Der Meyerheim, Tiergartenjuden, Kommerzienrat Seligmann und die dritte Konfession

Antisemitische Impulse in literarischen Werken Theodor Fontanes

Von Norbert MecklenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Norbert Mecklenburg

Dass Theodor Fontane nicht nur selber antisemitische Ressentiments geäußert hat, sondern dass auch seine literarischen Werke von judenfeindlichen Impulsen keineswegs frei sind, wird immer noch, auch im „Fontane-Jahr“ 2019, das von Veranstaltungen und Publikationen überquillt, weitgehend, ja geradezu systematisch ignoriert oder heruntergespielt. Um als Beispiele hier nur die drei kompetentesten Biografien zu nennen, so verdienstvoll jede in anderer Hinsicht sein mag: Regina Dieterle huscht auf vier von 800 Seiten daran schamvoll vorbei. Iwan-Michelangelo D’Aprile desgleichen, er sagt kein Wort über Antisemitisches in literarischen Werken Fontanes und versieht dessen „Alters-Antisemitismus“ mit einem verharmlosenden Fragezeichen. Genau das macht auch Hans Dieter Zimmermann, spricht verklemmt von einem „komischen Antisemitismus“ in Fontanes Briefen und erklärt die Romane für „frei davon“. Das aber ist nach dem Stand der Forschung, spätestens seit Michael Fleischers Buch „Kommen Sie, Cohn.“ Fontane und die „Judenfrage“, wissenschaftlich unwahr und intellektuell unredlich.

Denn diese antisemitischen Impulse sind keine bedauerlichen Ausrutscher, sondern häufen sich gerade in den Jahren und Werken, in denen der Autor auf den Höhepunkt seiner Kunst gelangte. Mehr noch: Wie er diese Impulse literarisch umgesetzt hat, auch daran zeigt sich seine meisterhafte Erzählkunst als eine Kunst der „Finessen“, das heißt der Indirektheit, der Anspielung,  des Versteckspiels. In seinen Erzählwerken lassen sich, in Unterschied zu Gedichten, antisemitische Impulse allerdings niemals als direkte Meinungskundgaben des Autors, vielmehr immer nur indirekt an der Darstellung jüdischer Figuren und an Äußerungen von Figuren über Juden beobachten. (Antisemitisch nenne ich solche Impulse, die einer negativen Einstellung gegenüber „den“ Juden entspringen.)

Vier verschiedene Beobachtungsfelder lassen sich hier unterscheiden. Das erste: Sehr oft werden Juden und Meinungen über sie lediglich als Bestandteile der Gesellschaft dargestellt, und das mehr oder weniger neutral, vorsichtiger gesagt: in der Bewertung unbestimmt. Fontane-Apologeten, und das ist das Gros der Fontane-Forscher, möchten den Blick allein auf dieses relativ harmlose Feld beschränken.

Sehr interessant für Fontanes Erzählkunst insgesamt ist ein zweites Feld, das sich mit dem ersten überschneidet: Nicht selten werden antisemitische Einstellungen oder Äußerungen von Romanfiguren so vorgeführt, dass diese sich selbst entlarven und Leser Anlass haben, sich davon zu distanzieren. Die Werke Fontanes sind also, infolge seiner Kunst der Redevielfalt, gelegentlich weiser als ihr antisemitischer Autor. Ein paar Beispiele: Melanie redet über jüdische Namen (L’Adultera), Käthe redet über Frau Salinger, Naschsucht und „Erbsünde“ (Irrungen, Wirrungen), die Holks reden über Tierarzt Lissauer und seine unstatthaften Vergleiche (Unwiederbringlich), Leo redet über schwarze Jüdinnen und schwarzafrikanische Halsabschneider: „Das tun sie hier auch“ – nämlich die jüdischen Wucherer (Die Poggenpuhls), Güldenklee redet abfällig über Gotthold Ephraim Lessings Nathan und dessen Ring-Parabel als „Judengeschichte“ (Effi Briest).

Ein drittes, leider nur ganz schmales Beobachtungsfeld: Sehr selten, umso beachtlicher ist die einfühlsame Darstellung von Figuren jüdischer Herkunft, die trotz Taufe und erfolgreicher Integration unter antisemitischer Diskriminierung leiden, so van der Straaten in L’Adultera oder Hugo Berner im wunderbaren Entwurf der Rr-Novelle.

Das vierte, peinlichste, darum bisher am wenigsten oder gar nicht beachtete Beobachtungsfeld ist das, auf dem der Autor eigene antisemitische Impulse in seine literarische Darstellung eingelagert hat. Allein auf dieses möchte ich mich hier, im Gegenzug zu fortgesetzter Verharmlosung seitens der meisten Fontane-Forscher, konzentrieren, und zwar an konkreten Beispielen: zwei Gedichten und zwei Romanen (Grundlage dafür sind die einschlägigen Kapitel IX bis XII meines Buches Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart 2018).

In Fontanes später Lyrik, zum Beispiel in den Gedichten Brunnenpromenade oder Veränderungen in der Mark, mischen sich manchmal Altersweisheit und Antisemitismus auf bedrückende Weise. Das schlimmste dieser Gedichte, das frühestens 1895 entstanden ist, also in der Zeit der großen Spätwerke, trägt in den Werkausgaben den sonderbaren Titel Entschuldigung. Um es zu verstehen, muss man wissen, was Dietz Bering in seinem bewundernswerten Buch Der Name als Stigma (Stuttgart 1987) nachgewiesen hat: wie jüdische Namen, zum Beispiel Cohn oder Itzig („ein Itzig“, das heißt ein Jude), ihre Träger stigmatisierten. Hier taucht der Name Meyerheim auf, ein sozusagen doppelt jüdischer Name; Fontane kannte Träger dieses Namens: die Malerfamilie, Bankiers, vielleicht auch eine bekannte Bühnenfigur im populären Theater der Gebrüder Herrnfeld.

Die Meyerheims – man verstehe mich recht –,
Die Meyerheims sind ein Weltgeschlecht,
Sie sitzen im Süden, sie sitzen im Norden,
Ums Goldne Kalb sie tanzen und morden,
Name, gleichgültig, ist Rauch und Schall!
Wohl, wohl, der „Meyerheim“ sitzt überall.

In der Tat ein sonderbarer Gedichttitel: „Entschuldigung“! Denn der Inhalt ist ja das Gegenteil: eine Beschuldigung. Ich erlaube mir darum – die Fontane-Herausgeber mögen mir verzeihen – einen Konjektur-Vorschlag, indem ich von einer fehlerhaften Entzifferung der Handschrift Fontanes durch seinen Sohn Friedrich ausgehe, der das Gedicht 1933 im Ruppiner Stürmer, einem SA-Organ, erstmals veröffentlichte: Vermutlich hat Fontane selbst nicht „Entschuldigung“, sondern „Entschlüsselung“ geschrieben. Da Antisemitismus ein „kultureller Code“ (Shulamit Volkov) war, konnte er das auch in Gestalt augenzwinkernder Geheimsprache sein: ‚Ich sage zwar verschlüsselnd Meyerheim, aber man versteht wohl, wen ich damit eigentlich meine. Hier meine Entschlüsselung.‘

Die Meyerheims – der Meyerheim – der Jude: Dies ist demagogischer Kollektivsingular, der individuelle „Name gleichgültig“. „Der Jude“ – so las man es damals schon in der konservativ-antisemitischen Kreuzzeitung, deren treuer Leser auch Fontane war und blieb. Sie sitzen, er sitzt: Sie haben sich eingenistet, wie Ungeziefer, das sich verbreitet. „Weltgeschlecht“: Sie haben sich über die ganze Welt verbreitet, und zwar mit dem Ziel der Weltherrschaft. Denn: „Ums goldne Kalb sie tanzen und morden“: Das ist der Mythos einer jüdischen Weltverschwörung durch Geldmacht und Verbrechen, wie ihn wenige Jahre später dann auch die Protokolle der Weisen von Zion, die berüchtigte, verhängnisvolle Fälschung und antisemitische Hetzschrift, verbreitet haben. Das Tanzen und Morden aber ist schlimmste demagogische Verdrehung der Bibel.

Also kann der Mordvorwurf nur die stumpfsinnige Reproduktion einer Hauptlüge des christlichen Antisemitismus sein: Juden als Christus-, Gottes-, Ritualmörder. Diese letzte Diffamierung hatte Fontane schon in seiner Ballade Die Jüdin (1852) reproduziert. Er kannte auch den Weltverschwörungs-Mythos gut: Als er bei der Kreuzzeitung arbeitete, war sein Kollege dort Hermann Goedsche, der viele erfolgreiche antisemitische Trivialromane schrieb, darunter: Biarritz (1868) mit dem Kapitel Der Judenfriedhof in Prag, einer poetischen Fiktion, die aber in die Protokolle der Weisen von Zion als Tatsachenbehauptung eingegangen ist.

Das Gedicht Haus- und Gartenfronten in Berlin-W. ist das Produkt des Flaneurs Fontane – aber eines „Flaneurs mit bösem Blick“: scheinbar bloße Aufzählung und exakte Beobachtung, aber in Wahrheit gehässige Manipulation und Denunziation, wenn auch zunächst verschlüsselt. Am Schluss kommt wieder eine Entschlüsselung – und was für eine! Der ursprüngliche Titel lautete: In der Tiergartenstraße: Das ist topografisch und soziografisch deutlicher, war dem Autor dann aber wohl allzu deutlich: Viele assoziierten mit dem Straßennamen einen Teil der Bewohner, die „Tiergartenjuden“.

Rogasen –
Delphine und Springbrunnen; gekämmter Rasen.

Reppen –
Rhododendronbüsche, Marmortreppen.

Krotoschin –
Blutbuche, Calla und Jasmin.

Podolien –
Rhus. La France. Magnolien.

Brody –
„Vulgus profanum odi.“

(Neu geadelt im Wappen. Oder Rappen im Wappen)

Samara –
Palmen, Goldgitter, Sarah.

Quatre-vingt-dix-neuf –
Aloe, Stores und Œil de bœuf.

Fontanes Aufzählung nennt ins Auge springende Merkmale einzelner Villen, die auf der Straßenseite zu sehen sind, das heißt die „Haus- und Gartenfronten“ sind nicht Vorder- und Rückseiten – diese waren dem Flaneur nicht einsehbar –, sondern die mit exquisiten Vorgärten versehenen Straßenfronten. Diese Aufzählung bezieht sich, wie sich nachweisen lässt, ausschließlich auf reale Villen reicher jüdischer Eigentümer. (Schon in einer Reiseschilderung Meiningens von 1867 hatte der Autor einen solchen „Entlarvungsblick“ eingesetzt: Hinter prächtiger klassizistischer Fassade verbirgt sich ein schäbiges jüdisches Krämer-Ghetto.)

Die jeweils vorangestellten, ebenfalls realen, aber in diesem Zusammenhang rätselhaften Ortsnamen dagegen sind willkürliche Zuschreibung: Denn das sind nicht etwa Villennamen, sondern angebliche Herkunftsorte der Bewohner, somit von „Ostjuden“. „Sie stammen aus Krotoschin oder Brody, und jetzt wohnen sie hier so!“ Mit der Zuschreibung von östlichen Ortsnamen „entlarvt“ der Flaneur also die Villenbewohner. Die besonders rätselhaften Schlusszeilen aber runden diese Entlarvungsaktion mit einer Beschimpfung ab: Da kommt noch eine Ostjuden-Villa – real: die des Hofjuweliers Friedeberg –, aber vorangestellt ist kein weiterer östlicher Ortsname, sondern diskret auf Französisch die Zahl 99, die laut Grimms Wörterbuch für Betrüger – auch Apotheker (!) – stehen konnte: „Hinter den feinen Fassaden: alles Ostjuden, alles Betrüger.“

Unter Fontanes großen Romanen enthält der reifste und weiseste, Der Stechlin, leider auch die meisten antisemitischen Impulse, aber so, dass sie mit besonderer erzählerischer Raffinesse angebracht sind: eben den „Finessen“ – allerdings oft so indirekt und versteckt, dass ihr Auffinden eine gute Leseschulung voraussetzt. Ich hebe vier verschiedene dieser fragwürdigen Finessen hervor:

1. Die jüdischen Nebenfiguren bilden hier eine verblüffend stimmige Serie, die genau das historische Spektrum des Antisemitismus symbolisiert: antikapitalistisch (Baruch und Isidor Hirschfeld), antiliberal (Katzenstein), antisozialistisch (Isidor, Dr. Moscheles). 2. Es gibt Randfiguren, die nur darum auftauchen, weil sie einen antisemitischen Impuls verkörpern. Der aber wird jeweils dezent versteckt: hinter den antisemitischen Einstellungen von Figuren. 3. Fällt einmal eine anti-antisemitische Äußerung, dann bezeichnender Weise im Munde einer negativ bewerteten Figur: Als Dubslav von Stechlin beim alten Baruch den jüdischen „Pferdefuß“ herauskommen sieht, wendet der unsympathische Kirchenmann Koseleger – für uns vollkommen zutreffend – ein: Das habe doch weniger mit der Rasse als mit dem Beruf zu tun. 4. Leerstellen im Text, an denen dieser etwas offenlässt, jedoch nicht beliebig: Füllt man sie richtig, das heißt wie ihr Kontext und Fontanes Erzählregie die Füllung festlegen, so wird ein antisemitischer Impuls erkennbar.

Hierfür zwei Beispiele: Der bei den Stechlin-Liebhabern und -Forschern allzu beliebte Pastor Lorenzen ist ein Christlich-Sozialer, der, wie es heißt, zu Stoecker halte, aber zur Richtung Göhre gehöre. Eine klaffende Leerstelle: Warum lässt Fontane ihn über die Juden und den Antisemitismus auffällig schweigen? Antwort: Weil er, wofür viele Indizien sprechen, die von den Interpreten gezielt übersehen werden, selber christlicher Antisemit ist, nach dem Motto: soziales Christentum vs. kapitalistisches Judentum. Die „christliche Nächstenliebe“, die auch Lorenzen im Munde führt, wurde damals ständig als antisemitische Parole benutzt. Und die „linken“ Christlich-Sozialen wie Friedrich Naumann und Paul Göhre lehnten nicht Stoeckers Antisemitismus ab, sondern nur seine konservative Sozialpolitik.

Eine andere markante Leerstelle klafft um einen Kommerzienrat Seligmann: Der kommt nur an einer einzigen Stelle vor, aber eindeutig deshalb, weil Fontane mit ihm eine weitere antisemitische Gehässigkeit unterbringen wollte. Diese findet man nur dann heraus, wenn man die Geschichte des Dienstmädchens Hedwig genau ansieht, die in den Roman bewundernswert kunstvoll und realistisch eingeflochten ist. Hedwig, hübsch, munter und anstellig, ist oft nur kurz in Dienst; ihre Nachbarin, Frau Imme, vermutet, dass es da diskrete Probleme geben müsse, entweder jeweils mit „ihm“ oder mit „ihr“. So fragt sie dann auch bei der Trauung Stechlin/Barby Hedwig aus,

die, nach ganz kurzem Dienst im Kommerzienrat Seligmannschen Hause, vor etwa acht Tagen ihre Stelle wieder aufgegeben hatte.
„Gott, Hedwig, war es denn wieder so was?“
„Nein, Frau Imme, diesmal war es mehr.“

 Die Leerstelle: Was heißt hier „mehr“? Und warum sagt Hedwig, die sonst gern und offen über ihre Dienstverhältnisse Auskunft gibt, hier nicht mehr? Wieso wird nach ihren vielen anderen, anonym bleibenden Dienstherren allein dieser mit Namen genannt, einem jüdischen obendrein? Die unvermeidliche Antwort: Fontane bringt hier das schon damals verbreitete Denkmuster eines sexualisierten Antisemitismus an, das später auch dem NS-Gesetz „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vor „Rassenschande“ zugrunde lag. (Jüdische Männer durften keine jungen weiblichen Angestellten „deutschen Blutes“ haben.) Prüft man diese Leerstelle im Stechlin, dann wird einen der darin versteckte antisemitische Impuls peinlich berühren; aber man wird sich zugleich auch daran freuen können, wie künstlerisch gekonnt und menschlich solidarisch Fontane in sein spätes Meisterwerk diese Hedwig-Geschichte eingebaut hat, leider einschließlich der ebenso infamen wie überflüssigen Stichelei über einen Herrn Seligmann.

Auch Mathilde Möhring ist ein spätes Meisterwerk, obwohl ohne den letzten Schliff geblieben: Scharfe soziale Diagnostik verbindet sich mit weiser humanistischer Ethik, und virtuos, ironisch und humoristisch wird Redevielfalt sozialer Diskurse vorgeführt. Endlich einmal kein Adelsroman, aber der Roman über die Kleinbürgerin Mathilde Möhring ist auch kein Frauenemanzipations-Roman, vielmehr ein sozialkritischer Roman über Abstiegsangst und Aufstiegswunsch. Sein leitendes Konzept: „Hochmut kommt vor dem Fall“. Nach Aufstieg und Fall erfolgt ein Umdenken Mathildes: Sie will zukünftig statt auf Berechnen und Karriereplanung auf Mitmenschlichkeit und Solidarität setzen.

Mathilde Möhring, die nicht gerade hübsche, aber aufgeweckte Tochter einer armen Buchhalterwitwe, angelt sich ihren Zimmerherrn, den etwas antriebsarmen Jurastudenten Hugo Großmann, trainiert ihren Verlobten dann erfolgreich für das Referendar-Examen und findet für ihn sogar noch eine Bürgermeisterstelle in einer westpreußischen Kleinstadt, wohin das Paar nach der Hochzeit übersiedelt. Auch dort in Woldenstein betreibt Mathilde ihr Coaching weiter, ja steigert es noch, um Erfolg und Karriere ihres Mannes zu sichern: Sie ist es, die dem einfallslosen Jungbürgermeister die notwendigen Ideen liefert, die ihn als Stadtoberhaupt allseits beliebt machen sollen. Dafür gibt sie ihm eine ebenso gut gemeinte wie ungereimte Mischung aus konservativen und liberalen Parolen ein. Das verärgert jedoch die wichtigste Person in ihrem Karriere-Pokerspiel, den adligen und natürlich konservativen Landrat von Schmuckern. Darum steigert sie noch einmal ihre Strategie: Sie lanciert einen Zeitungsartikel, in dem der Landrat in den Himmel gelobt wird. Den Gipfel erreicht sie bei der Silvesterfeier, auf der sie ihrem Tanzpartner von Schmuckern so sehr um den Bart schmiert, dass nunmehr auch sein Herz für das Bürgermeisterpaar gewonnen ist. Leider erkältet sich Hugo just an diesem Abend, dem Höhepunkt seiner bisherigen Karriere, und infolge Verschlimmerung durch Lungenentzündung und Schwindsucht stirbt er zu Ostern. Mathilde vollzieht nach diesem krassen Wendepunkt eine innere Läuterung. Zu ihrer Mutter nach Berlin zurückgekehrt, nimmt sie ihr vorheriges Leben wieder auf und bildet sich erfolgreich als Lehrerin aus.

Was Juden und Antisemitismus betrifft, so gibt es nur drei jüdische Nebenfiguren, und nur in Woldenstein: Kaufmann Silberstein, seine Tochter Rebecca und seinen Kompagnon Isenthal. Hugo Großmann dagegen ist kein Jude (wie uns Herausgeberin Gabriele Radecke weismachen will), allenfalls ist er judenähnlich, weil judenfreundlich, eher also ist er mit seinem Vollbart dem Kaiser Friedrich III. ähnlich, der die Judenfeindlichkeit als „Schmach des Jahrhunderts“ bezeichnet hat. Die jüdischen Figuren sind, wie oft bei Fontane, nicht auffällig, sie werden nur skizziert und dabei karikiert: durch Verzerrung assimilierter preußischer Juden zu befremdlichen „Ostjuden“.

Warum aber treten sie überhaupt auf? Die Antwort des Fontane-Herausgebers Gotthard Erler: Die beiden Juden seien „die einzig klugen, vernünftigen Leute“ in einer sonst schrecklich provinziellen Gesellschaft. Das mag ein heutiger Leser so sehen, und gar nicht zu Unrecht, aber nicht darum hat Fontane diese Figuren erfunden, sondern weil er sie für ein – von der Forschung bisher unerkanntes – Leitmotiv des Romans unbedingt brauchte: die „dritte Konfession“. Dieses Leitmotiv wird sehr kunstvoll entfaltet, aber in ihm versteckt sich ein antisemitischer Impuls.

Da ist einmal Hugos Antrittsrede: Als er auf die „alten preußischen Tugenden“ zu sprechen kommt, gibt es bei den jüdischen Zuhörern ein „spöttisches Lächeln“; darum fügt er schnell noch das Stichwort „Verfassung“ hinzu – mit großem Erfolg. Da ist zweitens Hugos und Mathildes Karriere-Projekt: Konservatismus und Liberalismus verbinden! Das ist judenfreundlich, ja judenähnlich: „Sie hat was von unsre Leut“ (nämlich das geschickt Berechnende), sagt Isenthal. Diesem Projekt dienen die„Initiativen“ Hugos und seines Coaches Mathilde: Straßenbau, Garnison, Krippenverein – unter reger Beteiligung der „dritten Konfession“, das heißt der Juden. Diese Formel als Leitmotiv ist ein Beispiel für das „zweistimmige Wort“ bei Fontane: Die Figuren, die sie verwenden, verstehen sie positiv; der Erzähler übt dagegen ironisch-kritische Distanz.

Denn Fontane kritisierte schon seit 1881 die gesellschaftliche Tendenz zur Gleichstellung der Juden und damit die ganze liberale Tradition seit 1871 (Gleichstellungsgesetz). Er positionierte sich damit auf dem diskursiven Feld der „Judenfrage“, in Unterschied zu verwaschenen apologetischen Kommentaren der Fontane-Forscher, eindeutig auf der Linie des von ihm geschätzten sozialkonservativen Politikers Hermann Wagener, wie Hanna Delf von Wolzogen, langjährige Leiterin des Fontane-Archivs und bei diesem peinlichen Thema eine der wenigen Gerechten unter vielen Sündern, in einem Interview mit Recht hervorgehoben hat (Jürgen Buch: Meine Leser, das schreckliche Volk, rbb-Sendung vom 24.03.2019).

Eine Anerkennung der Juden als „dritter Konfession“ lehnte er ganz klar ab, genau wie im „Berliner Antisemitismus-Streit“ Heinrich von Treitschke gegen Moritz Lazarus. Dieser hatte – auch für heutige Demokraten völlig überzeugend – erklärt, die wahre Kultur liege in der Mannigfaltigkeit, und die Juden seien als Staatsbürger genauso Deutsche wie die Christen. „Jede Nationalität umfaßt heute mehrere Religionen, wie jede Religion mehrere Nationalitäten.“ Dagegen polemisierte Treitschke, der Wortführer eines akademischen, nationalliberalen Antisemitismus: Die Deutschen seien unzweifelhaft „ein christliches Volk“, das Judentum dagegen die Religion eines „uns ursprünglich fremden Stammes“; Lazarus beachte nicht „den Unterschied von Religion und Confession; er denkt sich die Begriffe: katholisch, protestantisch, jüdisch als coordinirt“. Somit trifft diese Kritik Treitschkes an Lazarus haargenau auch die Rede der Großmanns und ihrer jüdischen Freunde in Woldenstein von einer „dritten Konfession“. Auch diese haben den Unterschied von Religion und Konfession offenbar nicht beachtet oder gezielt nivelliert, um sich Gleichberechtigung zu erschleichen.

Mit der markantesten Textstelle aus Mathilde Möhring, die diese Interpretation belegt, möchte ich meine Hinweise auf antisemitische Impulse in Fontanes literarischen Werken schließen. Silberstein schwärmt von dem Bürgermeister Großmann und seiner Frau:

Ist er nicht wie Nathan? Ist er nicht der Mann, der die drei Ringe hat? Ist er nicht gerecht und sieht doch aus wie ein Apostel? Und seine Frau Gemahlin, eine sehr gebildete Frau, hat gesprochen von der Dreieinigkeit, und der Papst in Rom und Luther und Moses, die müßten aufgehn in Einem. Und dies sei Preußen. Und sie sei gesegnet wegen der Einheit. Das hat sie gesagt, und ich sage dir: Moses bleibt, Moses hat die Priorität.

Das ist wirklich eine markante Passage: mit beißend satirischer und leider antisemitischer Bloßstellung liberaler und jüdischer Gleichheitsideale und Gleichstellungswünsche in einem „christlich-germanischen“ Staat. Liest man die Textstelle aber in ihrem kontextuellen Rahmen, so kann man Erstaunliches entdecken. Diesen Rahmen bilden nämlich Hinweise auf zwei nur zur Hälfte „christlich-germanische“ Paare: Das sind einmal Rebecca und ihr vermutlich nichtjüdischer (Silberstein: „ich sage nicht wer“) Zukünftiger, zum anderen der Landrat und seine kroatische Frau, die sich „die Festigung des Christlich-Germanischen zur Lebensaufgabe“ gemacht hat. Wie diese erzählerische Finesse zu beurteilen ist, muss jeder Leser, jede Leserin selber herausfinden. Für mich ist sie ein Beispiel dafür, dass sich Fontane auch da, wo er mehr oder weniger giftige antisemitische Impulse nicht unterdrücken konnte, als ein virtuoser Erzähler erweist. Es lohnt sich also, vor ihnen die Augen nicht, wie es bisher leider üblich ist, zu verschließen.

Hinweis: Der Text ist eine Bearbeitung meines mündlichen Beitrags zum 54. Pankower Waisenhausgespräch am 25.10.2019 über „Fontane und die Juden“.