Trugbilder-Scheinwelten
Alan Islers vielversprechender Universitätsroman "Goetzens Bilder"
Von Tilman Urbach
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEigentlich müßte es ihm gut gehen: Nicholas Goetzen ist Dozent für Englische Literatur an einem New Yorker College; attraktive Frauen umringen ihn; er ist Mitglied des akademischen Zirkels; sein Chef bescheinigt ihm das Zeug zur Karriere. Aber es kommt - so weit kennen wir den Autor Alan Isler bereits - dann doch ganz anders.
Leeds, England im April 1941. Fünf Männer, zwei Jungen und ein Rabbi stehen an einem offenen Grab. Es ist die Beerdigung von Nicholas Vater. Der Junge ist gerade sieben Jahre alt. Dunkle Wolken stehen am Horizont. Das Kaddisch wird gesprochen, da kullern zwei Hunde in eindeutiger Verkeilung in die Grube und sind nur durch einen Eimer kaltes Wasser wieder zu trennen. Vorbei die Andacht; das Schluchzen schlägt in schwer unterdrückbares Gelächter um. Wie einen Prolog hat Alan Isler seinem Roman diese Szene vorangestellt. Der Leser ist gewarnt.
Nach "Der Prinz der Westend Avenue", den Erzählungen "op. non cit." liegt nun Islers dritte Veröffentlichung vor. Und auch hier setzt der Autor auf eine rasante Mischung aus Slapstick und Nachdenklichkeit, aus Humor und verspiegeltem Grübeln über letzte Wahrheiten. So entstehen Bilder eines Lebens, das uns stets janusköpfig anschaut. Denn dem Katastrophischen ist bei Isler das Lächerliche nicht nur gegenüber gestellt, sondern regelrecht beigegeben. Keines der beiden (Lebens-)Extreme - so will uns der Autor als Moralist klarmachen - kommt ohne sein immanentes Gegenteil aus.
Isler, selbst jahrelang im akademischen Dienst tätig, hat hier ein Gutteil seines Lebens ironisch verzeichnet. Er porträtiert die Eitelkeiten des Betriebs, die Schein- und Trugbilder elitärer Forschung, letztlich einer in sich abgeschlossenen Welt. Die Schnittfelder mit dem "wirklichen" Leben ergeben sich indes im Zwischenmenschlichen: Nicholas Goetzen unterhält eine ebenso leidenschaftliche wie abgeklärte Affäre mit einer verheirateten Nachbarin. Gleichzeitig lernt er auf einer Party die nymphomane Forscherin Diotima von Hoden kennen, deren geheimnisvolles Aphrodisiakum ihm kurzzeitig die Sinne raubt. Und dann ist da noch eine ebenso unbegabte wie atemberaubend attraktive Jung-Dichterin, die nach einer privaten poetologischen Lehrstunde lechzt. An Frauen mangelt es dem in die Jahre gekommenen Akademiker Goetzen nicht.
Aber - der Leser beginnt es früh zu ahnen - solche Beziehungen sind nur ein flüchtiges Glück für Goetzen, eher schon Ausgangspunkte permanenter Verwicklungen, die derart kulminieren, daß Goetzens sorgsam aufgebaute Identität zu wanken beginnt. So rückt eine weitere Ebene ins Blickfeld: die heraufdämmernde Erinnerung an eine schmerzliche Vergangenheit.
Freilich ist damit kaum jene Kategorie der Erinnerung gemeint, die Sartre einmal als gedankliches Paradies bezeichnet hat, sondern im Gegenteil ein Terrain ängstlich behüteter und verdrängter Wirklichkeitspartikel, die sich um die Geschichte der Goetzens ranken. Nicholas, Sproß einer aus Wien nach England geflüchteten jüdischen Familie, mußte nicht nur seinen Vater begraben, sondern schließlich auch einen Großteil seiner Verwandtschaft, die eine sinnlos abgeworfene Bombe eines verirrten deutschen Fliegers getroffen hatte. Seither glaubt Nicholas an den Goetzen-Dämon. Eine ebenso ängstlich wie augenzwinkernd-rührselig gebrauchte Umschreibung des Fatum-Begriffs.
Der Dämon allerdings versteht es sich auch jenseits des Atlantiks bemerkbar zu machen. Denn als sich dem jungen Goetzen die Möglichkeit bietet, nach Amerika zu gehen, um illegal die Stelle seines gleichnamigen, kürzlich verunglückten Vetters anzutreten, holt ihn - Jahrzehnte später - die alte Geschichte wieder ein. Je radikaler Nicholas Goetzen in den amourösen Plänkeleien Teile seines eigens zusammengezimmerten Ich retten will, umso hartnäckiger scheint ihm die Vergangenheit zuzusetzen. So kann der Roman nicht nur als aberwitzige Satire, sondern durchaus doppelbödig auch als Geschichte einer Läuterung und Wahrheitsfindung gelesen werden.
Alan Isler - das ist eine Qualität des Buches - verwendet nicht eine Nebensächlichkeit, die sich nicht später kontrapunktisch in die Handlung eingewoben wiederfände. Zusätzlich sprüht der Roman vor Anspielungen auf große Schriftstellerkollegen oder Theaterklassiker (etwa wenn Shakespeares Hexen aus "Macbeth" als dümmliche Starlets auftreten). Überhaupt wirken Islers Personen manchmal wie Theaterfiguren, die sich beim Spielen selbst über die Schulter schauen. Gerade dadurch aber entsteht mitunter der Eindruck arg konstruierter Professoren-Prosa, die über momentanes Amüsement kaum hinaus will.
Ganz am Schluß, als Goetzen die Trümmer seines durcheinander gewirbelten Egos besieht und in England die Stätten seiner Kindheit aufsucht, entsteht plötzlich eine Intimität, die anrührt. Und diese Szene ist auf einmal wie ein Versprechen. Ein Versprechen allerdings, das Alan Isler erst noch einzulösen hat.