Politische Dichtung auf dem Vormarsch?

Instapoets, Lyrik in den Sozialen Medien und die Politik

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Literatur verändert sich im Laufe der Zeit. Das ist keine Neuigkeit und es ist nichts, was auf die Literatur allein beschränkt bleibt. Auch andere Formen der Kunst reagieren auf kulturelle, technische oder politische Veränderungen. Das ist nicht nur in einem bestimmten Rahmen unvermeidlich, sondern auch – wenn man so will – Teil ihrer Aufgabe als kritische Reflexionsmedien gesellschaftlicher Wirklichkeit.

Im Zuge der Digitalisierung und der zunehmenden Verflechtung durch das Internet hat dies spätestens in den 1990er Jahren beispielsweise zur Ausbildung der sogenannten Netzliteratur und verschiedenen Formen von online verfügbarer Hyperfiction geführt. Obwohl Enthusiasten hierin die Instantiierung postmoderner bzw. poststrukturalistischer Programmatiken – Text als „Mosaik aus Zitaten“ (J. Kristeva) – erkannten, blieb ein flächendeckender Erfolg dieser literarischen Formen aus.

Social Media bietet diesbezüglich seit geraumer Zeit neue Möglichkeiten und eine Reihe von Autor*innen hat sich diesen längst angenommen. Unter dem Schlagwort Instapoetry versammeln sich seit einigen Jahren Instapoets, die auf Sozialen Medien kurze literarische Texte veröffentlichen und teilen. Auch wenn sich der Begriff als Kofferwort aus „Instagram“ und „Poetry“ zunächst nur aus dem Namen einer bestimmten Plattform speist, ist das Phänomen nicht auf Instagram allein begrenzt, auch Tumblr, Twitter oder Facebook werden hierfür genutzt.

Im Vergleich zu klassischen literarischen Publikationen ergeben sich dabei selbstredend Verschiebungen im Bereich der Produktion, vor allem aber auch der Distribution und Rezeption, die sich letztlich auch auf die literarischen Texte selbst niederschlagen können. So konstatierte Donna Ferguson vergangenes Jahr im Guardian, dass insbesondere Lyrik auf Social Media sich aufgrund ihrer Kürze und der Möglichkeit, sie schnell und einfach im Freundes- und Bekanntenkreis zu teilen zum zentralen Austauschmedium über politische Sachverhalte in jüngeren Generationen geworden sei. Und mehr noch: Dass diese angeblich nun wieder stärker politisch interessierte Jugend damit nicht nur im Internet mehr Lyrik rezipiere, sondern sich diese Entwicklung (zumindest in Großbritannien) auch im steigenden Umsatz von Lyrik im Printbereich niederschlage. Haben wir es also, angetrieben von Instapoets und anderer über die Sozialen Medien geteilter Lyrik, mit einer Rückkunft der engagierten Literatur, politischer Lyrik gar, zu tun?

Nun sei zunächst kurz angemerkt, dass sich eine solche Entwicklung der Nachfrage von Lyrik an den Zahlen des deutschen Buchhandels bislang noch nicht erkennen lässt.[1] Doch es ist genau die von Ferguson beschriebene Entwicklung, die etwa auch in Kanada auszumachen war: Lyrik, die über Social Media zu Bekanntheit gelangt war, sorgte für einen Zuwachs des Umsatzes von Lyrik im Printbereich.

Es ist im Übrigen genau das, was Unterstützer und Fans von Instapoetry und auch Instapoets selbst als gewichtiges Argument ins Feld führen. Instapoetry bringe junge Menschen wieder zur Poesie, und zwar nicht nur zur Internet-basierten Form lyrischer Texte, sondern auch zu anderer, gedruckter Lyrik – Instapoetry funktioniere somit als „Gateway Drug“ und sei in der Lage, Lyrik wieder prominent zu machen.

Nun mag es sein, dass – zumindest im anglo-amerikanischen Raum – eine Zunahme der Rezeption von Lyrik in gedruckter und digitaler Form zu verzeichnen ist, doch ist das mit der angeblichen Zunahme politischer lyrischer Texte bzw. politisch interessierter Rezipient*innen in Verbindung zu bringen? Ferguson nennt in ihrem Artikel u.a. Texte von Tony Walsh (This Is the Place) und Ben Okri (Grenfell Tower), die als schnelle Reaktion auf den Terroranschlag in Manchester vom 22. Mai 2017 bzw. den Brand im Grenfell Tower entstanden sind. Die Gedichte wurden in Form einer Lesung durch den Autor bzw. publiziert in der Financial Times unzählige Male auf den Sozialen Medien geteilt, aber eben nicht ursprünglich auch in Social Media veröffentlicht.

Versteht man nun unter politischer Dichtung ganz allgemein „[a]us einem öffentlichen Engagement entstehende literarische Werke und Genres“[2], so darf man die beiden Texte wohl getrost als politische Lyrik bezeichnen. Dass dabei lyrische Texte zum Vehikel politischer Botschaften gewählt werden, ist nicht ungewöhnlich. Auch im vordigitalen Zeitalter war man sich der Vorteile der Lyrik bei der Verbreitung politischer Anliegen bewusst: Durch ihre Kürze waren die Texte vergleichsweise schnell zu produzieren und zu rezipieren und darüber hinaus auch einfacher zu distribuieren. Durch die Digitalisierung haben diese drei Aspekte nun noch an Gewicht gewonnen. Über Social Media lassen sich in kürzester Zeit zahllose Rezipienten auf der ganzen Welt finden, die die Texte darüber hinaus jederzeit auf dem Smartphone lesen können.

Das betrifft insbesondere auch Instapoetry, die ja explizit für die Veröffentlichung in Sozialen Medien verfasst wird. In ihrem Artikel nennt Ferguson in dieser Hinsicht insbesondere die Autorin Rupi Kaur, die längst zum Aushängeschild und eine der berühmtesten Instapoets geworden ist. Die junge Kanadierin indischer Abstammung veröffentlichte ihre Texte zunächst ausschließlich auf Tumblr bzw. Instagram, bis sie 2014 die Gedichtsammlung milk & honey gedruckt publizierte und diese 2016 schließlich in der New York Times-Bestseller-Liste auftauchte. Bereits 2018 war der Band schließlich in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden und mit 3,5 Millionen verkauften Exemplaren das sich am besten verkaufende Verswerk – noch vor der Odyssee.

Diese enorme Verbreitung mag auch einem eher weniger literarischen Ereignis 2015 geschuldet sein. Kaur hatte ein Foto von sich im Bett liegend auf Instagram gepostet, auf dem Flecken von Menstruationsblut auf ihrer Hose und dem Laken zu sehen waren, um auf die Tabuisierung des Themas Menstruation aufmerksam zu machen. Instagram löschte den Post mit Verweis auf die Nutzungsbedingungen, Kaur prangerte genau das in anderen Sozialen Medien an, die Geschichte wurde viral und nachdem zahlreiche Medien berichtet hatten, veröffentlichte Instagram das Foto wieder und entschuldigte sich.

Kaurs Texte, die sie weiterhin auch auf ihrem Instagram-Profil veröffentlicht, haben zwar häufig weniger politische als allgemeine Themen wie Liebe, Verlust oder Familie zum Gegenstand. Doch eine engagierte Grundhaltung, die insbesondere für feministische und gegen rassistische Ansichten antritt, ist ihren Texten meist anzumerken. Politische Lyrik im weitesten Sinn sind diese dabei nicht immer durch ihre Thematik, sondern manchmal auch bereits „durch ihre Perspektive auf ein Thema.“[3]

Die Aufmerksamkeit beispielsweise, die sie in ihren Texten dem weiblichen Körper in seiner natürlichen Form widmet, unabhängig von gängigen Schönheitsidealen und von der Schönheitsindustrie wahlweise vorgelebten oder verschwiegenen Aspekten, kann bereits als Akt feministischer Selbstbehauptung aufgefasst werden. In anderen Texten wiederum geht sie ganz explizit auf die Benachteiligung bestimmter Bevölkerungsgruppen und die Notwendigkeit für diese einzustehen ein.

All ihren Texten gemein ist die konsequente Vermeidung von Versalien, eine recht schlichte Sprache, relative Kürze und ein Augenmerk auf die visuelle Präsentation, die zumeist durch eigenhändige Zeichnungen zum Thema des jeweiligen Gedichts vervollständigt wird, was ihren Texten zuweilen einen epigrammatischen bzw. beinah emblematischen Gestus verleiht. Auch die Sortierung der Texte auf ihrem Instagram-Profil im ständigen Wechsel mit Fotos ist einer gewissen visuellen Ästhetik geschuldet, die die Rezeption erleichtern soll, indem ‚Bleiwüsten‘ vermieden werden.

Natürlich ist die Dominanz dieses visuellen Aspekts letztlich dem Konzept von Instagram als Bild- bzw. Foto-Plattform geschuldet, weshalb dieser Gesichtspunkt auch die Profile zahlreicher anderer Instapoets wesentlich bestimmt. Die lyrischen Texte erscheinen häufig in besonderer Typografie oder in „Gestalt handgeschriebener Manuskripte, in Fotografien oder Bilderrahmen, von Zeichnungen und cut ups […], die den Text nicht nur rahmen, sondern auch illustrieren, kommentieren oder im Hinblick auf die Rezeption vereindeutigen können.“[4]

 

Ausschnitt Instagram-Profil von Rupi Kaur.
https://www.instagram.com/rupikaur_/?hl=de (13.02.2020).

Ein Blick auf andere ebenfalls zu einiger Prominenz gekommenen Instapoets wie Atticus, Yrsa Daley-Ward oder Cleo Wade, denen mittlerweile allesamt wie Rupi Kaur der Sprung auf den Printmarkt gelungen ist, lässt nicht nur andere Strategien der visuellen Aufbereitung der Gedichte, sondern auch einen verschobenen inhaltlichen Akzent im Vergleich zu Kaur erkennen. Politisches erscheint hier weit in den Hintergrund gedrängt, vielmehr dominieren die Themen Liebe, Beziehung und Selbstwert die Texte. In Stil und Inhalt erinnern sie (wie allerdings auch bei Rupi Kaur) nicht selten an Poesiealben bzw. Motivations- oder Kalendersprüche.

Der (mitunter plattformbedingte) Drang zu Kürze und leichter Rezipierbarkeit eben auch durch sprachliche sowie inhaltliche und stilistische Zugänglichkeit, die ihrerseits einen Teil des Erfolgs, d.h. der breiten Rezeption, von Instapoetry bedingen dürfte, hat dazu geführt, dass das Genre von manchen als qualitativ minderwertig wahrgenommen wird. Es handle sich lediglich um „fidget spinner poetry“, die nur auf leichte Konsumierbarkeit aus sei und nichts mit hochwertiger Lyrik oder kritischem Denken gemein habe (was sie bereits zum Ziel erfolgreicher Satire gemacht hat). Auf der anderen Seite wird derweil mit Blick auf die große Verbreitung von Instapoetry gerade bei jüngeren Leser*innen argumentiert, dass Instagram als anderer Zugang zum Schreiben, Lesen und Analysieren von Poesie durchaus auch Teil des Schulunterrichts sein könnte.[5]

Ausschnitt Instagram-Profil von Atticus.
https://www.instagram.com/atticuspoetry/?hl=de (13.02.2020).

Aber wie dem auch sei, weder die große Popularität noch die sprachlich-stilistische Simplizität stehen politischen Inhalten prinzipiell im Weg. Doch nichtsdestoweniger scheinen in den hier genannten Beispielen – mit Ausnahme von Rupi Kaur – möglichst allgemeine Themen, die also für möglichst viele Rezipient*innen Anschlussmöglichkeiten bereithalten, im Zentrum zu stehen. Es lässt sich also durchaus fragen, ob der gegenwärtig große Erfolg der Instapoetry, was Verbreitung und zum Teil auch Absatz angeht, auch über die Grenzen des eigenen Mediums hinaus nicht weniger den politischen Inhalten als den – inhaltsunabhängigen – schnellen und stets verfügbaren Distributions- und Rezeptionsmöglichkeiten via Smartphone geschuldet ist.

Zudem macht nicht nur die Möglichkeit, über Social Media direkt mit den Autor*innen in Kontakt zu kommen, sondern auch die Aktualität der Themen die Gedichte insbesondere für jüngere Menschen nahbarer. Darüber hinaus erlaubt die online zunächst entfallende „Gatekeeper“-Funktion der Verlage nicht nur die Publikation von qualitativ nicht eben überragenden Texten, sondern andererseits auch den Erfolg benachteiligter Autor*innen und unkonventioneller Schreibweisen. Ein solcher Prozess der Demokratisierung des Lyrikbetriebs kann schließlich durchaus auch in der Lage sein, neue Zielgruppen erschließen.

Die westlichen Gesellschaften scheinen in den letzten Jahren politischer, oder zumindest scheint das Politische sichtbarer geworden zu sein. Bezogen auf Deutschland mag man das beispielsweise an der Entstehung von Bewegungen wie Pegida auf der einen und Fridays for Future auf der anderen Seite festmachen. Ob man dies nun zum Anlass nehmen will, die Rückkehr der Literatur zur Politik zu propagieren oder nicht, die Sozialen Medien haben der Verbreitung von Literatur neue Möglichkeiten eröffnet, die nicht an bestimmte Inhalte oder Perspektiven gebunden sind. Über Soziale Medien lässt sich schnell und bequem auf politische Lyrik (und andere Texte) zugreifen, wo sie verfügbar sind, sie lassen sich aber auch nutzen, um dem Politischen einen eskapistischen Kontrapunkt mit Themen wie Liebe und Sehnsucht entgegenzusetzen.

Literatur verändert sich. Social Media kann vor allem den kurzen und leicht teilbaren Formen der Lyrik wieder zu größerer Verbreitung – und ggf. auch höheren Absatzzahlen im Printbereich – verhelfen. Doch zuallererst politisch sind diese neuen Formen der Lyrik dadurch nicht zwangsläufig. Auch wenn sie es sein könnten.

 

[1] Vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. (BDV) (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 2019. Zahlen, Fakten und Analysen zur wirtschaftlichen Entwicklung. Frankfurt am Main 2019, S. 17.

[2] Wegmann, Nikolaus: Politische Dichtung. In: Jan-Dirk Müller u.a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3: P-Z. Berlin, New York 2007. S. 120-123, hier S. 120.

[3] Lamping, Dieter: Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945. Göttingen 2008, S. 13 [Hervorhebung J.H.].

[4] Penke, Niels: #instapoetry. Populäre Lyrik auf Instagram und ihre Affordanzen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49/3 (2019). S. 451-475, hier S. 463 [Hervorhebung original].

[5] Vgl. Kovalik, Kate; Curwood, Jen Scott: #poetryisnotdead: understanding Instagram poetry within a transliteracies framework. In: Literacy 53/4 (2019). S. 185-195, hier S. 194.

 

Literatur

Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. (BDV) (Hg.): Buch und Buchhandel in Zahlen 2019. Zahlen, Fakten und Analysen zur wirtschaftlichen Entwicklung. Frankfurt am Main 2019.

Hill, Faith; Yuan, Karen: How Instagram Saved Poetry. In: The Atlantic. Online. 15.10.2018. https://www.theatlantic.com/technology/archive/2018/10/rupi-kaur-instagram-poet-entrepreneur/572746/ (13.02.2020).

Kovalik, Kate; Curwood, Jen Scott: #poetryisnotdead: understanding Instagram poetry within a transliteracies framework. In: Literacy 53/4 (2019). S. 185-195.

Lamping, Dieter: Wir leben in einer politischen Welt. Lyrik und Politik seit 1945. Göttingen 2008.

Penke, Niels: #instapoetry. Populäre Lyrik auf Instagram und ihre Affordanzen. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 49/3 (2019). S. 451-475.

Porombka, Stephan: Kein Grund für Buchkitsch. In: Die Zeit. Online. 22.11.2011. https://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-09/netzliteratur-essay (12.02.2020).

Wegmann, Nikolaus: Politische Dichtung. In: Jan-Dirk Müller u.a. (Hgg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3: P-Z. Berlin, New York 2007. S. 120-123.