändige Wanderungen durch die Mark Brandenburg, mit denen sich ihr Autor seinen lang gehegten Traum erwanderte, von der Schriftstellerschaft leben zu können, und für die er bei seinem zeitgenössischen Publikum wohl bekannter war als für seine Romane und Erzählungen, dürften bei der jüngeren Generation nur noch wenig Leser- oder gar Anhängerschaft haben. Effi Briest liest man heute zwar (wieder) in der Schule und vielleicht noch Irrungen, Wirrungen und die eine oder andere Ballade, aber aus dem einstmals umfangreichen Kanon fallen die anderen Werke zunehmend heraus. Daran wird auch Fontanes 200. Geburtstag wenig ändern.
Wie voraussetzungsreich die Wanderungen sind, war von Anfang an nicht das Thema einer eher einseitigen Rezeption. Wie mit einem Reiseführer pilgerten Generationen von Reiselustigen in die Mark und wanderten in ihr herum, befeuert von einem neuen National- und Regionalstolz und diesen durch die Lektüre weiter befeuernd. Dass Fontane selbst die Mark deutlich facettenreicher sah – so etikettierte er sie beispielsweise gern, wenn auch durchaus liebevoll, als „Streusandbüchse“ –, das wurde ebenso wenig gesehen wie die Tendenz zum anekdotisch-historischen Erzählen, die sich von der vorhandenen Geografie vollständig lösen konnte, frei nach dem Motto: Nun stehen wir hier an einem belanglos scheinenden Ort, aber nun erzähle ich einmal, was früher hier geschehen ist. Das wird schnell zum konjunktivischen Erzählen, denn bei Weitem nicht alle Geschehnisse sind auch historisch verbürgt. Hier zeigt sich der Einfluss von Sage, Legende und Märchen – bruchlos werden alle Gattungen amalgamiert und in eine bürgerlich-realistische, dabei immer auch idealisierende Form gegossen.
Der Einfluss, den die Wanderungen auf Fontanes Romane und Erzählungen hatten, bedürfte ebenfalls genauerer Untersuchungen. Von all dem ist natürlich in dem vorliegenden Band wenig zu lesen, das ist auch nicht die Aufgabe, die er sich stellt. Vielmehr dienen die Wanderungen, und das ist eine ausgesprochen originelle und schöne Idee, als Katalysator für eigene literarische Vignetten, für eine liebevoll-kritische Annäherung an eine Landschaft. Das sollte Schule machen, es böte auch andernorts eine wunderbare Möglichkeit für eine komplexere Auseinandersetzung mit dem heute wieder Konjunktur habenden, angesichts seiner Geschichte höchst problematischen Heimatbegriff.
Doch genug des Vorworts, kommen wir zum Vorwort. Die beiden Herausgeberinnen tun das, was man von ihnen erwartet, sie stellen das Projekt vor, knapp, aber klug und kundig überleitend vom Konzept der Wanderungen zum Konzept des vorliegenden Bandes. „Plaudern“ ist in der Tat ein passender Begriff, um sich dem anzunähern, was folgt. Im ersten Beitrag radelt Kerstin Hensel durch die Mark, um sich „Die Flötenfinger des Birnbaums“ anzusehen. Birnbäume kommen bei Fontane bekanntlich öfter vor, besonders prominent in der Ballade Herr von Ribbeck auf Ribbeck im Havelland und in der Kriminalerzählung Unterm Birnbaum. „In die Pedale!“ ist auch eine Aufforderung an die Leserinnen und Leser, sich mit den Ich-Erzählerinnen und Ich-Erzählern auf den Weg zu machen und aus ihrer Perspektive die heutige Mark schlaglichtartig wieder in ihrer historischen, aber eben auch literarisch-mythologischen Tiefe zu erleben. Schlösser, Parks und vor allem das Wasser, in Gestalt von Seen, Flüssen oder Kanälen, ziehen sich leitmotivisch durch die Reiseimpressionen, mal etwas ironisch, wie in Florian Werners „Im Namen der Gurke. Auf Fontanes Spuren durch den Spreewald“, oder ganz sachlich, wie in Tanja Dückers „Am Ruppiner See (Die Efeu-Villa)“. Auch der „Sand, der sich sammelt“ (Sabine Peters) darf natürlich nicht fehlen.
Die historische Perspektive wird immer wieder von der biografischen überlagert, bereits bei Kerstin Hensel heißt es: „Ich bremse. Jemand steht über mir und schaut, auf einen Krückstock gestützt, auf mich herab: der Alte Fritz – hammerhart in Bronze gegossen. Ich habe Letschin erreicht, den Ort, wo Fontanes Vater eine Apotheke führte und wo heute die Statue des Preußenkönigs Tradition bewahrt.“ So leicht kommt der Alte Fritz aber nicht davon, auch die Umstände seines Denkmalsturzes mit der Verurteilung zum „Tod durch Schrottpresse“ werden geschildert, bis hin zur Rettung und Wiedererrichtung. Man ist versucht, manchmal den Grass-Ton zu hören, der über das weite Feld weht: „‚Preuße sein ist schließlich eine Ehre und kein Vergnügen!‘, tönt der Bronzene.“
So kommen immer wieder auch historische Persönlichkeiten zu Wort, Fontane hätte wohl seine Freude daran gehabt. Ihm selbst widerfährt mehr Gerechtigkeit als in manch früherer Fachstudie, etwa wenn Ursula Krechel bilanziert: „Aber sein Urteil ist vernichtend, er findet die Landschaft geradezu trostlos, jedes neue Dorf ärmer als das vorangegangene.“ Auch das steht eben in den Wanderungen und eine nur verklärende Rezeption wäre fehl am Platze. Freilich haben sich die Zeiten merklich (märklich?) geändert, wie man bei Kathrin Schmidt (im Wortsinn verstanden) erfährt: „Für eine Fahrt nach Rheinsberg brauche ich weder Schilder noch Landkarte. Mein Navigationsgerät sagt an, wo’s langgeht.“ Nun ja, ob das nicht dem Reisen die Würze nimmt? Auch das eilende Verweilen auf „den Kunstledersitzen der S-Bahn“ (Sonka Hecker) macht offenbar nicht so viel Laune wie das Radeln oder das Zu-Fuß-Unterwegssein, also das tatsächliche Wandern.
Aber Moment: „Alle, die sich mit Fontane auseinandergesetzt haben, wissen, dass er das Wort Wanderung recht großzügig auslegte.“ Annett Gröschner hat natürlich vollkommen recht, Fontane war weniger per pedes als per Kutsche unterwegs. Und vor Ort spazierte er eher als dass er wanderte. Nicht alle Aufenthalte waren ganz freiwillig, an manche Orte knüpfen sich unschöne Erinnerungen: „Fontane kam vermutlich 1854 das erste Mal nach Luckenwalde. […] Wenn er für die Kreuzzeitung nach London reisen musste, reichte das Geld für die Miete in Berlin nicht mehr, also wurden die Möbel ein- und die Familie ausgelagert.“ Nun ja, das ist etwas verkürzend, denn Fontane nahm für den dritten, letzten und längsten Londonaufenthalt von 1855 bis 1859 die Familie mit. Hier kann dann wohl nur der zweite, etwa ein halbes Jahr dauernde Aufenthalt von 1852 gemeint sein (der erste von 1844 dauerte nur zwei Wochen).
Saša Stanišićs „Moment der Torte“ macht den Schluss, wohl auch, weil hier von der Erinnerung an Fontane nichts mehr übrig geblieben ist, denn es geht um die satirische und sehr gegenwartsbezogene Annäherung an ein Einkaufszentrum-Bauprojekt. Die Namen, etwa „Frau Schwermuth, Leiterin des Hauses der Heimat“, könnten sich aber durchaus einer Inspiration durch Fontane verdanken. Wer erinnert sich beispielsweise nicht an das sauertöpfische Fräulein Honig in Fontanes ökonomiekritischem, satirischem Roman Frau Jenny Treibel, deren Titelfigur auf den schönen Geburtsnamen „Bürstenbinder“ hört?
In summa: Die Mischung aus Damals und Heute, Historischem und Biografischem, Allgemeinem und Persönlichem, Geschichte und Geschichten, Annäherung an Fontane und Ausprobieren der eigenen literarischen Ästhetik ist gelungen. Diese „Wanderungen“ sind ein Lesebuch im besten Sinn und damit das, was Fontanes Wanderungen für seine Zeitgenossen waren – und für manche, wenn man sich auf sie einlässt, auch noch sein und immer wieder neu werden können.
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